100 berühmte Springerzüge
Der nächste Teil meiner großen Serie ist fertig: nach dem Fußvolk widme ich mich nun der Kavallerie, den Springern. Von Anfängern oft gefürchtet, ist der Springer wie keine andere Figur ein Nahkämpfer, der im Zentrum fast immer am besten steht und häufig auf Stützpunkte angewiesen ist. Tatsächlich werden starke Springerzüge häufig übersehen und überraschen uns meist dann besonders, wenn sie der gängigen Logik zuwider laufen: Springer am Rand oder gar im Eck, opferbereite Springer, um Freibauern ins Rollen zu bringen und schließlich frei schwebende Springer mitten im feindlichen Lager und ohne Stützpunkte sind nur ein paar Beispiele, mit denen diese Sammlung gespickt ist.
Globaler Ruhm
1. Topalov – Kramnik, Wijk aan Zee 2008
Stellung nach dem 10. Zug von Schwarz
23. Januar 2008: die Titelseite der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung ziert ein Schachdiagramm. Das ist doppelt ungewöhnlich, denn traditionell finden sich auf der Titelseite dieser Zeitung keine Bilder und schon gar keine Schachdiagramme. Wie war es also zu dieser ultimativen Ausnahme gekommen?
Tags zuvor saßen sich in Wijk aan Zee Veselin Topalov und Vladimir Kramnik gegenüber. Seit der unseligen Toiletgate-Affäre, bei der Topalovs Team während des WM-Duells 2006 Kramnik vorwarf, auf der Toilette unerlaubte Hilfsmittel benutzt zu haben, war die Atmosphäre zwischen beiden als eisig zu bezeichnen. Es wurde zwar nie etwas bewiesen, doch Topalov verweigerte gleichermaßen eine Entschuldigung wie den obligatorischen Handschlag vor der Partie. Offenbar immer noch verbittert über die Niederlage in diesem Match, wollte Topalov seinen Erzfeind nur zu gerne einmal regelrecht auf dem Brett vernichten. Und genau das trat hier ein: mit dem bestens präparierten Opfer 12. Se5xf7!! (offenbar eine Idee von Topalovs Sekundant Ivan Cheparinov) lockte der Bulgare seinen Kontrahenten auf ihm unbekanntes Terrain, während er selbst natürlich alle denkbaren Optionen analysiert hatte. Topalov gewann die Partie überzeugend, nachdem Kramnik rasch vom rechten Weg abkam, und hatte seine Rache. Spätere Analysen entlarvten das Opfer zwar als eher harmlos, doch für mehr als diese eine besondere Partie war es wohl auch nie gedacht. Die Story an sich war jedoch so außergewöhnlich, dass selbst die FAZ offenbar nicht auf eine Berichterstattung darüber verzichten wollte. Welcher Zug außerhalb von WM-Matches kann schon von sich behaupten, mediale Aufmerksamkeit außerhalb der Schachwelt erlangt zu haben? Topalovs Springerzug kann es jedenfalls!
Angriffsideen und denkwürdige Kombinationen
2. Karpov – Taimanov, Leningrad 1977
Stellung nach dem 38. Zug von Weiß
Selten genug kommt es vor, dass amtierende Weltmeister – noch dazu mit Weiß – Partien verlieren (man denke nur an Magnus Carlsen, der Stand April 2020 seit 111 Partien keine Niederlage mehr in einer Turnierpartie erlitten hat!). Anatoly Karpov galt 1977 als ähnlich unbesiegbar und gewann nahezu alle Turniere, an denen er teilnahm, nach Belieben. Umso rarer ist das folgende Fundstück mit einer genialen geometrischen Komponente. Taimanov bot dem Favoriten lange Paroli und profitierte dann von einem Schnitzer Karpovs, den er in dieser Stellung mit 38… Sf5-g3+!! gekonnt ausbeutete. Nimmt die Dame, dann fällt der Turm. Nimmt der Bauer, so ist nach dem unverhofften Turmmanöver 39… Ta1-a8! der tödliche Schwenk auf die h-Linie nicht abzuwenden. Karpov entschied sich für eine dritte Option und gab die Partie auf – der größte und bedeutendste Sieg von Mark Taimanov in seiner langen Karriere.
3. Marache – Morphy, New Orleans 1857
Stellung nach dem 19. Zug von Weiß
Der stärkste Spieler aller Zeiten, ehe es 1886 erstmalig zu einem offiziellen WM-Kampf kam, war zweifelsohne der Amerikaner Paul Morphy. Diese Ausnahmeerscheinung spielte in seiner kurzen Karriere (bevor er in der Psychiatrie landete) die Konkurrenz seiner Zeit regelmäßig in Grund und Boden. Sein Verständnis für die Prinzipien des Schachspiels war dem seiner Zeitgenossen um Lichtjahre voraus. Hier spielte er einen selten schönen und im Eifer des Gefechts leicht zu übersehenden Zug: 19… Sf5-g3!!. Weiß wird entweder matt oder verliert die Dame. Da man in jenen Tagen eine Partie nicht aufzugeben pflegte, schlug Weiß die schwarze Dame und ließ sich dankenswerterweise mit dem Bilderbuchmatt auf e2 bezwingen.
4. Geller – Kotov, Moskau 1955
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
Natürlich wussten auch die Generationen nach Morphy entsprechend mit der Kavallerie umzugehen. Efim Geller, einer der stärksten Spieler, die niemals Weltmeister werden sollten, zeigte sich von dem angegriffenen Springer auf g5 unbeeindruckt und spielte stattdessen
24. Se3-f5!!. Nach den weiteren Zügen 24…Te7xe1+ 25. Ta1xe1 h6xg5 26. Te1-e3 Lb7-c8
27. Lb2xg7! Lf8xg7 28. Te3-e8+ Lg7-f8 29. Te8xf8+! war zwar die halbe Armee ins Geschäft gesteckt worden, aber dafür das schöne Matt im nächsten Zug perfekt.
5. Geller – Keres, Moskau 1951
Stellung nach dem 22. Zug von Weiß
Dieses Mal sehen wir Efim Geller selbst zum Opfer eines gegnerischen Angriffs werden, bei dem eine Figur einfach weiterhängt. Sein Gegner Paul Keres, ebenfalls einer dieser Spieler, die ohne weiteres hätten Weltmeister werden können, kümmerte sich hier nicht um den angegriffenen Rappen auf a5, sondern investierte mit 22… Sd5-f4!! eine ganze Figur für den Angriff.
Keres‘ Weitsicht erwies sich als begründet, denn nach den weiteren Zügen 23. Dd2xa5 Lb7xf3 24. g2xf3 Sf4xh3+ 25. Kg1-g2 Sh3-f4+ 26. Kg2-g1 wiederholte Keres zunächst die Züge, um Zeit zu sparen (26…Sf4-h3+ 27. Kg1-g2 Sh3-f4+ 28. Kg2-g1) und spielte dann 28… Dd6-d5!.
Die überlastete weiße Verteidigung brach nach den Zügen 29. Sf1-g3 d4-d3 30. Sg3-e4 Dd5-f5
31. Da5-b4 Tf8-e8! zusammen und brachte Keres einen wichtigen Sieg ein.
6. Keres – Geller, Moskau 1962
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz
Erneut erwies sich Paul Keres als schwieriger Kontrahent für Geller (der seinerseits mit Botwinnik wenig Probleme hatte, während Botwinnik ein problematischer Opponent für Keres war): in dieser Stellung ließ Keres ein Konzept vom Stapel, das es lange im Voraus richtig einzuschätzen galt. Nach dem einleitenden Zug 18. Sf3-e5! folgte eine tief berechnete Kombination: 18… f7-f6
19. De2-h5 g7-g6 20. Se5xg6 h7xg6 21. Ld3xg6. Es hat nicht den Anschein, dass der Angriff direkt durchdringt, doch Weiß beordert die Reserven schneller zum Schauplatz des Kampfes als der Nachziehende mit seinen schlecht koordinierten Figuren. Nach 21… De7-g7 22. Td1-d3 Lb4-d6 23. f2-f4 Dg7-h8 24. Dh5-g4 Ld6-c5+ 25. Kg1-h1 Tc8-c7 26. Lg6-h7+! Kg8-f7 27. Dg4-e6+ Kf7-g7 28. Td3-g3+ mit Gewinn zeigte sich, dass Keres‘ Konzept überzeugend aufging.
7. Tartakower – Euwe, Wien 1948
Stellung nach dem 39. Zug von Weiß
In dieser nach einer Königsjagd übers ganze Brett entstandenen, scheinbar unklaren Stellung entkorkte Exweltmeister Max Euwe eine unvergessliche Kombination, die schnell für klare Verhältnisse sorgt: 39… Sd6-c4+!! 40. b3xc4 Ta8xa4+! 41. Ka3xa4 Dd2-a2+ 42. Ka4-b4 Da2-b2+.
Weiß gab auf, denn er verliert entweder die Dame oder wird matt gesetzt.
8. Spassky – Bronstein, Leningrad 1960
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz
Diese immergrüne Partie sollte jeder seriöse Schachspieler kennen, denn sie fand in leicht veränderter Form sogar Eingang in den zweiten James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau. Bronstein bezeichnete sich selbst später als wahnsinnig, auf Spasskys 1. e2-e4 mit 1… e7-e5 zu antworten und ihm so das Königsgambit zu ermöglichen! Die Konsequenzen sehen wir hier: es folgte 15. Se4-d6!!, einer der berühmtesten Opferzüge der Schachgeschichte. Bronstein antwortete mit 15… Sd7-f8?! 16. Sd6xf7! e2xf1=D+ 17. Ta1xf1 Lc8-f5. Spassky zeigte sich unbeeindruckt und setzte mit 18. Dd3xf5 Dd8-d7 19. Df5-f4 Le7-f6 20. Sf3-e5! Dd7-e7
21. Lc2-b3 Lf6xe5 22. Sf7xe5+ Kg8-h7 23. Df4-e4+ fort, womit er die wohl berühmteste Partie seines Lebens krönte und eine unsterbliche Ode an das altehrwürdige Königsgambit kreierte. Ausführliche Analysen zu dieser komplexen Partie finden sich zuhauf, so zum Beispiel in Kasparovs Anthologie Meine großen Vorkämpfer. Kasparov gelangt übrigens zu dem Schluss, dass 15. Tf1-f2! stärker als Spasskys Zug erscheint – nur ist vollkommen klar, dass nach diesem Zug dieser Partie mit Sicherheit kein solch lang anhaltender Nachruhm vergönnt gewesen wäre!
9. Stein – Portisch, Stockholm 1962
Stellung nach dem 18. Zug von Schwarz
Der ukrainische Großmeister entkorkte hier eine Kombination, die zu den schönsten seiner Karriere und der gesamten 60er-Jahre gehört, weil sie mit einem Kraftzug beginnt und in einem Damenopfer gipfelt. Es geschah 19. Sf5xg7!! Le6xc4, gefolgt von der Pointe 20. Lg5-f6!!. Wegen zweizügigen Matts ist die Dame nicht zu nehmen, so dass Schwarz nach 20… Lc5-e7 21. De2-f3 die Segel streichen musste. Es war schon erstaunlich, dass ein so starker Großmeister wie der Ungar Lajos Portisch in der vergleichsweise soliden Paulsen-Variante der
Sizilianischen Verteidigung so mühelos überspielt werden konnte.
10. R. Byrne – Fischer, New York 1963
Stellung nach dem 18. Zug von Weiß
Bobby Fischer spielte zwei Partien gegen „Byrne“, die sehr bekannt wurden. Bei der einen handelt es sich um die vorliegende berühmte Partie gegen Robert Byrne, bei der anderen um das noch wesentlich bekanntere Duell gegen dessen Bruder Donald Byrne aus dem Jahre 1956, das wiederholt zur „Partie des Jahrhunderts“ deklariert wurde.
In der Diagrammstellung rätselte Robert Byrne gemäß seinen eigenen Memoiren noch immer, weshalb Bobby Fischer soeben eine offensichtliche „Verlustkombination“ eingeläutet habe. Er sollte nicht lange auf die Antwort warten müssen, denn es folgte 18… Se3xg2!! 19. Kg1xg2 d5-d4!
20. Se2xd4 La6-b7+ 21. Kg2-f1, wonach die anwesenden Kommentatoren einhellig an einen Sieg von Weiß glaubten. Nach 21… Dd8-d7! gab Byrne aber auf, denn die Ausführung der von Fischer ersonnenen Kombination 22. Dd2-f2 Dd7-h3+ 23. Kf1-g1 Te8-e1+!! 24. Td1xe1 Lg7xd4! wollte sich der Unterlegene nicht mehr zeigen lassen.
11. Braga – Timman, Mar del Plata 1982
Stellung nach dem 25. Zug von Schwarz
In dieser vogelwilden Stellung (die übrigens aus der „bombensicheren“ Caro-Kann-Verteidigung entstanden war …) wäre es interessant, Einblick in die Gedankengänge insbesondere des Weißspielers zu erhalten, nachdem ihn Timman zuvor bereits mehrfach vom Haken gelassen hatte. Objektiv ist das Urteil recht klar: Weiß drohen die Felle nach wie vor davon zu schwimmen, weshalb er Dauerschach mit der Läuferschaukel auf g1 und h2 geben sollte. Vielleicht ließ er sich aber auch von dem Gedanken, die Partie noch gewinnen zu können oder einen besonders schönen Sperrzug zu spielen, verleiten. Er zog hier nämlich eiskalt 26. Sc6-b8!!, was in objektiver Hinsicht nach der Partiefortsetzung 26… Df6xh4 27. c7-c8=D+ ebenfalls remis sein sollte. Timman wählte als Antwort 27… Kc5-b4, wonach die Partie folgerichtig mit 28. Th1-b1+ Kb4-a3
29. Tb1-a1+ Ka3-b4 30. Ta1-b1+ und Dauerschach zu Ende ging. Laut Computer hätte stattdessen der Zug 27… Kc5-d4? nach 28. Th1-d1+ Kd4-e3 29. Td1-d3+ Ke3-e2 30. Lh2-g3!! verloren. Dass Timman das Dickicht an Varianten durchdringen konnte und die sichere Fortsetzung wählte, spricht für ihn. Was bleibt, ist unterm Strich ein irrsinniges Remis mit einem verrückten Zug.
12. Karpov – Topalov, Dos Hermanas 1994
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz
Springer, die in Schlagdistanz zum gegnerischen König stehen, opfern sich schon mal, um eine Bresche in die feindliche Bauernfestung zu schlagen. Hier hingegen schwebt Karpovs Springer geradezu in die gegnerische Stellung und forciert eine der schönsten Kombinationen mit einem doppelten Figurenopfer, die ein Weltmeister je gespielt haben dürfte. Das Hinlenkungsopfer
30. Sd5-f6!! musste Schwarz wegen des mit Schach hängenden Turms annehmen, doch nach 30… Kg7xf6 31. Lf4-e5+!! Kf6xe5 zeigte sich die Pointe. Weiß zog nun einfach 32. Df3xe4+! und profitierte davon, dass nach 32… Ke5xe4 33. Td1-e1+ nicht nur der Turm auf e8 fällt, sondern auch noch einer der beiden schwarzen Läufer, wonach Topalov den Widerstand bald einstellte.
13. Topalov – Lutz, Dortmund 2002
Stellung nach dem 26. Zug von Schwarz
Dass der bulgarische Elite-Großmeister den Umgang mit Springern auch sehr gut beherrscht, bewies er in dieser Stellung: selbst die anwesenden Live-Kommentatoren sahen in dieser Stellung keinerlei Gefahr für Schwarz. Topalov verblüffte sie alle und leitete mit 27. Sd5-f6+!! einen gut versteckten Mattangriff ein, der nach dem erzwungenen 27… g7xf6 wie folgt zu Ende ging:
28. Td4-d8+ Tb8xd8 29. Td1xd8+ Kg8-h7 30. Da3-f8 Kh7-g6 31. Df8-g8+ Kg6-h5 32. Dg8-g7!!. Gerne würde sich nun natürlich der schwarze Läufer auf b3 opfern, doch leider muss dieser ja das Matt auf g4 verhindern. Daher geschah 32… f6-f5, doch nach 33. Td8-d4 (was ein weiteres Opfer auf h4 droht) war die schwarze Verteidigung bald überlastet. Es geschah noch 33… Le6-c8, was das neuralgische Feld h6 mit dem Turm überdeckt, doch nach 34. g2-g3 war der Ofen aus.
14. Topalov – Ponomariov, Sofia 2006
Stellung nach dem 31. Zug von Schwarz
In dieser Stellung scheint für Weiß so ziemlich alles schiefgegangen zu sein: eine Qualität und zwei Bauern im Hintertreffen mit bestenfalls vagen Schwindelchancen. Doch der Schein trügt: Topalov zog hier 32. Se4xf6!! und ließ auf 32… Le7xf6 das unerwartete 33. d3-d4!! folgen. Nun droht das teuflische 34. La2-b1! mit Abzugsangriff auf die Dame und Mattdrohung auf h7 zugleich. Ponomariov sah sich das Schlamassel an und kam zu der bitteren Erkenntnis, dass der wenig wünschenswerte Zug 33… Da5xa2 nun erzwungen ist. Topalov schlug natürlich zurück und gewann die Partie schließlich im 65. Zug.
15. Topalov – Ivanchuk, Linares 1999
Stellung nach dem 18. Zug von Weiß
Diesmal ist Topalov nach schwacher Eröffnungsbehandlung wirklich in Schwierigkeiten, doch was sein Gegner Ivanchuk nun vom Stapel ließ, ist beeindruckend: mit dem Opferzug 18… Sd4xe2!! wurde Topalovs König ein- für allemal in der Mitte festgenagelt. Nach 19. Ke1xe2 fielen die schwarzen Figuren wie ein Tornado über die geschwächte weiße Stellung her: nach den weiteren Zügen 19… Tf8-e8 20. Db2-b4 Da5-h5+ 21. f2-f3 f7-f5 22. g3-g4 Dh5-h3 23. g4xf5 Le6xf5
24. Db4-c4+ Kg8-h8 25. Th1-e1 Te8xe4+ musste Weiß bereits die Segel streichen.
Es wird nicht das letzte Mal in dieser Sammlung bleiben, dass ein Springeropfer den gegnerischen König an der Rochade hindern wird …
16. Tal – Uhlmann, Moskau 1971
Stellung nach dem 11. Zug von Schwarz
Wolfgang Uhlmann war der stärkste Spieler, den die DDR je hatte. Er bezwang sogar einmal Bobby Fischer mit den schwarzen Steinen, doch in dieser Partie war er einfach von allen guten Geistern verlassen. Was mag ihn nur dazu bewogen haben, eine derartige Stellung gegen Mikhail Tal zuzulassen? Um den Preis eines lächerlichen Bauern hat Tal alles, was er so liebte: lebhaftes Figurenspiel, Entwicklungsvorsprung und einen gegnerischen König in der Mitte. Den Zauberer aus Riga in solchen Stellungen im Zaume zu halten glich dem aussichtslosen Versuch, eine Lawine aufzuhalten. Diese Stellung bildete keine Ausnahme von der Regel, denn nach Tals berühmtem, aber kaum verwunderlichen Springeropfer 12. Sd4-f5!! verbriet Uhlmann fast seine gesamte Bedenkzeit – nur um festzustellen, dass die schwarze Stellung bereits in den letzten Zügen liegt. Nach 12… e6xf5 13. Tf1-e1+ Ld7-e6 14. Dd1-d6 ist Schwarz komplett paralysiert. Uhlmann versuchte noch 14… a7-a6, aber nach dem geistreichen Manöver 15. Lg5-d2!! Dc3xc2 16. Ld2-b4 braute sich ein Sturm über der schwarzen Stellung zusammen. Nach 16… a6xb5
17. Dd6-f8+ Ke8-d7 18. Te1-d1+ Kd7-c7 19. Df8xa8 gab Uhlmann auf, da das Schlagen des hängenden Läufers ein zweizügiges Matt zuließe. Andernfalls ist er hoffnungslos unterentwickelt und dem Angriff mit Ta1-c1 ausgeliefert. König in der Mitte gegen Tal – damit ist alles gesagt!
17. Sadvakasov – Kasimdzhanov, Lausanne 1999
Stellung nach dem 10. Zug von Schwarz
Ende des letzten Jahrtausends fegte ein Meteor namens Darmen Sadvakasov über die Schachbühne mit ungebremster Energie und spektakulären Erfolgen. Genauso schnell wie der Meteor erschien, verglühte er jedoch auch wieder: seit 2010 gänzlich inaktiv, ist Sadvakasov heute ein ranghoher Vertreter der Regierung seines Heimatlandes Kasachstan.
Den meisten Schachfreunden dürfte vor allem diese Partie hier im Gedächtnis haften geblieben sein, wenn sie je von seinem Namen gehört haben sollten.
In diesem zentralasiatischen Duell (Kasachstan gegen Usbekistan) spielte Sadvakasov den elektrisierenden Zug 11. Sc3-d5!!. Nun ist dieses Opfer zwar durchaus nicht untypisch für die Sizilianische Verteidigung, aber meistens erfolgt es in Najdorf-Strukturen mit mehr Material auf dem Brett. Es funktioniert jedoch auch hier prächtig, wie die Fortsetzung der Partie bewies:
11… e6xd5 12. e4xd5 Dc6-d6 13. Lc1-g5!. Damit wird erst noch eine wichtige Schwächung vor dem eigentlich beabsichtigten Zug erzwungen. Es ging weiter mit 13… f7-f6 14. Lg5-f4! Dd6xf4
15. d5-d6. Nun verbietet sich die wünschenswerte Rochade 15… 0-0? wegen 16. Dd1-d5+, gefolgt von 17. d6xe7 und 18. Dd5-f7. Schwarz musste also mit 15… Ke8-d8 Klimmzüge eingehen und wurde nach 16. Te1xe7 b7-b5 17. Dd1-d5 Ta8-b8 18. Ta1-e1 Df4-c4 19. Dd5-h5 Dc4-g8
20. Dh5-c5! Dg8-c4 21. Dc5-e3 für die ungelenke Koordination seiner Figuren bestraft. Kasimdzhanov musste nun in den Damenverlust nach 21… Dc4-e6 einwilligen und verlor rasch.
18. Short – Kasparov, PCA-Weltmeisterschaft, 8. Partie, London 1993
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
Dies hätte die Partie seines Lebens werden können: Nigel Short spielte in dieser Partie wie entfesselt auf und stand mehrfach auf Gewinn, verdarb aber in hochgradiger Zeitnot die Partie trotzdem noch zum Remis. So wurde dieses faszinierende Duell zu einer der berühmtesten Punkteteilungen in der Schachgeschichte, doch auf diese Ehre hätte der Engländer sicherlich gerne verzichtet und stattdessen lieber den vollen Punkt eingesackt. Es ließ sich sehr gut an, denn Short präsentierte hier das Figurenopfer 16. Sd4-c6!! Sc5xb3+ 17. a2xb3 De7-c5, wonach zwei Figuren hingen. Short hatte natürlich tiefer gerechnet und stand nach 18. Sc3-e4 Dc5xc6
19. Lf4xg5 Lc8-b7 20. Td1-d6!! Lf8xd6 21. Se4xd6+ Ke8-f8 22. Th1-f1 Sd7xe5 23. Dg4xe6 De6-d5 auf Gewinn – ja, wenn er hier anstelle des komplizierten 24. Tf1xf7+?! dem einfacheren 24. De6-f6 den Vorzug gegeben hätte. Nach 24… Th8-h7 25. Tf1-f5 oder 24…. Th8-h5 25. Lg5-h6+ steht Schwarz in beiden Fällen auf Verlust. So entwischte Kasparov tatsächlich noch, wonach die psychologische Bürde im weiteren Match Short schwer zusetzte.
19. Kasparov – Anand, PCA-Weltmeisterschaft, 10. Partie, New York 1995
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz
Gerade hatte Anand sensationell nach acht Remisen zum Auftakt die 9. Partie gewonnen und somit die Führung übernommen. Wie bitter wirkt es da in der Rückschau, dass er Kasparov in der 10. Partie ins offene Messer rannte: eine vorbereitete Neuerung der übelsten Sorte brachte Kasparov nicht nur den postwendenden Ausgleich des Matchstandes ein, sondern einen psychologisch unglaublich wichtigen Sieg. Nach dieser Darbietung war Anands Moral spürbar angeschlagen (in der 11. Partie unterlief ihm ein furchtbarer Fehler), denn Kasparov fegte ausgehend von dieser Stellung wie ein Wirbelwind über die schwarze Stellung hinweg. Es folgte 15. Sd2-b3!! – eine Idee, die auf Mikhail Tal zurückging, wie Kasparov später zugab. Anand schwante hier sicherlich schon Fürchterliches, denn ohne Vorbereitung opfert auch ein Garri Kasparov keinen ganzen Turm. Es half jedoch nichts: nach 15… Sc5xb3 16. Lc2xb3 Sc6-d4
17. Dd1-g4! Dc3xa1 18. Lb3xe6 möchte wohl kaum jemand gegen einen vorbereiteten Gegner die schwarze Position verteidigen. Anand scheiterte auch daran und musste nach 18… Ta8-d8
19. Lc1-h6! Da1-c3 20. Lh6xg7 Dc3-d3 21. Lg7xh8 eine vernichtende Niederlage hinnehmen, auch wenn er sich noch vergeblich bis zum 38. Zug wehrte.
Leider reicht hier der Platz für umfassende Analysen nicht aus, weshalb hier stellvertretend auf Igor Stohls exemplarisches Werk Garris Kasparovs beste Schachpartien, Band 2 verwiesen sei. Doch auch so dürfte die Tragweite dieses Sieges glasklar sein.
20. Kramnik – Anand, Weltmeisterschaft, 5. Partie, Bonn 2008
Stellung nach dem 34. Zug von Weiß
In dieser eminent wichtigen Partie hatten beide Spieler bewusst diese Stellung angestrebt – was in der Regel für eine Seite nichts Gutes bedeutet. Nach einer langen Kombination Kramniks, die sich als gnadenloser Bumerang entpuppte, hatte sich dieser klar im Vorteil gewähnt. Die Partie dauerte allerdings noch genau zwei Züge: Anand zog hier das unerwartete und von Kramnik vollkommen übersehene 34… Sg4-e3!!. Nach 35. f2xe3 f4xe3 gab Kramnik auf, denn gegen das anschließende 36… e3-e2 ist nichts zu erfinden. Was für eine Enttäuschung!
21. Gelfand – Kramnik, Berlin 1996
Stellung nach dem 26. Zug von Weiß
Mit den schwarzen Steinen ist Vladimir Kramnik nicht gerade als schneidiger Angriffsspieler bekannt geworden, doch der untadelig vorgetragene Angriff in dieser Partie brachte ihm enorme Anerkennung ein. Schwarz hat eine Qualität mehr, doch wegen der potentiellen Springergabel auf d4 scheint die Lage auf den ersten Blick gar nicht so klar zu sein. Es geschah jedoch
26… Sd5-c3!! 27. Sf3xd4 Tb3xb2!! 28. Tb1xb2 De6-a2+!! mit einem Bilderbuchmatt im nächsten Zug, das sich Gelfand leider nicht mehr zeigen ließ.
22. Gelfand – Kantsler, Beer Sheba 2001
Stellung nach dem 30. Zug von Weiß
In einer für die Mar-del-Plata-Variante der Königsindischen Verteidigung fast schon als typisch zu bezeichnenden Situation hat Schwarz bereits alle Brücken hinter sich abgebrochen: er hat nicht nur einen Läufer investiert, sondern auch zwei weitere hängende Figuren. Fazit: entweder der Angriff dringt durch oder Schwarz hat bald eine halbe Armee weniger und wird verlieren. Es sieht hier gar nicht so schlecht für Schwarz aus, doch selbst das Doppelschach auf h2 bringt unglaublicherweise nichts ein. Kantsler spielte stattdessen einen Zug, den die meisten Spieler aufgrund seiner paradoxen Logik wohl kaum in Erwägung gezogen hätten: 30… Sh4-g2!!. Anstatt die g-Linie zu öffnen, versperrt sie Schwarz sogar selbst. Viel wichtiger ist jedoch, dass der Zug die 2. Reihe blockiert. Da die Dame den kecken Eindringling offensichtlich nicht schlagen darf, blieb Weiß nur der Zug 31. Tf1-c1. Nach 31… Dh3xh2+ 32. Kg1-f1 Dh2-h1+ 33. Lc5-g1 geschah aber nicht 33… Sg2-e3+?, was dem weißen König die Flucht über d2 gestattet hätte, sondern stärker 33… Sg2-h4! – zurück zur Basis. Plötzlich droht nicht nur der Einschlag auf f3, sondern auch das profane 34… Tg7xa7, wonach Schwarz ohne materielle Verluste plötzlich ebenfalls auf Gewinn stände. Daher zog Gelfand 34. Se6xg7, doch nach 34… Sh4xf3 blieb ihm nur die Aufgabe: 35. De2-g2 hilft wegen der Antwort 35… Sf3-h2+ mit Damengewinn nicht wirklich.
23. Cifuentes Parada – Zvjagintsev, Wijk aan Zee 1995
Stellung nach dem 24. Zug von Weiß
Es gibt mehr als genug Spieler in der zweiten oder dritten Reihe, deren kreative Leistungen allenfalls dann zur Kenntnis genommen werden, wenn sie so spektakulär wie hier ausfallen: Weiß hatte hier soeben 24. Lf3-g2? gezogen und nichts Böses geahnt, doch schauen Sie nur, welch höllische Magnetmatt-Kombination Zvjagintsev hier korrekt berechnete:
24… Se4xf2!! 25. Kg1xf2 Te8xe3!! 26. Lh6xe3 (hartnäckiger, wenngleich ebenfalls etwas schlechter für den Anziehenden war das Nehmen mit dem König, aber Weiß dachte wohl, Schwarz hätte nicht mehr als ein Remis). Zum Glück nahm Cifuentes Parada mit dem Läufer, so dass der Nachziehende die Kombination ausführen durfte und ein Meisterwerk kreierte:
26… Sf6-g4+ 27. Kf2-f3 Sg4xh2+ 28. Kf3-f2 Sh2-g4+ 29. Kf2-f3 Dd7-e6! 30. Le3-f4 Td8-e8
31. Dc2-c4 De6-e3+!! 32. Lf4xe3 Te8xe3+ 33. Kf3xg4 Ld7-c8+ 34.Kg4-g5 h7-h6+! 35. Kg5xh6 und nun 35… Te3-e5!!, wonach Weiß nur die Wahl bleibt, ob er auf h5 oder f8 matt wird. Unfassbar!
24. Serper – Nikolaidis, Sankt Petersburg 1993
Stellung nach dem 16. Zug von Schwarz
Wenn Sie diese Parite nicht kennen, dann spielen Sie sie unbedingt komplett nach! Großmeister Larry Christiansen, selbst ein schneidiger Angreifer, zählt sie zu den größten Angriffspartien aller Zeiten: Serper opferte ausgehend von dieser Stellung mit Ausnahme seiner Bauern wirklich alle seine Figuren und gewann die Partie dennoch!!! Weiß eröffnete hier den Opferreigen mit
17. Sc3-d5!! und hatte hier sicherlich noch nicht vor, seine gesamte Armee zu opfern, sondern baute auf positionelle Kompensation in Form einer mächtigen Bauernlawine. Nach 17… c6xd5
18. e4xd5 f7-f5 19. d5-d6 Dc7-c6 ging es weiter mit dem nächsten Opfer: 20. Le2-b5!!.
Nach 20… a6xb5 21. a4xb5 Dc6xb5 22. Ta1xa8 Db5-c6 23. Tf1-a1 f5-f4 zeichnete sich langsam ab, welch wunderbare Partie sich hier gerade entfaltete. Nach 24. Ta1-a7 Sf8-d7 ging es munter weiter mit 25. Ta8xc8+! Dc6xc8 26. Dd2-d5 f4xe3. Versuchen Sie doch ab hier, selbst herauszufinden, wie es weiter gegangen sein könnte! Viel Spaß!
25. Vajda – Georgiev, Herceg Novi 2008
Stellung nach dem 16. Zug von Schwarz
Es scheint in dieser Stellung als ob Weiß ja gar nichts anderes als 17. Se4xg5 ziehen könnte, worauf Schwarz lang rochiert und sich mit keinerlei Problemen konfrontiert sieht. Der bulgarische Großmeister wurde hier aber kalt erwischt von dem diabolischen 17. Se4-f6+!!, was eine ganze Figur ins Geschäft steckt, nur um den gegnerischen König im Zentrum festzuhalten. Es ging weiter mit 17… Lg5xf6 18. e5xf6+ Lf5-e6 19. Ta1-d1. Hier hätte Schwarz lang rochieren und die Dame preisgeben können, was langfristig auch verloren sein dürfte. Vielleicht glaubte er aber auch, dass Weiß nicht mehr als ein Remis hätte und ließ sich daher den Angriff nach 19… Dd5-f5 zeigen. Nach 20. Dh6-g7 Th8-f8 musste Weiß also irgendwie die Dame von e6 ablenken. Es folgte 21. h2-h3 h7-h5 22. Td1-d4! h5-h4 23. f2-f4!. Mit dem Turmzug nach d4 verhinderte Weiß ein Schachgebot auf c5 und konnte nun nach 23… c6-c5 24. Td4-d1 genüsslich mitansehen, dass Schwarz gegen das beabsichtigte 25. Te1-e5 keine Verteidigung hat und bald aufgeben muss.
26. Ahn – Ruck, Belgien 2007
Stellung nach dem 9. Zug von Weiß
Weiß hatte gerade – wie übrigens etliche andere Spieler schon vor ihm auch – in dieser Stellung 9. a2-a4? gespielt. Während in den anderen Begegnungen Schwarz jedoch fast immer mit dem normalen 9… a7-a5 antwortete, folgte hier ein Motiv, das zwar gut bekannt, aber ziemlich versteckt ist, zumal es nicht zu forciertem Matt führt und daher eine Menge Rechenarbeit erfordert. Es folgte: 9… Sf6xe4!! 10. Lh4xd8 Lb6xf2+ 11. Ke1-e2 Lc8-g4+ 12. Ke2-d3 Sc6-e5+
13. Kd3xe4 f7-f5+ 14. Ke4-d5 Ta8xd8 15. Dd1xg4 c7-c6+ 16. Kd5-e6 0-0! 17. Sc3-d5 f5xg4
18. Lf1-d3 g7-g6 19. Th1-f1 Kg8-g7 20. Sb3-d4 Tf8-e8+ 21. Sd5-e7 Lf2-h4. Weiß konnte das Matt nur mit 22. Ld3xg6 abwenden, doch nach 22… Te8xe7+ 23. Ke6-f5 Td8-f8+ 24. Kf5-e4 Se5xg6+ hatte er einfach eine Figur weniger und gab zwei Züge später auf.
27. Nunn – Nataf, Frankreich 1999
Stellung nach dem 14. Zug von Weiß
Der französische Großmeister Igor-Alexandre Nataf dürfte hier die Partie seines Lebens gespielt haben: seine unfassbare Kombination gelang ihm zudem gegen einen der stärksten Spieler der 1980er-Jahre. Hier zertrümmerte Schwarz den Schutz des weißen Königs mit 14… Sg4xf2!!. Das Dickicht an Varianten ist sehr kompliziert, doch die nachträgliche Analyse ergab, dass das Opfer korrekt war. In der Partie folgte ein wahrer Reigen an Opfergaben: 15. Dd1-d5+ Kg8-h8
16. Lg3xf2 Sc6-b4 17. Dd5-h5 Tf8xf2! 18. Ke1xf2 Le7-h4+ 19. Kf2-g2 g7-g6 20. Dh5-f3 Dd8-g5+
21. Kg2-f1 Lc8-h3+!! 22. Df3xh3 Ta8-f8+ 23. Le2-f3 Dg5-e3. Nach 24. Dh3xh4 schließlich nahm Nataf nicht etwa den hängenden Läufer mit Schach, sondern entkorkte den unglaublichen Zug 24… Sb4-d3!! mit raschem Gewinn. Eine glänzende Darbietung!
28. Karpov – Csom, Bad Lauterberg 1977
Stellung nach dem 49. Zug von Schwarz
Leichtere, aber ebenfalls höchst ästhetische Kost lieferte Weltmeister Anatoly Karpov in diesem Beispiel ab. Wegen des hängenden Turms scheint der Anziehende ein Problem zu haben, doch nach dem Kraftzug 50. Sg3-f5!! musste der ungarische Großmeister die Waffen strecken. Es droht ein Bahnungsopfer des Turms auf h7. Schlägt Csom den Turm, dann schwenkt die weiße Dame nach h2 und setzt unweigerlich in wenigen Zügen auf g7 matt. Das gleiche Schicksal würde Schwarz auch ereilen, wenn er stattdessen den Springer nimmt.
29. Topalov – Ponomariov, Sofia 2005
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz
Der bulgarische Großmeister hat bereits eine bedrohlich wirkende Damen-Läufer-Batterie aufgebaut, setzte hier aber nicht etwa mit dem Damenschach auf h7, sondern mit 18. Sf3-g5!! fort. Nach 18… h6xg5 19. h4xg5 d4xc3 zeigte sich die wahre Pointe: das Turmschach auf h8 ist nicht zielführend, da Schwarz das Opfer nicht annehmen muss. Stattdessen argumentierte Topalov, dass der Angriff weiter seine Kraft behält und nicht zu parieren ist. Ergo nahm er sich hier die Zeit für das seelenruhige 20. Ld2-f4!! und trug nach 20… Kg8-f7 21. Dc2-g6+ Kf7-e7 22. g5xf6+ Tf8xf6 23. Dg6xg7+ Tf6-f7 24. Lf4-g5+ Ke7-d6 25. Dg7xf7! Dd8xg5 26. Th1-h7 den Angriff dank der mit Hilfe des Springeropfers geöffneten h-Linie schneidig vor. Nach 26… Dg5-e5+ 27. Ke1-f1 Kd6-c6 28. Df7-e8+ Kc6-b6 29. De8-d8+ Kb6-c6 holte er sich mit Hilfe des Ablenkungsopfers 30. Lb1-e4+! Ponomariovs Skalp.
30. I. Sokolov – J. Polgar, Hoogeveen 2003
Stellung nach dem 32. Zug von Schwarz
Ivan Sokolov hatte für einen schneidigen Angriff einen ganzen Turm ins Geschäft gesteckt und diese Stellung erreicht, nachdem er zuvor bereits einen einfacheren Gewinn ausgelassen hatte. Mit Hilfe des elektrisierenden Zuges 33. Sf5-e7!! konnte er zu seinem Glück die Partie immer noch siegbringend verwerten. Wegen der beiden Mattdrohungen auf f8 und g7 ist die schwarze Auswahl stark eingeschränkt. Nach dem erzwungenen 33… Te5-e1+ 34. Kg1-h2 Db7-b8+ spielte Sokolov nun das korrekte 35. Tf3-g3! (dagegen würde 35. g2-g3?? wegen 35… Sc5-e6 verlieren!). Polgar zog nun 35… Te1xe7, da 35… Sc5-e6?? diesmal an 36. Dg5-g7+! scheitern würde. Es folgte noch 36. Dg5xe7 Sc5-e6 37. De7xe6 Db8-f4, und Weiß gewann nach einem weiteren Zeitnotfehler von Schwarz im 42. Zug.
31. Carlsen – Anand, Blitzpartie, Zürich 2014
Stellung nach dem 20. Zug von Schwarz
Zugegebenermaßen gibt es in dieser Sammlung schwierigere Beispiele als dieses Diagramm. Dennoch ist Carlsens ikonischer Sperrzug 21. Sf6-e8+!! im kollektiven Gedächtnis haften geblieben, zumal man nicht täglich in so glänzendem Stil gegen einen Exweltmeister gewinnt. Anand musste aufgeben, denn das Schlagen der Dame gestattet sofortiges Matt auf f8, während 21… Kh8-g8 22. De5-h8+!! die ganze Angelegenheit nur um einen Zug hinauszögert.
32. Carlsen – Li Chao, Doha 2015
Stellung nach dem 27. Zug von Schwarz
Es bedarf sowohl großen Vertrauens in die eigenen Rechenfähigkeiten als auch einer großen Portion an Unverfrorenheit sowie Kaltschnäuzigkeit, sich freiwillig auf eine solche Position einzulassen. In diesem totalen Grünfeld-Chaos, das fast aus einer Tandem-Partie stammen könnte, ist die Konzentration an schwarzen Figuren, die gegen den weißen König gerichtet sind, auch ohne Dame ziemlich furchteinflößend. Der norwegische Weltmeister hingegen erkannte, dass der Erfolg des schwarzen Angriffs lediglich mit einer einzigen Figur steht und fällt: ohne den Springer auf c4 ist der schwarze Angriff harmlos. Daher spielte Carlsen 28. Sg6-e5+!! und rückte dem feindlichen Springer auf die Pelle. Schwarz musste – wie leicht ersichtlich – mit 28… Lg7xe5
29. Dh7xf5+ Kd7-c7 antworten, worauf Carlsen nur um der Ablenkung dieses Springers willen auch noch mit 30. Df5xe5+!! die Dame ins Geschäft scheckte. Schwarz kann das Opfer nicht ablehnen und musste nach 30… Sc4xe5 31. Ld1xb3 bald das Scheitern seines Plans eingestehen, da Weiß einfach zuviel Material behält. Nach ein paar belanglosen Zügen gab Li Chao auf.
33. San Segundo – Vera, Schnellpartie, Benidorm 2005
Stellung nach dem 19. Zug von Schwarz
Ähnlich chaotisch wie im vergangenen Beispiel geht es auch hier zu, wobei für meinen Geschmack dem weißen König noch banger sein dürfte. Umso bewundernswerter erscheint es, dass Weiß dieses Chaos trotz verkürzter Bedenkzeit richtig berechnet hatte! Weiß zog nicht das verlockende 20. De5-d6+, sondern spielte hier 20. Sh8-g6+!!, was zu einer paradoxen Situation führt. Im Grunde genommen droht Weiß nach diesem Zug gar nichts, denn wenn Schwarz entgegen der Regeln das Schachgebot ignorieren und einfach aussetzen könnte, dann würde nicht einmal die schwarze Dame hängen, weil der Nachziehende dann nach 21… Tg2-g1+!! das Matt auf h3 mit dem Springer erzwingen könnte. Das schwarze Problem besteht darin, dass sein König keine sichere Bleibe findet und jede Antwort auf das Schachgebot seine Stellung entscheidend verschlechtert. Königszüge scheitern entweder an Damengewinn bzw. Läufergewinn (mit Schachgebot!) oder an Mattvarianten, während das Schlagen mit dem Springer das tödliche Damenschach auf g7 zuließe. Schwarz spielte also erwartungsgemäß 20… Tg2xg6+, sah sich aber nach 21. f2-f3! außerstande, den Angriff zu Ende zu bringen. Für dieses eine Tempo und die Ablenkung des gegnerischen Turms von h2 hatte Weiß den Eckspringer entscheidend geopfert. Nun scheitert 21… Tg6-g2 an 22. De5-d6+ mit nachfolgendem Damenspieß auf d8, aber relativ am besten wäre noch das schwer zu findende 22… Dh4-g5 gewesen. Schwarz, verständlicherweise dessillusioniert, fand nun nichts Besseres als 21… Sf4xh5 und musste nach 22. De5-c7+ Ke7-f8 23. Dc7-b8+! den Verlust seines Läufers mit Schach registrieren und mit ihm das baldige Ende der Partie zugunsten von Weiß.
34. Timman – Hübner, WIjk aan Zee 1982
Stellung nach dem 39. Zug von Schwarz
In dieser lange Zeit für Schwarz gewonnenen Partie ereilte Dr. Hübner nun die Höchststrafe, als er hier von Jan Timman den Kunstzug 40. Sf4-e6!! präsentiert bekam. Da Schwarz nicht gleichzeitig die Drohungen gegen e4 und f8 parieren kann, musste er aufgeben.
35. Stanishevsky – Nikonov, Moskau 1981
Stellung nach dem 22. Zug von Schwarz
Das weitere Geschehen in dieser Partie zwischen mir zwei völlig unbekannten Spieler dürfte einmalig in der Schachgeschichte bleiben und ist mein Lieblingsbeitrag in dieser Rubrik. Im Mittelalter hätte so eine Partie den Verdacht auf schwarze Magie genährt, denn anders ist der Fortgang dieser Partie kaum zu erklären – doch sehen Sie selbst!
Natürlich sehen geübte Spieler in dieser Stellung sofort, dass ein Matt auf h6 in der Luft liegt. Dennoch scheint der Nachziehende hier hinreichend sicher zu stehen, da auch der weiße Keilbauer angegriffen wird. Nach dem offensichtlichen 23. g4-g5 h6-h5 würde Schwarz nicht gerade attraktiv stehen, aber ein entscheidender weißer Durchbruch wäre andererseits für lange Zeit verhindert. Das sah offenbar auch Weiß so und fand etwas anderes, geradezu Ungeheuerliches: er zog hier 23. Sc5-d7!! und drohte nicht nur unverhohlen mit Turmgewinn, sondern deckte auch noch den „heiligen“ Bauer auf f6. Nach 23… Dd8xd7 setzte Weiß fort mit 24. Sf3-e5 Dd7-d8 und nun das unglaubliche 25. Se5-d7!!. Wenn das kein Déjà-vu ist?! Das erste Opfer hatte natürlich das Ziel, mit Tempogewinn die dritte Reihe zu räumen. Mit dem zweiten Opfer auf demselben Feld wird erneut der Pflock auf f6 einen Zug lang zementiert und ein Tempo für den Turmschwenk nach h3 gewonnen. Es folgte 25… Dd8xd7 26. Te3-h3 (dafür hatte Weiß zwei Springer geopfert!). Nach 26… h6-h5 27. g4xh5 g6-g5 28. Df4xg5 Dd7-d8 muss doch etwas für Weiß gehen?! Tut es auch, denn nach 29. h5-h6!, was ein Damenopfer auf g7 droht, sieht es gut aus für Weiß. Schwarz probierte noch 29… Dd8xf6, doch auch dies änderte nichts mehr an dem entscheidenden Opfer: 30. Dg5-g7+!! Se8xg7 31. h6xg7+ Df6-h6. Nun gedachte Weiß offenbar auch noch seiner zwei Springer und spielte 32. g7xf8=S+! Kh7-h8 33. Th3xh6 matt.
Unfassbar, nicht wahr?
Tragische Patzer
36. Razuvaev – Kupreichik, Jerewan 1970
Stellung nach dem 8. Zug von Weiß
Es kommt nicht so oft vor, dass ein Großmeister in einer Turnierpartie mit den weißen Steinen nach acht Zügen auf Verlust steht. Genau dies widerfuhr jedoch Juri Rausvaev, als er sich in dieser bekannten Variante (1. c2-c4 e7-e5 2. Sb1-c3 Sb8-c6 3. Sg1-f3 f7-f5 4. d2-d4 e5-e4
5. Lc1-g5 Sg8-f6 6. d4-d5?! e4xf3 7. d5xc6 f3xg2) hier den furchtbaren Fehler 8. c6xd7+?? erlaubte. Sein Gedankengang war einfach: nach dem Zwischentausch auf d7 würde er auf g2 nehmen und ordentlich stehen. Er hätte aber unbedingt sofort auf g2 nehmen und den Bauer opfern sollen, denn in der Diagrammstellung geschah nun das unerwartete 8… Sf6xd7!!, wonach Weiß wegen unvermeidlichen Figurenverlusts praktisch aufgeben kann.
In einer ebenfalls 1970 gespielten Partie Doroshkewitsch gegen Tukmakov unterlief Weiß exakt dasselbe Malheur – nur mit dem Unterschied, dass Weiß sofort aufgab, während Rasuvaev noch ein paar belanglose Züge machte, aber am Ergebnis selbstredend nichts mehr ändern konnte.
37. Petrosian – Bronstein, Amsterdam 1956
Stellung nach dem 35. Zug von Schwarz
Dies hätte eine der besten Partien überhaupt von Tigran Petrosian werden können: er hat seinen Gegner David Bronstein bereits nach allen Regeln der Kunst überspielt. Hier vergass er jedoch das Elementarste im Schach und stellte einzügig mit 36. Se4-g5?? die Dame ein. Bronstein nahm das Geschenk natürlich dankend an, worauf Petrosian aufgab. Den unglaublichen Vorfall kommentierte der Verlierer hinterher bissig damit, dass er den Angriff der einzigen aktiven schwarzen Figur einfach übersehen hatte. Niemand ist eben vor einfachsten Fehlern gefeit …
Nur beim Spielen gegen Computer kann man sich indes beim Warten auf einen solchen Fehler wie Wladimir und Estragon in Samuel Becketts Warten auf Godot vorkommen, denn es wird auch in einer Million Jahre schlicht nie passieren!
Diskussionsstoff
38. Fischer – Petrosian, Kandidatenfinale, 7. Partie, Buenos Aires 1971
Stellung nach dem 21. Zug von Schwarz
Dieses äußerst berühmte Beispiel gehört für meine Begriffe zur schachlichen Allgemeinbildung – jeder ernsthafte Spieler sollte wissen, was Fischer hier zog. Bevor ich die Lösung präsentiere, sei nochmals daran erinnert, dass Fischer unter dramatischen Umständen in der Runde zuvor mit Schwarz ein eigentlich unentschiedenes Endspiel bärenstark behandelte und nach nur einem einzigen Fehler von Petrosian doch noch zum Sieg führte. „Bobby“ hatte also in diesem Match wieder die Führung übernommen – würde der Amerikaner auch diese Partie gewinnen, dann wäre der Weg zum Match gegen Spassky fast schon frei. (In der Tat gewann Fischer auch die beiden darauffolgenden Partien gegen seinen nun demoralisierten Gegner.)
Fischers Entscheidung in dieser Stellung 22. Sc5xd7+!! verblüffte alle anwesenden Kommentatoren, die überhaupt nicht mit diesem Zug gerechnet hatten. Der impulsive Miguel Najdorf soll ihn spontan als schlimmen Fehler bezeichnet haben, weil Weiß seinen starken Springer gegen den schlechten Läufer von Schwarz tauschen würde. Fischer selbst war zur damaligen Zeit jedoch der unumschränkte Meister bei der Transformation von Vorteilen. Fischer selbst empfand den Läufer, den er soeben geschlagen hatte, gar nicht als so schlecht, wenn dieser wie geplant nach b5 gelangen würde. Das bahnbrechende Element an Fischers Entscheidung bestand vielmehr in dem Denkansatz, nach dem Material zu schauen, das auf dem Brett verbleibt und nicht nach dem, welches das Brett verlässt. Die weißen Figuren finden nun allesamt aktive Betätigungsfelder, zumal der geschlagene Läufer wichtige Einbruchsfelder kontrollierte. Nur wenige weitere Züge genügen schon, um zu verdeutlichen, wie recht Fischer mit seiner Einschätzung hatte: 22… Ta7xd7 23. Ta1-c1 Td7-d6 24. Tc1-c7 Sf6-d7 25. Te5-e2 g7-g6 26. Kg1-f2 h7-h5 27. f3-f4 h5-h4 28. Kf2-f3 f7-f5 29. Kf3-e3 d5-d4+ 30. Ke3-d2. Nun zeichnet sich ein deutliches Bild ab, denn diese Stellung würde wohl niemand gerne mit Schwarz verteidigen wollen. Der schwarze Freibauer ist blockiert und komplett harmlos, während die schwarzen Figuren nur damit beschäftigt sind, die Schwächen zu decken. Es folgte noch 30… Sd7-b6
31. Te2-e7 Sb6-d5 32. Te7-f7+ Kf8-e8 33. Tc7-b7 Sd5xf4 34. Ld3-c4, bevor Petrosian aufgab.
39. Botwinnik – Tal, Weltmeisterschaft, 6. Partie, Moskau 1960
Stellung nach dem 21. Zug von Weiß
Schachbegeisterung zeichnete die Sowjetunion während ihrer gesamten Geschichte aus, doch die Aura dieses WM-Kampfes war kaum zu toppen. Auf der einen Seite stand mit Mikhail Botwinnik der Patriarch der Sowjetischen Schachschule – ein politisch korrekter Vertreter und rationaler Analytiker, der unerschütterlich an die logischen Prinzipien des Spiels glaubte. Auf der anderen Seite forderte ihn der kometenhaft auf der Schachbühne erschienene „Zauberer aus Riga“, Mikhail Tal, heraus – ein respektloser Vertreter der jungen Generation. Der Emporkömmling genoss keinen besonderen Respekt seitens Botwinnik, was angesichts von Tals Herangehensweise an das Schachspiel auch nicht sonderlich verwunderte. Die Risikobereitschaft, die wilden Opfer und die psychologische Komponente waren drei unverwechselbare Elemente von Tals Stil. Tals Opfer wurden später mehrfach in analytischer Hinsicht widerlegt, doch die Lösung der praktischen Probleme am Brett überforderte viele seiner Gegner. Den faszinierendsten Moment des Matches, bei dem die unterschiedlichen Ästhetiken mit voller Wucht aufeinander prallen, erleben wir hier: Tal spielte hier den Zug 21… Sh5-f4?!, dessen Bewertung bis heute kontrovers diskutiert wird. Vermutlich gehört er zu den zehn meistdiskutierten Zügen der gesamten Schachgeschichte! Tal selbst kommentierte in seinem typisch optimistischen, aber wenig sachlichen Stil den Zug „schon deshalb als gut, weil alle anderen Züge schlecht sind“. Die Nachwelt zweifelte dieses Urteil aus zweierlei Gründen an: zum einen ist nicht klar, weshalb das natürliche 21… Sh5-f6 signifkant schlechter sein soll, und zum anderen, weil Tals Partiezug ihm objektiv eine Verluststellung hätte einbringen können. Die ohenhin schon euphorischen Zuschauer vor Ort ahnten von alledem natürlich nichts und konnten nach Tals Zug offenbar nicht mehr an sich halten. Es kam zu solchen akustischen Störungen durch das Publikum, dass die Partie wenig später in einem separaten Raum ohne Publikum zu Ende gespielt wurde!
Es gab eine Widerlegung von Tals Zug, die am Brett aber praktisch nicht zu finden war.
Sie lautet: 22. g3xf4 e5xf4 23. a2-a3! Db4-b3 24. Le3xa7 Lg7-e5 25. f2-f3! b7-b6 26. a3-a4!!. Die Idee besteht darin, den Läufer mit a4-a5 wieder zu befreien, wonach Schwarz objektiv zu wenig für die geopferte Figur hat. Botwinnik kam dagegen – wie von Tal erwartet – mit dem irrationalen Charakter der Stellung gar nicht zurecht und zog nach 22. g3xf4 e5xf4 stattdessen 23. Le3-d2, worauf Tal mit 23… Db4xb2? auch nicht ideal fortsetzte – stärker wäre 23… Lg7-e5 gewesen. Das dramatische Geschehen spitzte sich noch weiter zu und driftete unweigerlich zur Klimax hin: Botwinnik zog nun 24. Ta1-b1, worauf Tal mit dem geplanten 24… f4-f3!! antwortete. Obwohl Schwarz objektiv immer noch auf Verlust steht, wollte Botwinnik möglichst rasch die Damen tauschen und verlor dabei völlig die Contenance. Er spielte hier 25. Tb1xb2??, wonach Weiß auf Verlust steht. Nach 25… f3xe2 gewann Tal dank der diversen Fesselungen diese denkwürdige Partie in 46 Zügen. Eine umfassende Analyse dieser komplexen Stellung sprengt leider den Rahmen, weshalb ich hier exemplarisch auf Tibor Károlyis bahnbrechendes dreibändiges Werk über Mikhail Tal verweise. Festzuhalten bleibt, dass Tal keinen berühmteren Zug als diesen Rösselsprung ausführte, der ihm einen wichtigen Schwarzsieg einbrachte und maßgeblich zum Gewinn des Titels beitrug.
Eckspringer
40. Nimzowitsch – Rubinstein, Dresden 1926
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz
Dieses ikonische Beispiel verdeutlicht wohl am besten, dass es im Schach keine ehernen Wahrheiten gibt und der relative Wert eines Zuges immer von der konkreten Stellung auf dem Brett abhängt. Offensichtlich stehen Springer am Brettrand häufig schlecht, weil sie dort weniger Felder zur Verfügung haben. Wenn diese Erkenntnis jedoch auf den Brettrand zutrifft, dann sollte das Eckfeld ein besonders ungemütliches Plätzchen für einen Springer darstellen. Nimzowitsch erkannte jedoch in dieser Stellung, dass aufgrund der statischen Bauernstruktur keine schnellen Aktionen zu erwarten sind und die Verbesserung der schlechtesten Figur somit ein Prinzip darstellen sollte, das in derartigen Stellungen besonders wichtig erscheint. Nimzowitschs revolutionäre Theorien werden durch den Zug 18. Sg3-h1!! eindrucksvoll untermauert. Die Überführung des Springers nach g5 ist in der Tat langsam, doch auch Schwarz benötigt für die Mobilisierung seiner Kräfte einige Zeit. Nach 18… Lc8-d7 19. Sh1-f2 Ta8-e8 20. Tf1-e1 Te8xe2
21. Te1xe2 Sc6-d8 22. Sf2-h3 Ld7-c6 23. Df3-h5 g7-g6 24. Dh5-h4 stand Weiß zum Angriff bereit. Der nun auf g5 auftauchende Springer nimmt erfolgreich am Geschehen teil. Nimzowitsch gewann in 46 Zügen. Sein beispielhaftestes Manöver ist zwar selten, aber im Bewusstsein starker Spieler fest verankert, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen mögen.
41. Korchnoi – Fischer, Blitzpartie, Herceg Novi 1970
Stellung nach dem 24. Zug von Weiß
Dass uns diese Blitzpartie überhaupt erhalten geblieben ist, verdanken wir möglicherweise einem hellsichtigen Kiebitz, der schon ahnte, dass hier etwas Großes geschehen könnte. Wenn dem so war, dann wurde er jedenfalls nicht enttäuscht!
Diese Königsindisch-Stellung ist ein Albtraum für Weiß: da es keine Hebel am Damenflügel gibt, um weitere Linienöffnungen zu erzwingen, hat Schwarz praktisch freie Hand am Königsflügel. Robert James Fischer war mit dem klassischen Erbe bestens vertraut und kannte Nimzowtischs obige Partie mit Sicherheit. Dies gestattete ihm wohl, hier die Idee 24… Sg6-h8!! zu finden. Dass dieser Springer auf g5 besser steht als auf h4 leuchtet rasch ein, wenn man diese Idee erst einmal entdeckt hat. Korchnoi brach nach diesem Manöver schnell zusammen: 25. Tf3-d3 Sh8-f7 26. Le2-f3 Sf7-g5 27. Dd1-e2 Th6-g6 28. Kg1-f1 Sg5xh3! mit raschem Gewinn. Der Angriff erlangte letztlich durch das bizarre Eckmanöver des Springers die nötige Durchschlagskraft.
42. Miles – Makarychev, Oslo 1984
Stellung nach dem 36. Zug von Schwarz
In dieser Stellung ist es nicht zu leicht zu erkennen, dass Weiß klar besser steht. Schwarz würde gerne seinen Läufer gegen den Springer tauschen, um einerseits seine schlechte Leichtfigur loszuwerden und andererseits den weißen König belästigen zu können. Nach einem Rückzug auf das Feld f1 bliebe der Bauer auf f2 verwundbar, doch wenn sich der Springer nach e2 zurückzieht, dann ist der Zug 37… Da1-e1! lästig. Miles spielte das absurd anmutende 37. Sg3-h1!!. Der Eckspringer wird zuverlässig vom König gedeckt, während f2 weiterhin sicheren Schutz genießt. Das gibt Weiß die Zeit, um mit der Dame die schwarzen Bauernschwächen anzugreifen und somit die aktive gegnerische Dame allmählich in eine passive Position zurückzudrängen. Wenn die Zeit reif ist, dann kann der Springer wieder zurück ins Spiel gelangen. Nach den weiteren Zügen
37… Da1-b2 38. De4-c6 Db2-b1 39. Dc6xc7 Db1-e4+ 40. Kg2-h2 h7-h5 41. Dc7-c6 De4-c2
42. g4xh5 Dc2-f5 43. Dc6-g2 Df5xh5 44. c4-c5! wurde schnell klar, dass der weiße König sehr sicher steht und Miles spürbare Fortschritte erzielen konnte. Er gewann schließlich im 53. Zug.
43. Carlsen – Adams, Khanty-Mansiysk 2007
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
In einer scharfen Variante des Nimzo-Inders hatte Carlsen einen Bauer verspeist – und das gegen einen der größten Experten in diesen Systemen! Carlsen behauptete nun den Bauer mit Zähnen und Klauen – ein temporärer Eckspringer war ihm dafür nicht zu schade und offenbar Teil eines schon lange zuvor gefassten Plans: 16. Sb3-a1! Lc4-a2 17. Sa1xc2 La2xb1 18. Sb3-a1!. Dass der Springer so sicher im Eck steht und mit der Deckung des Feldes c2 auch noch eine wichtige Funktion erfüllt, zeigt, welche Weitsicht Carlsen an den Tag legte. Adams versuchte natürlich, die Stellung zu öffnen, um seinen Entwicklungsvorsprung zur Geltung zu bringen. Es mangelt ihm jedoch an guten Hebeln, so dass die leichte schwarze Initiative rasch versiegt. Das belegten die nächsten Züge: 18… Sf6-d5 19. Lf4-d2 e6-e5 20. e2-e3 e5xd4 21. e3xd4 Sd7-b8 22. f2-f3 Sb8-c6 23. Lf1-c4 Tc8-d8 24. Ke1-f2 Lb1-f5 25. Sa1-b3 Lf5-e6 26. Th1-c1. Inzwischen ist klar, dass Schwarz keine ausreichende Kompensation für den Minusbauer hat und allmählich zurückgedrängt wird. Carlsen siegte allerdings erst im 77. Zug.
44. Piket – Kasparov, Tilburg 1989
Stellung nach dem 28. Zug von Weiß
Auch Garri Kasparov verspürte, wenn es die Stellung erforderte, keinerlei Abneigung dagegen, einen Springer ins Eck zu beordern. Seinem Naturell entsprechend geschah dies bei ihm allerdings häufiger im gegnerischen als im eigenen Lager. Hier beispielsweise zwang er seinen Gegner Jeroen Piket mit dem ansprechenden Zug 28… Sg3-h1!! zur Aufgabe.
45. Kotov – Keres, Budapest 1950
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
Hier haben wir es mit dem seltenen Fall zu tun, dass Paul Keres aus der Eröffnung heraus glatt überspielt worden ist. Das bestrafte sein Gegner Alexander Kotov mit einer Serie von drei Springerzügen, bei denen es schwer fällt zu sagen, ob der erste oder der dritte Zug schöner ist. Kotov zog hier 16. Sh3-f4!! und setzte nach 16… g5xh4 17. Sf4xg6 Tf8-e8 mit dem Zug
18. Sg6-h8!! gleich noch ein Highlight. Keres versuchte noch 18… Te8-e7 und geriet nach
19. Dc2-h7+ Kg8-f8 20. f2-f4 in einen Angriff, dem er im 33. Zug erlag.
46. Lukacs – G. Horvath, Ungarn 1989
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz
Das vielleicht beeindruckendste Beispiel für eine langfristig angelegte Springerwanderung sehen wir hier: der ungarische Großmeister Peter Lukacs dürfte mit dem klassischen Erbe vertraut gewesen sein und zog hier den „Aaron-Nimzowitsch-Gedächtniszug“ 30. Sf2-h1!!. Nach den weiteren beabsichtigten Zügen 30… Da6-c8 31. h2-h3 Tf8-e8 32. Sh1-g3 g7-g6 33. Sg3-e2 Dc8-d7 34. Se2-d4 Tc5-c8 35. Te1-d1 Sb6-a4 36. Sd4-c6! lohnt ein Vergleich mit dem obigen Diagramm. Nun steht der weiße Springer einfach fantastisch und verhilft dem Anziehenden zu einem überwältigenden positionellen Übergewicht. Schwarz hat hingegen zwischenzeitlich nichts Nennenswertes erreichen können. Weiß siegte im 45. Zug.
Umgruppierungen
47. Karpov – Spassky, Kandidatenhalbfinale, 9. Partie, Leningrad 1974
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
Viele der beeindruckendsten Züge des 12. Weltmeisters waren nicht so spektakulär wie die seiner Kollegen. Der Zug, den Karpov hier ausführte, ist jedoch so etwas wie eine Ikone des positionellen Schachs geworden, denn dieses berühmte Beispiel fehlt in nahezu keinem strategischen Lehrbuch: 24. Sc3-b1!!. Mit dem Rückzug des Springers erreicht Karpov eine ganze Menge: zum einen hatte der Springer auf c3 wegen des feindlichen Bauern auf c6 keine große Perspektive. Zum anderen wird er nun auf bessere Felder überführt. Gleichzeitig wird Schwarz eingeladen, den Turmtausch unter schlechteren Konditionen durchzuführen. Außerdem bereitet Karpovs subtiler Rückzug die Vertreibung des gegnerischen Rappen mit c2-c3 vor. Nach den weiteren Zügen 24… De7-b7 25. Kg1-h2! Kg8-g7 26. c2-c3 Sb4-a6 27. Td2-e2! Td8-f8
28. Sb1-d2 Lh4-d8 29. Sd2-f3 f7-f6 30. Te2-d2 standen alle weißen Figuren plötzlich so signifikant besser als noch vor kurzer Zeit, dass die Partie gerade einmal noch lächerliche fünf weitere Züge bis zum weißen Sieg dauerte.
48. Carlsen – Anand, Sao Paolo 2012
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz
Auch der amtierende Weltmeister beherrscht natürlich das ganze Potential an strategischen Manövern. Hier spielte er einen kaum vorauszuahnenden, verblüffenden und doch ungemein effektiven Rückzug: 25. Sf4-h3!!. Das Manöver Dd2-h6 und Sf3-g5 mutet unglaublich plump und langsam an, doch die am Damenflügel verknoteten Figuren können ihrem König kaum zu Hilfe kommen. Es folgte noch 25… Sg7-e8 26. Dd2-h6 Se8-f6 27. Sh3-g5 d4-d3 28. Te1-e5!. Es droht ein tödliches Springeropfer auf h7, das Schwarz nicht vernünftig parieren kann. Nach 28… Kg8-h8 29. Tf1-d1 Db6-a6 30. a2-a4 stellte Anand den Widerstand bereits ein. Gegen die langsame Verstärkung mit Td1xd3, gefolgt von f3-f4 und potentiellem Turmschwenk nach h3 ist nichts mehr zu machen, da Turmzüge auf die d-Linie stets auf eine Springergabel auf f7 treffen.
49. Caruana – Naiditsch, Baden-Baden 2018
Stellung nach dem 35. Zug von Schwarz
Carlsens derzeit gefährlichster Gegner Fabiano Caruana produzierte 2018 ein ähnlich beeindruckendes Beispiel. In dieser Stellung, in der Weiß angesichts eines Minusbauern scheinbar ums Remis kämpfen muss, zeigt der Computer aber nach Fabianos nächstem Zug entscheidenden Vorteil für Weiß an! Nach 36. Sf5-e3!! (so spielt man also auf Gewinn?!) geht Schwarz an einer Mischung von vielen unglücklichen Faktoren zugrunde. Zum einen fehlt es seinem Springer nun an Wegen, wieder ins Spiel zu gelangen; zum anderen ist die geschwächte Stellung des schwarzen Königs weitaus gravierender als es zunächst den Anschein haben mag. Nach 36… Kh7-g7 37. Db7-b4! Da2-b1 38. g3-g4 Kg7-g8 39. Se3-f5 zog sich die Schlinge immer weiter zu, da die Dame stets an die Deckung des verirrten Rappen auf b2 gebunden war. Nach 39… Db1-c2 40. Db4-b8+ Kg8-h7 41. Db8-b7! (behält den Springer im Auge) war es um Schwarz geschehen. Es folgte noch 41… Kh7-h8 42. Db7-e7, wonach Naiditsch aufgab. Es kommt nicht so oft vor, dass mit einem derartigen Rückzug zum Angriff geblasen wird!
50. Topalov – Cheparinov, Sofia 2008
Stellung nach dem 21. Zug von Schwarz
Mit einem Zug wie den, den er hier spielte, könnte sich Veselin Topalov zum legitimen Erben von David Bronstein bewerben. Der Herausforderer von Botwinnik um den WM-Thron im Jahre 1951 war für seine unorthodoxen Rückzüge bekannt und verblüffte damit so manchen Gegner. Viele Großmeister hätten hier wohl dem objektiv stärkeren 22. a4-a5! b7xa6 23. Sc3-a4 den Vorzug gegeben, doch der stets äußerst dynamisch zu Werke gehende Topalov kannte sicherlich viele Partien Bronsteins und hatte daher keinerlei Bedenken, hier mit dem paradoxen und ästhetischen Rückzug 22. Sc3-b1!! die c-Linie zu räumen. Nach knapp zwei Dutzend Zügen stehen fast alle weißen Figuren wieder auf der Grundreihe, doch der Vorteil des Elitegroßmeisters gegen seinen wichtigsten Sekundanten ist spürbar: der Druck gegen c6 ist äußerst lästig. Nach 22… Lg7-h6
23. Sg5-f3 hätte zur Vollendung der Strategie eigentlich nur noch der Rückzug des anderen Springers nach g1 „gefehlt“, der leider nie geschehen sollte. Es ging weiter mit
23… b7xa6 24. Tc1xc6 Lc8-b7 25. Tc6-c7 Lb7xe4 26. Tc7xd7 Df6-f5 27. Td7-c7 Lf5xb1 28. Sf3-g5! und klarem weißen Vorteil, den Topalov im 32. Zug in einen Sieg ummünzte. Das Pendelmanöver des zweiten Springers macht dabei fast genauso viel Eindruck wie der Hammer im 22. Zug.
51. Shirov – Solak, Novi Sad 2009
Stellung nach dem 9. Zug von Weiß
Dass es der gefürchtete Angriffsspieler Alexej Shirov unverhältnismäßig oft mit der nahezu unerschütterlichen Caro-Kann-Verteidigung zu tun bekommt, ist nicht weiter verwunderlich. Sein Gegner in dieser Partie, der Großmeister Dragan Solak, zeigte sich vom Angriff unbeeindruckt und spielte hier den „David-Bronstein-Gedächtniszug“ 9… Sh6-g8!. Der Zug ist keineswegs so dreist wie es zunächst aussehen mag. Auf h6 hatte der Springer nichts mehr zu tun, während Weiß nun damit rechnen muss, dass seine vorgerückte Bauernphalanx mit h7-h5 erschüttert werden kann. Wer der Meinung ist, dass sich der Nachziehende solch einen Zeitverlust nicht erlauben kann, dem sei gesagt, dass Solak die Stellung lange genug geschlossen halten und eine Punkteteilung im 41. Zug erreichen konnte.
52. Simagin – Taimanov, Moskau 1952
Stellung nach dem 15. Zug von Weiß
Mark Taimanov, der nicht nur ein großartiges Buch über die UdSSR-Meisterschaften verfasste, sondern auch als Konzertpianist bekannt wurde, überraschte hier senen Gegner Vladimir Simagin mit einem Zug, der kaum vorauszuahnen war: 15… Sd7-b8!, wodurch der Springer dem Abtausch entzogen wird. Anschließend soll der weiße Springer mit f7-f6 vertrieben werden, wonach der Rappe nach c6 geht und die schwachen Felder auf b4 und d4 beäugt. So geschah es auch in der Partie: 16. c4xd5 e6xd5 17. e3-e4 f7-f6 18. Se5-f3 Sb8-c6 mit subtiler Verbesserung der Stellung, die Schwarz im 49. Zug gewinnen konnte. Es erhebt sich nicht so sehr die Frage, wie groß der schwarze Vorteil ist, sondern wie viele Spieler so einen Zug überhaupt erwogen hätten!
53. Smyslov – Romanishin, Moskau 1976
Stellung nach dem 8. Zug von Schwarz
Der auch im fortgeschrittenen Alter noch sehr stark aufspielende Ex-Weltmeister (man erinnere sich, dass er 1984 im Alter von 62 Jahren nochmals das Kandidatenfinale erreichte und erst dort gegen den vierzig Jahre jüngeren Garri Kasparov unterlag) bewies hier weitsichtiges strategisches Verständnis, indem er hier nicht etwa rochierte, sondern mit 9. Sh3-g1! eine starke Umgruppierung einleitete. Der Zeitverlust wird dadurch gerechtfertigt, dass Schwarz ebenfalls etliche Tempi für den Springer und den Randbauer verbraucht hat. In glasklarer Reinheit setzte Smyslov nun seine Pläne in die Tat um: 9… Dd8-d7 10. h2-h3 Lg4-e6 11. Sc3-e2. Nach den weiteren Zügen 11… h5-h4 12. g3-g4 f7-f5 13. e4xf5 g6xf5 14. g4-g5 0-0-0 15. Se2xd4 c5xd4 hatte Weiß das Geschehen im Griff: mit 16. Sg1-e2 bereitete er gleichzeitig die kurze Rochade und die Unterminierung des schwarzen Zentrumsbauern mit c2-c3 vor. Smyslov siegte im 38. Zug.
54. Stein – Spassky, Jerewan 1962
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz
Ein äußerst beeindruckendes und schwer zu berechnendes Beispiel für eine Umgruppierung der besonderen Art kreierte der talentierte und viel zu früh verstorbene ukrainische Großmeister Leonid Stein. Offensichtlich ist der schwarze Bauer auf h5 exponiert, doch wie soll Weiß an ihn herankommen? Der einzige Weg bestünde darin, die Diagonale mit einem Springerzug zu räumen, doch danach verliert Weiß zwei Bauern. Stein rechnete aber tiefer und ließ sich genau darauf ein: 25. Sf3-h2!! Ld7xf5 26. e4xf5 Sg6xh4+. Diese Stellung hätte wohl ausgereicht, um 99% aller Spieler von solch einer Variante abzuschrecken. Steins akkurat beurteilte Variante räumte ihm jedoch beträchtlichen Vorteil ein: 27. Kg2-h3! Le7xg5 28. Lc1xg5 Dd8xg5 29. Te1-g1 Dg5-f6
30. Dd1xh5 Sb6xd5 31. Dh5xh4 Sd5-f4+ 32. Kh3-g4 Df6xh4+ 33. Kg4xh4 f7-f6 34. c3-c4!. Spassky musste sich im 43. Zug geschlagen geben.
Wer außer Leonid Stein hätte allerdings in der Diagrammstellung zwei Bauern geopfert und dann noch derart dreist den König ins Getümmel geschickt, um eine Figur zu gewinnen?
Theoretische Neuerungen
55. Timman – Murey, Frankreich 1993
Stellung nach dem 4. Zug von Weiß
Jakov Murey ist kein sonderlich bekannter Spieler, aber mit einer Neuerung im 4. Zug, die auch nach einem Vierteljahrhundert noch als spielbar gilt, bleibt man lange im Gedächtnis! Sein Zug 4… Sb8-c6!? konnte das gebräuchlichere 4… d7-d5 zwar nicht verdrängen, aber selbst heutzutage sieht man den Zug hin und wieder. Die Idee besteht darin, dass Weiß nach
5. Ld3xe4 d7-d5 die Mehrfigur nicht wird behalten können. Frühe Widerlegungsversuche arbeiteten mit dem Ansatz, einen Mehrbauer zu behalten, zum Beispiel nach 6. Ld3xh7. Die meisten dieser Ideen wurden aber inzwischen verworfen, weil sie Schwarz alle gutes Gegenspiel einräumten. Heutzutage gilt 6. Lc1-g5 als bester Versuch, aus dieser Stellung mit Weiß etwas herauszuholen. Gerne hätte ich jedenfalls Timmans Gesicht nach Mureys Zug gesehen!
56. Al Modiahki – Hakki, Teheran 2001
Stellung nach dem 4. Zug von Weiß
Der geistige Urheber des in dieser Partie zu sehenden Konzepts ist nicht ganz geklärt, doch die Idee sollte man sich merken! Schwarz zog hier das irrsinnige 4… Sf6xe4!? und erhielt eine prächtige Stellung nach 5. Sc3xe4 d7-d5, weil Weiß sich offenbar um jeden Preis an das Material klammern wollte. Die Idee des Opfers, die darin besteht, ein erdrückendes Bauernzentrum zu bilden, erweist sich als um so gefährlicher, je gieriger Weiß zu Werke geht. Objektiv besteht ein recht sicherer Weg in 6. Se4-c3 d5-d4 7. Lf1-g2 d4xc3 8. b2xc3, wonach durch Zugumstellung (!) eine Stellung entsteht, die meist in der Diagrammstellung über die Zugfolge 4… d7-d5
5. e4xd5 Sf6xd5 6. Lf1-g2 Sd5xc3 7. b2xc3 mit einem Zugpaar weniger entsteht.
In unserer Partie setzte Weiß jedoch mit 6. Se4-c3 d5-d4 7. Sc3-b5 a7-a6 8. Sb5-a3 fort und ließ sich nach 8… e5-e4 9. Dd1-e2 Lf8xa3 10. b2xa3 0-0 11. Sf3-g1 d4-d3! hinten reindrängen. Nach
12. c2xd3 sehen sowohl 12… Sc6-d4 als auch 12… Dd8-d4 attraktiv aus. Sehr verwickelt ist auch die Variante 7. Sc3-e4 f7-f5 8. Se4-g5 e5-e4 9. Lf1-c4. Genug Raum für Kreativität!
57. Spassky – Fischer, Weltmeisterschaft, 3. Partie, Reykjavik 1972
Stellung nach dem 11. Zug von Weiß
Das nach der kampflos von Fischer verlorenen 2. Partie lange Zeit vom endgültigen Aus bedrohte Match nahm in der 3. Partie Fahrt auf. In dieser Stellung spielte Fischer einen für die damalige Zeit geradezu als anarchisch geltenden Zug: 11… Sf6-h5!. Diesem Moment ist in dem Spielfilm Bauernopfer auch eine Szene gewidmet, in der Spasskys Sekundanten zunächst ungläubig registrierten, was Fischer gerade gezogen hatte – und dann unisono darauf hofften, dass Spassky sicherlich auf h5 nehmen würde. Spassky tat, worauf die Sekundanten hofften: sein Gefolge jubilierte innerlich und verbuchte in Gedanken schon den nächsten Sieg, da die unästhetischen und entwerteten h-Bauern offensichtlich eine solche positionelle Last darzustellen schienen, dass der Ausgang der Partie bereits klar wäre. Allein, nichts von alledem trat dann auch tatsächlich ein: nach den weiteren Zügen 12. Le2xh5 g6xh5 13. Sd2-c4 Sd7-e5
14. Sc4-e3 Dd8-h4 15. Lc1-d2 Se5-g4 16. Se3xg4 h5xg4 war die schwarze Bauernstruktur wieder begradigt und die Euphorie im Lager der Sowjets schon wieder merklich gedämpfter. Als Spassky im 42. Zug aufgeben musste, sank die Stimmung nochmals merklich …
Fischer hatte die Dynamik der Stellung besser eingeschätzt und erkannt, dass Weiß nicht so ohne weiteres die neu geschaffene Schwäche auf h5 würde ausnützen können. Es erhebt sich nur die Frage, wer außer Fischer damals dieselbe Weitsicht an den Tag gelegt hätte …
58. Korchnoi – Moskalenko, Barcelona 2004
Stellung nach dem 7. Zug von Schwarz
Alter schützt vor Neuerungen nicht: in dieser Stellung geschah bisher meist 8. Sc6-e5 Lc8-b7, wonach Weiß nichts Signifikantes erreichen konnte. Viktor Korchnoi, einer der stärksten Spieler aller Zeiten, ließ im zarten Alter von 73 Jahren hier eine Neuerung vom Stapel, die es wahrlich in sich hatte: 8. Sc6-a5!!. Nein, das ist kein Tippfehler! Der sicherlich völlig verdutzte Viktor Moskalenko entschied nach einigem Nachdenken, das Schicksal nicht herauszufordern und lehnte das Opfer, obwohl der dreiste Springer mit Schach geschlagen werden kann, mit 8… Sf6-d5 ab. Nach 9. Lc1-d2 steht der Springer auf a5 aber keineswegs schlecht, da er die natürliche Entwicklung des gegnerischen Läufers nach b7 verhindert. Eine mögliche Fortsetzung für den Fall, dass Schwarz den Springer nimmt, besteht in 8… Db6xa5+ 9. Lc1-d2. Zwei Schwerfiguren hängen nun bei Schwarz, doch nach 9… c4-c3! beginnt der Tanz erst richtig: Schwarz versucht, den Läufer anzulocken, um dann b5-b4 mit Tempogewinn spielen zu können. Weiß kann jedoch 10. b2xc3! spielen, um auf 10… Sf6-d5 11. c3-c4 b5-b4 12. c4xd5 e6xd5 mit dem bizarr anmutenden 13. Sb1-a3! fortsetzen zu können. Die Dame kann den Springer nicht nehmen, ohne die Deckung von d5 aufzugeben und den Turm im Eck seinem Schicksal zu überlassen.
Hut ab vor der kreativen Leistung des Viktor Korchnoi!
59. Svidler – Grischuk, London 2013
Stellung nach dem 12. Zug von Weiß
In dieser Stellung aus der Sämisch-Variante der Königsindischen Verteidigung hauchte der kreative russische Großmeister Alexander Grischuk einer als kritisch für Schwarz geltenden Variante neues Leben ein, als er hier nicht wie erwartet die zuvor schon gespielte Variante
12… Se5-g4 13. Le2xg4 Sf6xg4 14. Dd1xg4 e6xd5 15. f4-f5! d5-d4 16. Sc3-d5 anstrebte, die seit einer Partie Tomashevsky – Ponomariov (Rogaska Slatina 2011) als schlecht für Schwarz galt. Er favorisierte stattdessen das kühne Opfer 12… Se5xc4!!, das auf die rückständige weiße Entwicklung setzt und sich erstaunlicherweise als korrekt herausstellt. Nach 13. Le2xc4 b7-b5!! 14. Lc4xb5 e6xd5 musste Svidler seine ganze Erfahrung und Spielstärke aufbieten, um die Partie remis zu halten! Allen Interessenten sei gesagt: der griechische Eröffnungstheoretiker Vassilios Kotronias widmet diesem Opfer ein ausführlich analysiertes Kapitel in Band 5 seiner Königsindisch-Abhandlung (Quality Chess) und kommt zu dem Ergebnis, dass trotz der Mehrfigur eher Weiß vorsichtig agieren muss!
Verteidigung
60. Kramnik – Kasparov, Novgorod 1997
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz
In einer typisch scharfen Königsindisch-Partie hat Schwarz einen Bauer für Angriffschancen geopfert. Den meisten Spielern wäre hier wohl trotz des materiellen Mehrbesitzes nicht allzu wohl, wenn ihnen auf der anderen Seite des Bretts Kasparov gegenüber sitzen würde. Kramnik hingegen spielte ungerührt den Zug, den die meisten wohl als erstes verworfen hätten. Er ließ hier nämlich mit 25. Sd2-f3!! eine absurde Selbstfesselung zu, weil seine Berechnungen ergaben, dass Schwarz keinerlei Profit daraus schlagen kann, während die übrigen weißem Figuren nun rasch den Weg auf bessere Felder finden. Es ging weiter mit 25… Se7-g6 26. Te1-g1, was ein Scheinopfer in Kamikaze-Manier auf g5 droht. 26… Sg6-e5?? scheitert nun an 27. Sf3xe5!, während die beste Fortsetzung nach 26… Kh7-h8 nicht so leicht zu finden ist: dann stellt das unglaubliche 27. Sb5-c7!! Schwarz vor Probleme, zum Beispiel: 27… Lg4xf3+ 28. Ta3xf3 oder 27… Ta6-b6 28. Sc7-e6!. Am relativ besten war wohl 26… Sg6-h4, worauf 27. Sf3-g5+ zwar zu einem Mehrbauer für Weiß, aber auch zu erheblichen technischen Schwierigkeiten führt. Kasparov wählte stattdessen 26… Lg4xf3+?! und klappte binnen sechs weiterer Züge zusammen.
61. van Wely – Piket, Wijk aan Zee 2001
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz
Aus Sicht von Weiß ist der Kurs für die nächsten Züge klar vorgegeben: nach völlig missratener Eröffnung geht es bereits darum, vorzeitigen Schiffbruch zu vermeiden. Es ist erstaunlich, dass die Findigkeit, die Weiß nun aufbot, ihm nach wenigen Zügen schon eine bessere Stellung einbrachte. Es sei ergänzt, dass Schwarz nicht immer die besten Züge fand, doch das unorthodoxe Spiel des Anziehenden hatte ihn offenbar völlig verunsichert: 15. Sf3-g1! b7-b5!? (ganz gut, aber 15… Sf6-e4! scheint stärker) 16. Sg1-e2 Tf8-b8 17. f2-f3 b5-b4 18. Ke1-f2 b4-b3. Jetzt setzte Weiß mit dem zweiten Rückzug auf die Grundreihe noch einen drauf: der Zug
19. Se2-c1! lud Schwarz ein, auch noch die Qualität zu gewinnen. Nach 19… b3-b2
20. Sc1xd3 b2xa1=D 21. Th1xa1 war die weiße Kompensation aber offenkundig. Das Loch auf c5 und das potentiell starke Läuferpaar machen die kleine Einbuße wett. Weiß gewann im 80. Zug.
Endspiele
62. Karpov – Kasparov, Weltmeisterschaft, 9. Partie, Moskau 1984
Stellung nach dem 46. Zug von Schwarz
Diese Stellung ist fraglos einer der größten Momente der Schachgeschichte. In dem auf sechs Gewinnpartien – bei unbegrenzter Partienanzahl – angelegten WM-Kampf führte Karpov bereits mit 3:0. In dieser neunten Partie hatte Kasparov gerade arglos auf h4 geschlagen und natürlich nur mit dem Wiedernehmen gerechnet, was ihm das Remis gesichert hätte. Karpov zog jedoch das schockierende 47. Se3-g2!!, was ein Bauernopfer anbietet, um dem weißen König ein Einfallstor in die schwarze Stellung zu öffnen. Mit seinem Zug riskiert Karpov natürlich nichts, denn das Remis hat er ohnehin sicher. Es ging weiter mit 47… h4xg3+ 48. Kf2xg3 Kd6-e6
49. Sg2-f4+ Ke6-f5 50. Sf4xh5 Kf5-e6 51. Sh5-f4+ Ke6-d6 52. Kf3-g4 Lb1-c2 53. Kg4-h5 Lc2-d1 54. Kh5-g6. Karpov hatte erreicht, was er wollte: er war dank des temporären Bauernopfers mit dem König zu den gegnerischen Bauern durchgebrochen. Nach beiderseitigen Fehlern gewann Karpov diese Partie im 70. Zug. Damit baute er den Vorsprung auf 4:0 aus, wonach eine ellenlange Remisserie folgte. Nach 27 Partien stand es gar 5:0 für Karpov, doch dann holte Kasparov auf und verkürzte auf 5:3, ehe der WM-Kampf wegen Erschöpfung aller Beteiligten nach 48 Partien von FIDE-Präsident Campopanes in einer bis heute umstrittenen Entscheidung abgebrochen wurde. Kurioserweise rief diese Entscheidung in beiden Lagern Proteste hervor! Den neu angesetzten Kampf mit 24 Partien im Jahr darauf gewann Kasparov, der sich zum jüngsten Weltmeister aller Zeiten krönte.
63. Alburt – Lerner, Kiew 1978
Stellung nach dem 63. Zug von Schwarz
In Springerendspielen kann sich ein Freibauer als besonders starker Trumpf erweisen, weil dieser den gegnerischen Springer zwingt, in seiner Nähe zu bleiben, wenn der König außerhalb des Quadrats steht. In der vorliegenden Stellung scheint bei Schwarz alles in Ordnung zu sein, doch Weiß entdeckte einen unfassbaren Weg, das Geschehen deutlich zu seinen Gunsten zu forcieren: 64. Sb7xc5!!. Nach dem erzwungenen 64… b6xc5 zeigte sich die Pointe: 65. b3-b4!. Weiß will um jeden Preis einen weiteren Freibauer bilden und profitiert dabei auch von dem Umstand, dass der schwarze Bauer auf e5 den eigenen König daran hindert, über dieses Feld ins Geschehen einzugreifen und die Freibauern zu bekämpfen. Die Partie ging weiter mit 65… a5xb4
66. a4-a5 e5-e4 67. a5-a6 Ke3-f2 68. a6-a7 e4-e3 69. a7-a8=D e3-e2 70. Da8-f8! e2-e1=D
71. Df8xf6+ und dem Sieg für Weiß im 80. Zug. Interessant erscheint auch, dass dieselbe Idee in der Ausgangsstellung nicht funktioniert hätte, wenn Weiß stattdessen 64. Sb7xa5? gespielt hätte. In diesem Falle hätte Schwarz das Opfer einfach ablehnen und Ausgleich behalten können. Nach Lev Alburts Zug droht aber entscheidend 65. d6-d7, was den Unterscheid ausmacht.
64. Wang Hao – Carlsen, Biel 2012
Stellung nach dem 46. Zug von Weiß
Vermutlich wähnte sich Wang Hao in dieser Stellung bereits im sicheren Remishafen. Freibauern am Rand sind jedoch von Natur aus die Erzfeinde des Springers, da dieser bei ihrer Bekämpfung mit besonders wenig Bewegungsfreiheit auskommen muss. Das nutzte Magnus Carlsen in diesem Moment aus, indem er 46… Sd7-b6!! zog. Der dreiste schwarze Springer ist leider wegen der Antwort 47… a4-a3 tabu, so dass Carlsen nach 47. Kg2-f2 Sf6-d7 seinen kostbaren Mehrbauer behalten und letztlich zum Sieg im 60. Zug verwerten konnte.
Positionelle Opfer
65. Kasparov – Tschiburdanidse, Baku 1980
Stellung nach dem 16. Zug von Schwarz
Dieses Meisterwerk eines noch jungen Garri Kasparov verdankt seine Berühmtheit vor allem der Entscheidung, die er hier fällte. Er verwarf hier wohl die offenischtliche Variante 17. Lh4-g3 f6-f5! 18. e4xf5 e5-e4! wegen zuviel Gegenspiels für Schwarz und suchte stattdessen nach etwas Besserem. Er wurde prompt fündig und zog hier 17. Sf1-e3!!. Anstatt als Antwort dem vorsichtigen 17… Sf7-h6 nun den Vorzug zu geben, wollte die langjährige Frauenweltmeisterin das Opfer ihres zwei Jahre jüngeren Gegners offensichtlich widerlegen und ließ sich zu dem leichtsinnigen 17… g5xh4? verleiten. Seien wir aber dankbar, dass die Georgierin so spielte, denn zum einen wäre diese Partie sonst nie so bekannt geworden, und zum anderen erleben wir nun ein Lehrbeispiel par excellence für ein positionelles Opfer. Es erfährt seine Rechtfertigung durch die offene g-Linie, die dominante Stellung des weißen Springers auf f5, die Passivität des schwarzfeldrigen Läufers und die schwarze Raumnot, die eine rasche Koordination der Kräfte zur Verteidigung unmöglich macht. Kasparov erwies sich wieder als unerbittlich: 18. Se3-f5 De7-d8 19. Dd1-g4 Sf7-g5 20. Sf5xh4!. Schwarz steht so passiv, dass selbst ein derart langsames Manöver möglich ist. Tschiburdanidse wählte 20… Tc8-c7 21. Sh4-f5 a7-a6 22. h3-h4 Sg5-h7 als Aufstellung, ging aber letztlich nach 23. Th1-g1 Dd8-f8 24. Ke1-e2 an der Passivität ihrer Stellung zugrunde und verlor im 40. Zug.
66. Awerbach – Spassky, Leningrad 1956
Stellung nach dem 16. Zug von Weiß
Der Anfang 2020 älteste noch lebende Großmeister, der sich vor allem als bahnbrechender Endspielanalytiker einen Namen machte, wurde hier mit etwas konfrontiert, das schwer in Worte zu fassen ist: Schwarz zog hier allen Ernstes 16… Sb8-c6?!. Spassky begründete seine Wahl damit, dass er von der Passivität seiner Stellung angewidert war, nach irgendeiner praktischen Ressource suchte und dem Kampfverlauf um jeden Preis eine andere Wendung geben wollte! Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Argumentation nur die allerwenigsten Spieler in dieser Stellung mit Schwarz überzeugen würde, Spasskys Zug zu wiederholen. Taimanov meinte hinterher, er würde sogar noch eher aufgeben als einen solchen Zug zu machen!
Amüsanterweise dachte Awerbach nun fast eine Stunde (!) nach, nahm dann den Springer und konnte die recht verschachtelte Stellung nach 17. d5xc6 b7xc6 18. Sf3-h4 Dd8-e8 tatsächlich nicht zum Gewinn verwerten! Awerbach schlug nun auf g6, während meinem Gefühl nach der Verstoß dieses Bauern Schwarz noch einen „toten“ Läufer auf h8 eingebracht hätte. Allerdings wäre die erstrebenswerte Linieöffnung danach noch schwerer zu errreichen gewesen.
Vielleicht auch bedingt durch den Remisschluss im 73. Zug setzte der bekannte niederländische Schachjournalist Tim Krabbé Boris Spasskys „Einsteller“ auf Platz 1 seiner amüsanten Liste mit den 110 fantastischsten Schachzügen aller Zeiten.
67. Euwe – Aljechin, Weltmeisterschaftskampf, 26. Partie, Zandvoort 1935
Stellung nach dem 20. Zug von Schwarz
Die 26. Partie ging als die berühmteste Partie des WM-Matches von 1935 und als die sogenannte „Perle von Zandvoort“ in die Schachgeschichte ein. Herausforderer Euwe leitete hier mittels eines Figurenopfers eine bekannte Stellungstransformation ein, deren Ziel darin bestand, eine beeindruckende Bauernkette zu bilden. Es geschah: 21. Se3xf5!! Lf6xc3 22. Sf5xd6 Dc8-b8
23. Sd6xe4 Lc3-f6 24. Se4-d2. Nach vier aufeinander folgenden Zügen des Springers droht die weiße Bauernlawine, sich mit e2-e4 in Bewegung zu setzen. Aljechin erkannte die Gefahr und antwortete stark mit 24… g7-g5!, verlor die Partie aber nach 25. e2-e4 im 47. Zug trotzdem.
68. Anand – Wang Hao, Wijk aan Zee 2011
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
In dieser Stellung zauberte der indische Superstar Vishy Anand einen Neuerung aufs Brett, die einerseits faszinierend, aber andererseits zugleich sehr logisch erscheint. In dieser Variante des Nimzoinders nimmt Weiß zersplitterte Bauern in Kauf – in der Hoffnung, die Stellung dadurch für das Läuferpaar zu öffnen und dem Gegner den Rückgewinn des vorübergehend geopferten Bauern zu erschweren. Anand erkannte wohl während seiner Vorbereitung, dass es dem weißen Springer auch langfristig an vernünftigen Optionen mangeln würde – deshalb opferte er ihn einfach mit 16. Se2-d4!!, um eine Begradigung seiner beschädigten Bauernstruktur zu erzwingen. Vielleicht ließ sich Anand auch von Euwes Vorbild leiten, auch wenn die erstrebenswerte Bauernstruktur hier auf eine ganz andere Art und Weise erzeugt wird. Die kleine materielle Einbuße (Springer gegen zwei Bauern) wird durch die gewaltige Kraft der im Zentrum entstehenden und schwer aufzuhaltenden Bauernlawine kompensiert werden. Außerdem stehen die schwarzen Figuren plötzlich versprengt und unkoordiniert, was durch die Fortsetzung der Partie untermauert wurde: 16… e5xd4 17. c3xd4 Sb8-c6 18. Db4-c3 Sc6-e7 19. Tf1-d1 Ta8-d8
20. Le3-f2! a7-a6 21. Lf2-g3! Dc7-c8 22. Lb5-f1 b7-b6 23. Ta1-b1! Sa5-b3 24. Tb1xb3 Le6xb3
25. Dc3xb3 b6xc5 26. d4-d5. Nun steht der weiße Vorteil außer Zweifel. Anand siegte und erntete somit die Früchte seiner Neuerung verdient im 33. Zug.
69. Spassky – Petrosian, Weltmeisterschaftskampf, 7. Partie, Moskau 1966
Stellung nach dem 24. Zug von Weiß
Wahrscheinlich gab es keinen anderen Weltmeister in der Schachgeschichte als Tigran Petrosian, der häufiger zum strategischen Mittel des Qualitätsopfers griff. Ein geradezu ikonisches Beispiel, das angesichts der großen Bühne seinerzeit die Aufmerksamkeit der gesamten Schachwelt auf sich zog, finden wir hier. Wahrscheinlich zögerte Petrosian hier nicht sonderlich lange, ohne Vorbehalte mit 24… Sd7xe5! die Qualität zu opfern – die Gegenwerte, die Schwarz dafür erlangt, sind einfach zu überwältigend. Der weitere Verlauf dieser berühmten Partie bestätigte Petrosians untadelige Einschätzung voll und ganz: 25. Sh2xg4 h5xg4 26. e3-e4 Le7-d6 27. Dd2-e3 Se5-d7 28. Lf4xd6 Dc7xd6 29. Td1-d4 e6-e5 30. Td4-d2 f7-f5!. Die begradigte Bauernmasse wird immer beweglicher, und der im Hintergrund lauernde Läufer auf b7 stellt eine furchtbare Kraft dar. Nach 31. e4xd5 f5-f4 32. De3-e4 Sd7-f6 33. De4-f5+ Kc8-b8 34. f2-f3 Lb7-c8 35. Df5-b1 g4-g3 war das Ende für Weiß, das im 43. Zug eintrat, schon bedrohlich nahe.
70. Kramnik – Aronian, Schacholympiade, Istanbul 2012
Stellung nach dem 22. Zug von Schwarz
Das Arsenal heutiger Spieler beinhaltet eine Vielzahl von Spielweisen und Ideen, die allerdings zu einem großen Teil auf die Leistungen der Strategen vergangener Tage zurückgehen. Ein aufsehenerregender Sieg gelang Vladimir Kramnik bei der Olympiade in Istanbul, als er mit einem positionellen Opfer einen starken Gegner scheinbar mühelos überrollen konnte. Da es sich kein moderner Meister heutzutage erlauben kann, nicht mit dem klassischen Erbe vertraut zu sein, fiel Kramniks Zug 24. Sa5xb7!! sicherlich sofort in die engere Wahl an Kandidatenzügen. Die vorangegangene Beispiele hatten ja aufgezeigt, welche Kraft Freibauern erlangen können, wenn es den gegnerischen Kräften an Koordination mangelt. Dies ist auch hier der Fall, denn nach
24… Tc7xb7 25. Dd3xa6 hatte Weiß zwar nur zwei Bauern für die Figur, doch die nervige Fesselung des schwarzen Springers macht die Bekämpfung der Freibauern sehr schwierig. Nach 25… Tb7-c7 26. b2-b4 Dd6-d7 27. Da6-b6 Dd7-e8 28. b4-b5 Sc6xd4 29. Tc2xc7 Sd4-e2+ schien Schwarz eine rettende Ausrede gefunden zu haben, doch nach dem einfachen 30. Kg1-h1 Se2xc1 31. Tc7xc8 De8xc8 32. Db6-c6! hätte Schwarz aufgeben können – er tat dies drei Züge später.
71. Kempinski – Postny, Kallithea 2009
Stellung nach dem 9. Zug von Schwarz
Einen höchst ungewöhnlichen und sehenswerten Fall eines positionellen Springeropfers erleben wir hier. Weiß opferte – für seinen Gegner wohl vollkommen überraschend – hier mit 10. Se5xf7!! eine Figur. Nach 10… Ke8xf7 11. Dd1-f3 stand Schwarz am Scheideweg: er kann hier 10… e7-e6 ziehen und gibt die Figur nach 11. g2-g4 Dd8-f6 wieder zurück. In diesem Fall hätte Schwarz bei materiellem Gleichstand stets mit dem unglücklich stehenden König auf f7 zu kämpfen, wonach die Stellung natürlich spielbar, aber unangenehm bliebe. Er kann auch stattdessen die Fesselung abschütteln und den Läufer mit dem König decken. Dabei scheidet 10… Kf7-g6? wegen 11. g2-g4 Lf5-c2 12. Ke1-d2! rasch aus, so dass nur 10… Kf7-e6 übrig bleibt, was Postny in der Partie auch tatsächlich spielte. Der Versuch, den weißen Angriff zu widerlegen, muss als riskant – wenn nicht gar unvernünftig – bezeichnet werden. Darauf ging es weiter mit 11. g2-g4 Lf5-g6 12. g4-g5 Lg6-f5 13. Lf1-g2!. Die Pointe, die Schwarz vermutlich übersehen hatte, bestand darin, dass nun ein zweizügiges Matt, beginnend mit dem Damenopfer auf d5, droht! Da dieser Bauer nur durch den Abzug des Springers auf d7 gedeckt werden kann, hat Schwarz nun ein Problem: da dem Springer kein einziges sicheres Feld (!) zur Verfügung steht, musste Postny den Rappen nun mit 13… Sd7xc5 zu wesentlichen schlechteren Konditionen zurückgeben als wenn er zuvor seinen gefesselten Läufer mit 10… e7-e6 gedeckt hätte. Schwarz verlor nach 14. d4xc5 im 31. Zug.
72. Topalov – Anand, Sofia 2005
Stellung nach dem 13. Zug von Schwarz
Jeder Anfänger lernt schnell, dass der Punkt f7 zu Beginn einer Partie nur vom König gedeckt wird und der Blitz auf diesem Feld daher besonders häufig einschlägt. Statisch gesehen ist diese Bauernweisheit allerdings häufiger zutreffend für die Offenen Spiele, die mit 1. e2-e4 e7-e5 eröffnet werden. In dieser Stellung hingegen, die aus einem Dameninder hervorging, droht Schwarz scheinbar keine nennenswerte Gefahr. Dennoch opferte Topalov hier mit 14. Sg5xf7!! eine ganze Figur und baute einen scheinbar langsamen, aber dennoch gefährlichen Angriff auf, der hauptsächlich deshalb so gut funktioniert, weil die unentwickelten schwarzen Kräfte am Damenflügel sehr lange brauchen, um zum Königsflügel überführt zu werden. Nach 14… Ke8xf7 folgte in den nächsten Zügen nicht einmal eines der offensichtlichen Schachgebote – was die Berechnung erheblich erschwert: 15. 0-0-0! Le7-d6 16. Sf3-h4! Lb7-c8 17. Td1-e1 Sb8-a6. Nun packte Topalov den weiteren Hammer 18. Te1-e6!! aus. Die Annahme des Opfers würde sämtliche weißen Felder katastrophal schwächen, zumal auch noch der Springer am Brettrand danach hinge. Anand zog daher 18… Sa6-b4, doch selbst nach 19. Ld2xb4 c5xb4 folgte noch immer kein Schach! Topalov wählte 20. Lf1-c4! und gewann diese hochkomplexe Partie, deren Analyse mühelos ganze Seiten füllen würde, im 52. Zug. Wen eine genaue Analyse interessiert, den verweise ich exemplarisch auf Simon Williams‘ How to Crush Your Opponents.
Besonders beeindruckend an diesem Opfer war die langfristige Konzeption, da es nicht forciert gewinnt und die entstehenden Komplikationen am Brett unmöglich in allen Details zu erfassen waren. In einer gesunden Mischung aus Risikobereitschaft und Berechnung entschied sich der Bulgare wohl auch deshalb für das Opfer, weil die Alternativen zahnlos erschienen.
73. Smyslov – Kotov, Moskau 1943
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
In einer Zeit, als das Internet und Datenbanken noch nicht für den raschen Austausch von Informationen sorgten, waren die kreativen Leistungen der Meister, die Konzepte ohne die Hilfe starker Engines ausarbeiteten, noch höher zu bewerten. Vasily Smyslov spielte hier einen Zug, der in den Augen moderner Spieler für geschlossene Strukturen – wie sie im Spanier oder Königsindischen Angriff häufig vorkommen – exemplarisch ist. Zu jener Zeit musste Smyslovs Konzept hingegen einfach als bahnbrechend angesehen werden: nach 24. Sg3-f5!! entsteht durch die erzwungene Annahme des Opfers eine typische Situation, in der Schwarz mit der Verteidigung erhebliche Schwierigkeiten hat. Nach 24… g6xf5 25. g4xf5 besteht die typische weiße Kompensation in der geöffneten g-Linie, der geschwächten Felder um den schwarzen König und der passiven Stellung des Läufers auf g7. Außerdem hat Schwarz aufgrund der blockierten Struktur im Zentrum kein rasches Gegenspiel und muss sich ausschließlich auf die Verteidigung beschränken, wobei die Beengtheit seiner Stellung diese Aufgabe noch zusätzlich erschwert. Kotov organisierte die auf einer Königsflucht basierende Verteidigung mit 25… Se6-c7 26. Tf1-g1 Sc7-e8 27. Tg1-g6 Tf8-f7, doch nach 28. Tb1-g1! Kh7-g8 29. Tg6xh6 Kg8-f8 30. Th6-h7 ließ Smyslov nicht locker: 30… Kf8-e7 31. Dh3-h5 Ke7-d6 32. Ld2-f4+ Sc6-e5 33. Lf4xe5+ f6xe5 34. f5-f6!!. Schwarz verliert nun Material nach 34… Se8xf6 35. Dh5xe5+ Kd6-c6 36. Th7xg7! und hätte hier bereits getrost aufgeben können, was er im 42. Zug nachholte.
Das typische positionelle Übergewicht, das durch die Annahme eines solchen Opfers entsteht, bietet häufig auch in weniger eindeutigen Fällen als dem vorliegenden gute Kompensation. Die Idee hinter diesem Zug, das als „Enteropfer“ in die Schachliteratur Eingang fand, sollte man sich daher unbedingt einprägen. Wer die Klassiker studiert, dem sollte das nicht schwerfallen!
74. Sutovsky – Smirin, Tel Aviv 2002
Stellung nach dem 13. Zug von Schwarz
Dieses Beispiel hätte vermutlich auch gut in die Rubrik „Angriffsideen“ gepasst. Ilya Smirin hatte gerade versucht, seinen Bauer b5 gegen den weißen auf d5 einzutauschen, worauf weitere Vereinfachungen folgen würden. Sutovsky spielte dabei jedoch nicht mit, steckte mit 14. Sh4-f5!! eine ganze Figur ins Geschäft und spekulierte auf starken Angriff. Dabei kommen ihm die beengte schwarze Position und die Abseitsstellung des Rappen auf a5 sehr zupass, denn nach 14… b5xc4 wurde konsequenterweise der Bauernschutz des schwarzen Monarchen mit 15. Lf4xh6 zertrümmert. Nach 15… g7xh6 16. Sf5xh6+ Kg8-h7 kehrte der Springer einfach mit 17. Sh6-f5 (nicht 17. Tf1xf6? Le7xf6 18. Dd1-h5 wegen des diabolischen 18… Tf8-h8!!) ins Basislager zurück. Die unangefochtene Stellung, die er dort einnimmt, macht die Verteidigung unangenehm, aber nicht aussichtslos. Nach etwa 17… Tf8-g8 18. Dd1-e1 wäre die Stellung immer noch kompliziert und mindestens spielbar für Schwarz geblieben. Nach 17… c4xd3? hingegen ging es rasch bergab mit Schwarz. Nach 18. Dd1xd3 Kh7-h8 gedachte Schwarz wohl, alle Schachgebote auf der h-Linie mit dem Springer zu blocken, doch so einfach liegen die Dinge nicht wirklich: 19. Ta1-e1 Dd8-b6 20. Dd3-h3+ Sf6-h7 21. Te1xe7 gab Weiß eine Gewinnstellung, da er materiell nur noch minimal im Hintertreffen ist, die schwarze Mehrfigur auf a5 sich als bedeutunglos entpuppt und es dem schwarzen Monarchen an Verteidigern mangelt. Nach 21… c5-c4+ 22. Kg1-h1 Db6xb2 folgte ein würdiger Schluss: 23. Te7-e4 Tf8-g8 24. Dh3xh7+!! mit Matt in sechs Zügen.
Selbst wenn der Angriff nicht zwingend durchschlagen musste, so ist Garri Kasparovs Spruch, dass ein weißer Springer auf f5 im Mittelspiel fast immer ein Bauernopfer rechtfertigt, zutreffend. Hier hingegen war es sogar eine ganze Figur!
75. Tal – Larsen, Kandidatenhalbfinale, 10. Partie, Bled 1965
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
In dieser letzten Partie des Kandidatenhalbfinales stand angesichts des Spielstands von 4,5:4,5 viel auf dem Spiel. Das hielt Tat jedoch nicht davon ab, auch in einer solchen Situation ein großes Risiko einzugehen und mit 16. Sc3-d5!! ein positionelles Opfer anzubieten. Bereits nach 16… e6xd5 17. e4xd5 stellte sich eine wichtige Frage für Larsen: sollte er den Drohungen gegen h7 mit dem f-Bauer oder dem g-Bauer begegnen? Das Wesen von Tals Opfer, das eine Art Barriere vom Damenflügel zum Königsflügel errichtet und die e-Linie eröffnet, ist so komplex, dass selbst mit Hilfe modernster Engines bis heute kein endgültiges Urteil über diese Frage gefällt wurde. Dieser Fakt belegt andererseits nur, wie schwierig es war, Tals Opfern am Brett zu begegnen. Larsen wählte 17… f7-f5 18. Td1-e1 Tf8-f7 19. h2-h4 und sah sich einem Angriff ausgesetzt, dessen Stärke vor allem auf der raschen Mobilisierung der weißen Kräfte und der schlechten Korrdination der schwarzen Armee beruht. Dass all dies jedoch eine ganze Figur wert sein soll, hätten zu jener Zeit außer Tal nicht viele so eingeschätzt. Tal setzte sich in dieser unglaublich komplizierten Partie letztlich im 37. Zug durch, gewann das Match, erreichte das Kandidatenfinale und unterlag dort später Boris Spassky recht deutlich.
76. Carlsen – Caruana, Biel 2011
Stellung nach dem 18. Zug von Schwarz
In dieser nicht allzu attraktiv wirkenden Stellung ließ der norwegische Ausnahmespieler ein Qualitätsopfer vom Stapel, dessen Tiefe so schwer zu durchschauen ist, dass selbst die stärksten Engines erst mit der weiteren Entwicklung der Partie anerkennen, wie stark Carlsens Konzept tatsächlich ist. Nach 19. Se2-d4!! La6xf1 20. Kg1xf1 Sd5-b6 21. Sd4xc6 Tf8-e8 22. a3-a4!! wurde der weiße Plan allmählich deutlich: da das Schlagen des kecken Bauern an 23. Sc6-e7+! scheitern würde, muss Schwarz eine ungelenke Stellung mit jeder Menge Felderschwächen zulassen. Caruana setzte mit 22… Kg8-f8 23. a4-a5 Sb6-c4 fort und hätte nun nach 24. Ld2-c3 massive Probleme bekommen, da der verirrte schwarze Springer auf c4 in großer Gefahr schwebt. Doch selbst das etwas schwächere 24. Ld2-c1 genügte Carlsen, um diese Partie später zu gewinnen.
77. de Labourdonnais – McDonnell, 4. Match, 4. Partie, London 1834
Stellung nach dem 13. Zug von Weiß
In der Ära des romantischen Schachs wurden oft Bauern oder Figuren für Angriff geopfert. Deren Ablehnung galt meist sogar als unhöflich. Der größte Unterschied in der praktischen Spielstärke zu den damaligen Meistern liegt heute vor allem in der erheblich besser geleiteten Verteidigung, die damals auf einem geradezu als erbärmlich zu bezeichnendem Niveau geführt wurde. Umso erstaunlicher mutet diese Partie an, in der Schwarz für langfristige positionelle Vorteile und Angriffschancen ein Damenopfer mit 13… Sf6xd5!! spielte, das sehr modern anmutet und auch heutigen Meistern gut zu Gesicht stehen würde. Nach 14. Lg5xe7 Sd5-e3+ 15. Kf1-e1 Ke8xe7 hatte Schwarz zwar nur zwei Figuren für die Dame, doch der Wert des Monsterspringers auf e3 ist offensichtlich weit höher als der einer durchschnittlichen Leichtfigur. Nach 16. De2-d3 Th8-d8 17. Td1-d2 Sb8-c6 hatte Schwarz sehr gute Kompensation erlangt und gewann diese berühmte Partie im 36. Zug tatsächlich!
78. Spassky – Bronstein, Amsterdam 1956
Stellung nach dem 9. Zug von Weiß
David Bronstein war einer der kreativsten Spieler in der Geschichte des Schachs. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viel Energie und Zeit notwendig waren, um in der Ära ohne Computer ein solch verwegenes Konzept wie er es hier aufs Brett zauberte auszuarbeiten. Er zog hier völlig unbedarft 9… Sh5xg3!! und setzte nach 10. Dd2-f2 mit 10… Sg3xf1 11. Df2xh4 Sf1xe3 fort. Wegen der Gabeldrohung auf c2 wird Weiß noch einen Bauern verlieren, so dass Schwarz nahezu gleiches Material besitzt und Weiß die Rochade verwehrt wird. Spassky, mit einem völlig neuen und unfassbaren Konzept konfrontiert, setzte nun mit 12. Ke1-f2 fort. Die heutige Theorie bevorzugt 12. Ke1-e2, hält das schwarze Konzept aber immer noch für spielbar. Doch auch wenn Bronstein später im 46. Zug verlor, so ziehe ich den Hut vor dem scheinbar unerschöpflichen Quell an Ideen, die wir diesem Ausnahmespieler zu verdanken haben. Wer sonst hätte ein derart kühnes Unterfangen nicht nur ausarbeiten können, sondern es auch auf dem Brett riskiert?
79. Bobozov – Tal, Varna 1958
Stellung nach dem 11. Zug von Weiß
Vermutlich war Weiß nach seinem letzten Zug 11. Sc3-d5 davon ausgegangen, dass die Antwort 11… Da5-d8 erzwungen war. Tal hatte jedoch andere Pläne und konfrontierte seinen sicherlich überraschten Gegner mit dem positionellen Damenopfer 11… Sf6xd5!!. Das Damenopfer musste Weiß nicht annehmen, doch die Verlockung, gegen nur zwei Figuren die feindliche Königin zu gewinnen, war wohl zu groß. Nach 12. Dd2xa5 Sd5xe3 13. Td1-c1 Se3xc4 14. Tc1xc4 d5xc4 hatte Schwarz schon fleißig eingesammelt und konnte auch nach 15. Se2-c1 Ta8-b8 die Initiative festhalten. Beide Seiten spielten lange recht gute Züge, ehe in Zeitnot der schwarze Angriff zu mächtig wurde. Tal siegte im 30. Zug.
80. Nielsen – Larsen, Kopenhagen 1965
Stellung nach dem 9. Zug von Weiß
Kaum weniger risikofreudig am Brett agierte der dänische Großmeister Bent Larsen, der einem scharfen Scharmützel praktisch nie aus dem Wege ging. Die Ähnlichkeit mit dem vorigen Diagramm ist offenkundig – und auch hier funktioniert das Opfer 9… Sf6xd5!!, dem ein Bent Larsen einfach nicht widerstehen konnte. Mit etwas Umsicht hätte Weiß natürlich auch auf d5 zurücknehmen können, doch auch Larsens Gegner wollte offenbar den Beweis antreten, dass das Damenopfer inkorrekt ist. Nach 10. Dd2xa5 Sd5xe3 11. Da5-d2 c5xd4 12. Se2-f4 Sd7-b6
13. Sf4-d5 Sb6xd5 14. c4xd5 f7-f5 15. Lf1-d3 f5xe4 16. Ld3xe4 e7-e6 17. Ta1-c1 e6xd5 erlangte Larsen trotz des entstandenen Tripelbauern sehr schöne Kompensation. Insbesondere der Krake auf e3 erweist sich als echter Stachel im Fleisch. Larsen siegte im 29. Zug. Solche langfristigen Damenopfer, bei denen eine Seite zugunsten einer nachhaltigen Initiative große materielle Einbußen hinnimmt, beeindrucken besonders, wenn das Opfer nicht zwingend durchschlägt, sondern Teil eines langfristigen Plans ist.
81. Riazantsev – Nevostrujev, Krasnodar 2002
Stellung nach dem 11. Zug von Weiß
In dieser kaum bekannten, aber unbedingt sehenswerten Partie von der Russischen Meisterschaft im Jahre 2002 rechnete Weiß hier sicherlich nur mit dem naheliegenden Damentausch. Er wurde jedoch kalt erwischt von dem völlig unvorhergesehenen Opfer 11… Sf6xe4!! 12. Dd2xa5 Lg7xb2!. Nun hängen zwei weiße Figuren direkt, doch die schlimmste Drohung lauert natürlich auf c3. Nach 13. Sg1-e2 Lb2xa1 14. Lg5-h6 gab Schwarz mit 14… Lc8xa6! auch noch den Turm preis! Der Wirbelwind nach 15. Lh6xf8 Sb8-c6 16. Da5-c7 Sc6-b4 17. Lf8-h6 La1-e5! war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Weiß unterlag im 22. Zug. Was für ein phänomenales Opfer!
82. Smyslov – Liberzon, Riga 1968
Stellung nach dem 26. Zug von Schwarz
In dieser komplexen Stellung hat Schwarz zwar nur zwei Bauern für eine Figur, wird aber demnächst eine Qualität gewinnen und scheinbar ganz ordentlich stehen. Der Exweltmeister heckte hier jedoch einen Plan aus, der ein positionelles Damenopfer beinhaltet: 27. Sd4xf5!!. Was die Einschätzung des Opfers so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Schwarz natürlich nicht sofort die Dame nehmen muss. In der Tat würde Schwarz nach 27… Ld5xb3 28. Lb2xg7+ Kh8-g8 29. Sc6xe7+ Te8xe7 30. Lg7xf8 Kg8xf8 31. Ta1-a8+ einfach zuviel Material verlieren. In der Partie folgte daher 27… Tf8xf5 28. Lb2xg7+. Nun galt es aber unbedingt die Antwort 28… Kh8-g8 vorauszusehen – für Smyslov wohl kein allzu großes Problem, denn das Schlagen des Läufers (28… Kh8xg7) würde 29. Db3-c3+ Kg7-g8 30. Tf3xf5 Dd7xf5 31. e3-e4! Ld5xe4 32. Lg2xe4 Df5xe4 33. Ta1-e1 gestatten. Die Partie wurde also nach 28… Kh8-g8 fortgesetzt mit 29. Tf3xf5!! Ld5xb3 30. Tf5xg5 Se7-g6 31. Lg7-h6!. Nach der indirekten Deckung von e3 entschied sich Liberzon für 31… Dd7-e6 und wurde dann von 32. h2-h4! überrascht. Nach dem erzwungenen 32… De6xe3+ 33. Kg1-h2 De3-c3 34. Ta1-f1 verwertete Smyslov seinen Vorteil bald.
Der stets bescheiden gebliebene Exweltmeister Vasily Smyslov spielte hier vielleicht die Kombination seines Lebens, denn die unwiderstehliche Mischung aus gnadenlos guter Berechnung und Stellungsgefühl macht gehörigen Eindruck.
83. Hort – Alburt, Decin 1977
Stellung nach dem 16. Zug von Weiß
In dieser Stellung wäre wohl niemand überrascht gewesen, wenn Schwarz hier 16… e7-e6 gezogen hätte. Lev Alburt hatte jedoch ganz andere Pläne: er zog hier 16… Sd5-c3!! und opferte seine Dame für einiges an Material und insbesondere für große positionelle Vorteile, die auf der Dominanz seiner glänzenden Läufer und dem tief ins Feindesland eingedrungenen Springer beruhen. Nach 17. Lg2xb7 La6xb7 18. Dd1-d3 Lb7-e4 19. Dd3-e3 Lg7-d4 20. De3-h6 Le4xb1 hatte Schwarz spürbare Trümpfe in der Hand. Die folgenden Züge 21. a2-a3 Lb1-a2 22. Sf1-d2 Tf8-b8 23. b3-b4 c5xb4 24. a3xb4 Tb8xb4 manifestierten die weiße Hilflosigkeit. Hort verlor im 37. Zug.
84. Kramnik – Kasparov, Blitzpartie, München 1994
Stellung nach dem 12. Zug von Weiß
Garri Kasparovs überragendes Stellungsverständnis gestattete ihm sogar, selbst in einer Blitzpartie ein positionelles Damenopfer vom Feinsten zu versuchen: er entschied sich hier für 12… Sf6xe4!! 13. Lh4xd8 Se4xc3 14. Dd1-e1 Tf8xd8 und hatte nur zwei Figuren und einen Bauer als materiellen Gegenwert. Die verknotete Stellung der weißen Figuren, der zum Leben erwachende Läufer auf g7 und der unwahrscheinlich stark stehende Springer auf c3 werden Kramnik jedoch weitere Zugeständnisse abringen. Kasparov gewann diese sensationelle Blitzpartie im 39. Zug. Für Details siehe auch Stohls Kasparovs beste Schachpartien (Band 2).
85. Ider – Hou Yifan, Gibraltar 2017
Stellung nach dem 15. Zug von Weiß
Auch auf Frauen übt die Idee eines positionellen Damenopfers gleichermaßen eine große Faszination aus. Hier zog die aktuelle Nummer 1 der Frauen-Weltrangliste 15… Sf6xd5!!, weil sie das kommende Opfer akkurat eingeschätzt hatte. Nach 16. Sg5-e6 Sd5xc3 17. Se6xd8 Sc3xe2+ 18. Dc2xe2 Lb7-f3! hatte Schwarz vorerst nur zwei Figuren und einen Bauer für die Dame, doch die geschwächte weiße Königsfestung und der wie ein Stachel im Fleisch sitzende Läufer auf f3 liefern Schwarz weitere gewichtige Argumente für das Damenopfer. Die Chinesin führte die Partie im 52. Zug tatsächlich zum Sieg.
86. Mchedlishvili – Rathnakaran, Goa 2019
Stellung nach dem 8. Zug von Weiß
Als Internationaler Meister hat man es nicht leicht: kein Mensch außer dem nächsten Gegner interesssiert sich für die eigenen Partien. Vielleicht wollte der indische IM Kantholi Rathnakaran mit einer Zahl von etwas über 2300 daran etwas ändern und präsentierte hier dem weit überlegenen, ca. 300 Punkte höher eingeschätzten, georgischen Großmeister Mikhael Mchedlishvili einen Geniestreich, der ihm in der Schachwelt schlagartig weltweite Bekanntheit einbrachte. Er spielte hier das unerhörte 8… Sf6xd5!! und zwang seinen illustren Kontrahenten mit diesem spektakulären Damenopfer umgehend aus seiner Komfortzone. Nach den weiteren Zügen 9. Lg5xd8 Sd5xc3 10. Dd1-b3 Sc3xe2+! 11. Ke1-d1 Se2xd4 entstand eine faszinierende Schlacht, in der das Geschehen lange unklar blieb. Der nominell überlegene Georgier wollte die Partie später jedoch ohne ausreichende Rechtfertigung in ausgeglichener Stellung gewinnen, überzog die Position und unterlag tatsächlich im 47. Zug. So ging Rathnakarans Husarenritt unglaublich schnell viral um die ganze Welt und seine Bekanntheit sprunghaft nach oben. Etwas Vergleichbares ist ihm allerdings seither nicht mehr gelungen …
87. Ashley – Weeramantry, New York 1991
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
Schach ist ein Sport, der wie kaum ein anderer unterschiedlichste Kulturen leicht zusammenbringen kann. In diesem Duell aus dem Open in New York trafen der damals noch unbekannte gebürtige Jamaikaner Maurice Ashley, der später Großmeister wurde und heute für ChessBase Online-Lektionen anbietet, sowie der aus Sri Lanka stammende FIDE-Meister Sunil Weeramantry aufeinander. Es muss schon etwas Außergewöhnliches in einer Partie passieren, dass man so einem Duell überhaupt irgendein Maß an Beachtung schenkt. Genau dies war der Fall, als Ashley hier spektakulär seine Dame mit 16. Se3xf5!! zum Opfer darbot. Schwarz musste das Opfer natürlich nicht annehmen, doch wer kann schon der Versuchung, die gegnerische Dame zu einem recht geringen Preis zu erobern, widerstehen? Die Partie wurde also fortgesetzt mit 16… Sc4xd2 17. Sf5xg7+ Ke8-d7 18. e5-e6+! – eine notwendige Maßnahme, um die Flucht des auf g7 gestrandeten Springers zu ermöglichen. Schwarz entschied sich für 18… Kd7-c8 und ließ somit 19. e6xf7 zu, um den eigenen Rappen auf d2 aus dem feindlichen Lager zu retten. Nach 19… Sd2-c4 20. Sg7-e6 Dd8-a5+ 21. Ke1-f2 entstand eine faszinierende Schlacht, die Ashley im 30. Zug überzeugend gewann.
Frei schwebende Springer
88. Brown – Gibbs, London 1918
Stellung nach dem 13. Zug von Schwarz
Springer haben die Eigenschaft, wie keine andere Figur auf Felder zu ziehen, die der Gegner deckt und auf denen sich nicht einmal ein feindlicher Stein befindet. Ein Beispiel dafür aus der Zeit des 1. Weltkriegs sehen wir hier: Weiß spielte hier überraschend 14. Sf3xe5!! und offenbarte nach 14… Lg4xe2 seine Pointe: 15. Se5-d7!!. Der frei schwebende Springer sorgt dafür, dass Schwarz, was auch immer er tut, unvermeidlich auf f6 matt gesetzt werden wird.
89. Korchmar – Poliak, Ukraine 1937
Stellung nach dem 18. Zug von Schwarz
In dieser viel zu wenig bekannten Partie, die den Beinamen „Ukrainische Unsterbliche“ trägt, spielte Weiß als Einleitung einer unsterblichen Kombination das sinnfrei anmutende 19. Sd5-b4!!. Erstaunlicherweise ist der Nachziehende jetzt aber verloren – ganz gleich, was er unternimmt. Ob Schwarz die Kombination bewusst zuließ oder übersah, ist nicht bekannt. Jedenfalls griff Schwarz mit 19… a5xb4 zu, worauf die Keule 20. Dd4xd6!! folgte. Vielleicht hoffte Schwarz auch darauf, den Ansturm nach 20… Df5-d7 abwehren zu können, doch die Fortsetzung 21. Dd6-d5!! Kg8-f8 22. Tg3xg7!! Dd7xd5 23. Tg7-g8+!! zerstreute alle Zweifel. Was für eine grandiose Kombination!
90. Oren – Dyner, Tel Aviv 1952
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
Schwarz hat im Moment zwei Figuren weniger, doch es scheint dennoch nicht so schlecht für ihn auszusehen: der hängende Springer auf g4 droht allerlei Unheil anzurichten, wenn Weiß das Schachgebot mit einem Königszug beantwortet. Was soll Weiß allerdings sonst tun? Er spielte hier stattdessen das völlig absurd anmutende 24. Sa4-b6!!, wonach Schwarz aufgab! Hätte Schwarz weitergespielt, dann wäre ihm nur – wie leicht festzustellen – 24… Da7xb6+ als Antwort geblieben. Darauf zieht Weiß jedoch 25. Dd1-d4+!! und profitiert nun von dem Umstand, dass das Springeropfer im Zug zuvor die Dame auf die b-Linie lenkte und der schwarze Turm somit nun gefesselt ist. Wie auch immer Schwarz antworten würde – er verbleibt in aussichtsloser Stellung mit einer Minusfigur, weshalb die Aufgabe vollkommen gerechtfertigt war.
91. Harikrishna – So, Guangzhou 2010
Stellung nach dem 21. Zug von Schwarz
Vermutlich rätselte Wesley So in dieser Stellung immer noch, was seinen Gegner bewogen hatte, diese scheinbar wenig erstrebenswerte Stellung absichtlich anzusteuern. Er sollte die Antwort bekommen: der indische Großmeister zog hier das fantastische 22. Sf7-d6!!, was nicht weniger als drei Schlagmöglichkeiten zulässt. Man fragt sich unwillkürlich, wer diesen überwältigenden Zug im Voraus hätte sehen können, wenn selbst ein Elitegroßmeister von diesem Kaliber ihn nicht erspähte. Nach der erzwungenen Folge 22… Dd7xd6 23. De2-b5! büßte Schwarz entscheidendes Material ein und unterlag acht Züge später.
92. Giri – Aronian, Wijk aan Zee 2012
Stellung nach dem 41. Zug von Weiß
Es wäre in dieser Stellung schlecht um Levon Aronjan bestellt, wenn er nicht die folgende Abwicklung bereits lange im Voraus erspäht hätte: 41… Sf3-e1!!. Dieser Zug verblüffte auch viele der kommentierenden Großmeister (zumindest, sofern sie die Engines ausgeschaltet hatten!). Die wüste Drohung auf d3 ist kaum abzuwehren, zumal das Schlagen des Bauern auf d5 mit Schach einen Läuferspieß auf den eigenen Turm zuließe. Giri spielte also 42. Th1xe1, worauf die Pointe erhellte: die Selbstfesselung des Springers auf e2 gestattete Schwarz den Zug 42… Df6-f4+! mit siegbringendem Vorteil nach 43. Kc1-d1 Df4-e4. Giri gab hier auf, denn die sehr schöne Variante 44. Dd7xe8+ Lg6xe8 45. Se2xc3 De4-d3+ 46. Ta2-d2 Le8-h5+ 47. Sc3-e2 (andernfalls fällt der Springer) ließe das Matt auf b1 zu.
93. Petrosian – Spassky, Weltmeisterschaft, 12. Partie, Moskau 1966
Stellung nach dem 30. Zug von Schwarz
Dies ist eine der berühmtesten Stellungen, die jemals in einem WM-Kampf aufs Brett kamen. Noch hat Petrosian zwei Figuren für einen Turm, doch seine Läufer sind beide angegriffen. In dieser Situation entkorkte Petrosian einen von langer Hand geplanten Zug: 31. Sd2-f3!!. Zwei Figuren hängen bereits, doch stattdessen stellt der Armenier noch eine dritte Figur zum Schlagen hin! Den Springer kann Schwarz wegen 32. Le3-d2! nicht gut schlagen, aber was spricht gegen 31… e4xd3? Eine gute Frage, deren Klärung in der Partie nicht überzeugend gelang. In einer fatalen Mischung aus Zeitnot und kolossaler Nervenanspannung zog Petrosian hier nämlich 32. Sf3xe5? und willigte nach 32… d3xc2 33. Le3-d4 d6xe5 ins Remis durch Dauerschach ein. Gewonnen hätte stattdessen 32. Dc2xd3 – diesen Zug hatte Petrosian wohl wegen der Variante 32… Lc8-f5 33. Sf3xe5 Lf5xd3 34. Le3-d4 Ld3-e4+? verworfen, dabei aber übersehen, dass der Zug 35. Se5-f3+! (aber nicht 35. f2-f3? wegen 35… Kh8-h7! mit unklarer Stellung) darauf möglich wäre. Schwarz müsste also auf das Schach auf e4 verzichten und sofort 34… d6xe5 spielen. Dann sammelt Weiß aber mit Hilfe der Zwickmühle zunächst den Bauer auf c7 (den zweiten Bauer sollte Weiß verschonen, um dem Gegner nicht die a-Linie zu öffnen) und anschließend den Läufer auf d3 mit besten Gewinnaussichten ein.
Schade, dass Petrosians Feuerwerk zu einer „Unvollendeten“ wurde, denn mit dem durchaus möglichen Sieg wäre dies eine der besten Partien des Armeniers überhaupt geworden.
94. Timman – Kasparov, Hilversum 1985
Stellung nach dem 31. Zug von Schwarz
Es ist schwer vorstellbar, dass die niederländische Schachlegende Jan Timman jemals eine bessere Partie gespielt hat: Sieg gegen den Weltmeister, und das auch noch in spektakulärem Stil sowie vor heimischem Publikum! Timman genoss damals in den Niederländen ähnliche Bekanntheit wie hierzulande Boris Becker, so dass sein grandioser Sieg natürlich entsprechend gefeiert und gewürdigt wurde. Es gab aber auch allen Grund dazu, denn in der kompliziert anmutenden Diagrammstellung spielte Timman den Traumzug 32. Se4-f6!!, der den Springer einfach frei schwebend zum Opfer anbietet. Nach 32… Te8xe1+ 33. Tc1xe1 Kg7xf6 lag die Beweislast beim Niederländer – und er erfüllte die Aufgabe glänzend! Nach 34. Dd2-c3+ kann Schwarz nicht die Flucht nach vorne antreten, denn er wird immer mattgesetzt, zum Beispiel: 34… Kf6-g5 35. h3-h4+ Kg5xh4 36. Dc3-f6+ Kh4-h5 37. Lb3-d1#. Kasparov zog also erwartungsgemäß 34… Sd3-e5, doch nach 35. f2-f4 war selbst er dem Druck nicht gewachsen. Die Engines zeigen an, dass sich Schwarz mit dem praktisch unauffindbaren 35… h6-h5! noch in der Remisbreite bewegt hätte, doch in Zeitnot folgte 35… Lb5-a4?? 36. f4xe5+ d6xe5 mit der Pointe des Opfers: 37. d5-d6!! Dc7xd6 38. Dc3-f3+ Kf6-e7 (mit dem h-Bauer auf h5 könnte Schwarz den König nun über g7 „ganz einfach“ auf h6 verstecken!) 39. Df3xf7+ Ke7-d8
40. Te1-d1 Ta3-a1. Timman setzte seinem energischen Spiel nun mit 41. Df7-f6+ die Krone auf. Kasparov gab auf. Selten wurde der Weltmeister so vorgeführt!
95. Granda Zuñiga – Seirawan, Buenos Aires 1993
Stellung nach dem 8. Zug von Schwarz
Der bekannte Großmeister Yasser Seirawan befand sich wohl in guter Gesellschaft, wenn er glaubte, dass in dieser Stellung überhaupt nichts Besonderes los sei. Sein Gegner, der spanische Großmeister Granda Zuñiga, hatte hier allerdings eine Eingebung, die ihm von weiß Gott wo zugeflogen sein musste. Er spielte hier einen der verrücktesten Züge, die ich jemals gesehen habe: 9. Sf3xe5!?. Die objektive Stärke des Zuges ist schwer einzuschätzen, aber die psychologische Komponente erweist sich natürlich als gewaltig. Soll Seirawan nach 9… Sc6xe5 10. f2-f4 Se5-c6 11. e4-e5 sein Extramaterial behalten und den kläglichen Rückzug antreten oder den Springer zurückgeben? Seirawan entschied sich für die gierige Variante und musste einen heftigen Angriff über sich ergehen lassen: 11… Sf6-g8 12. f4-f5 Sg8-h6 13. Sc3-e4 Sh6xf5 14. Se4-f6+ Ke8-e7. Der Spanier wiederholte hier mit 15. Sf6-d5+ Ke7-e8 16. Sd5-f6+ Ke8-e7 die Züge, um Zeit zu gewinnen und setzte dann mit 17. g3-g4 Sf5-d4 18. Dd1-e1! fort. Daran sind gleich zwei Dinge bemerkenswert: zum einen verzichtet Weiß auf das leichte Remis durch Dauerschach, und zum anderen verwirft er 18. Lc1-g5, wonach 18… Dd8-b8 nichts ergibt für Weiß. Die Partie blieb kompliziert, doch nach wechselhaftem Verlauf gewann der Anziehende nach 56 Zügen.
96. Anand – Carlsen, Linares 2007
Stellung nach dem 26. Zug von Schwarz
Der indische Superstar führte hier einen Zug aus, der im ersten Moment ganz einfach zu gewinnen scheint – was aber nur zutreffen würde, wenn die Annahme des Opfers 27. Sg5-e6!! erzwungen wäre. In diesem Fall würde Weiß auf h6 mit der Dame einsteigen und kurzen Prozess machen. Carlsen antwortete natürlich stattdessen mit 27… Kg8-h7, wonach Anands Zug viel schwieriger zu rechtfertigen ist. Da dem Springer alle Rückzüge verwehrt sind, hat Anand sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen und muss nun mit jedem Zug damit rechnen, den Springer zu verlieren. Der „Tiger von Madras“ war allerdings tief in die Geheimnisse der Stellung eingedrungen und setzt ungerührt fort mit 28. f2-f4!. Nur die rasche Öffnung der Stellung kann dieses Konzept rechtfertigen, so dass umgehend Linienöffnung angestrebt wird. Es ging weiter mit 28… Db8-a7+ 29. Kg1-h2 Ld7-e8 und gründlicher Überdeckung des Punktes f7. (Stattdessen befreit 29… f7xe6 30. d5xe6 Ld7-e8 31. f4-f5 g6xf5 32. e4xf5 Da7-d4 Schwarz auch nicht von allen Sorgen, doch gangbar war dieser Weg allemal.) Nach 30. f4-f5 g6xf5 31. e4xf5 f7-f6 war der Springer ungeschoren davongekommen – und Anand siegte im 38. Zug.
97. Karjakin – Anand, Wijk aan Zee 2006
Stellung nach dem 24. Zug von Weiß
In dieser Theoriestellung spielte Anand einen Zug, der die Beurteilung einer langen Variante komplett auf den Kopf stellte. Der Faktor Zeit ist in einem so scharfen Abspiel wie der berühmten Najdorf-Variante natürlich von essentieller Bedeutung. Deswegen sind Opfer zwecks Zeitgewinn in solchen Varianten keine Seltenheit, doch Anands Opferreigen ist schon ganz besonders. Nach 24… Se8-c7!! entwickelte sich das messerscharfe und von Anand natürlich bestens präparierte Geschehen wie folgt: 25. Dc3xc7 Tf8-c8 26. Dc7xe7 Se5-c4!! 27. g5-g6 h7xg6 28. f5xg6 Sc4xa3+ 29. b2xa3 Ta5xa3 30. g6xf7+ Kg8-h7 31. f7-f8=S+ Tc8xf8. Nach 32. De7xf8 wurde Weiß beginnend mit 32… Ta3-a1+ 33. Kb1-b2 Ta1-a2+ 34. Kb2-c3 Da8-a5+! matt gesetzt.
98. Miles – Spassky, Montilla 1978
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz
Der nun folgende legendäre Springertanz, den Tony Miles hier inszenierte, ist verblüffend, ästhetisch und diesem exzentrischen Spieler wie auf den Leib geschneidert. Nach 18. Se5-d7!! nahm das Unheil für Spassky seinen Lauf: 18… Lb7-c8 19. Sc3xd5! Kg8-h8 20. Sd5-f6 Ta8-a7 und nun 21. d4-d5! Sc6-e7 22. Lf4-e5! Ta7xd7 (nicht 22… Lc8xd7? 23. Dg4-d4!) 23. h4-h5!! Td7xd5. Weiß hat eine Figur weniger, doch nach 24. Dg4-f4 Td5xd1 25. Tf1xd1 Dd8-a5 26. Sf6-e8!! f7-f6 (falls 26… Tf8xe8, so 27. Df4-f6! Te8-g8 28. h5-h6) 27. g5xf6 Kh8-g8 28. Se8xg7 musste Spassky aufgeben. Leider reicht hier der Platz nicht aus, um annähernd alle Varianten zu präsentieren, doch die Engines bestätigen die Korrektheit von Miles‘ Konzept einhellig.
99. Kholmov – Keres, Tbilissi 1959
Stellung nach dem 11. Zug von Schwarz
Weiß hat hier natürlich einige Optionen, was er mit dem angegriffenen Springer tun soll. Mit derjenigen, für die sich Ratmir Kholmov hier entschied, dürfte Keres allerdings kaum gerechnet haben: das Leben dieses Springers wird nach dem kecken, aber sehr starken 12. Sd4-c6!! bald ausgehaucht sein. Jedenfalls scheitert der einfache Widerlegungsversuch 12… Dd8xd1 13. Te1xd1 Lc8-d7 an 14. Sc3-d5! Ld7xc6 15. Sd5-c7+ Ke8-f8 16. Sc7xa8 mit Mattdrohung auf d8. Doch gegen das zu erwartende 12… Dd8-d7 musste Weiß ja ebenfalls etwas in petto haben – hatte er auch, denn es folgte der nächste Tiefschlag mit 13. Sc6xe7!!. Die wichtigsten Nebenvarianten lauten nun 13… Dd7xd1 14. Te1xd1 Ke8xe7 15. Lc1-g5+ Ke7-e6 16. Td1-d6+ mit kräftigem Angriff, der laut Engines bereits zielführend ist, sowie 13… Dd7xe7 14. Sc3-d5 De7-d8 15. Sd5-f6+ Ke8-e7 16. Lc1-g5 Dd8xd1 17. Ta1xd1 Lc8-e6 18. Sf6-h5+ Ke7-f8 19. Sh5xg7 Kf8xg7 20. Lg5-f6+ Kg7-g8 21. g2-g4! mit Gewinn. Keres spielte also 13… Ke8xe7 und wurde nach dem dynamischen
14. Lc1xh6! Lg7xh6 (sonst folgt ein Zwischenschach auf g5) 15. Dd1-f3 vor große Probleme gestellt. Weiß siegte im 29. Zug.
Es ist zwar schwer vorstellbar, dass Kholmov dieses ganze Dickicht an Varianten komplett vorhergesehen hatte, doch sein Mut und seine Findigkeit verdienen allerhöchsten Respekt.
100. Kholmov – Bronstein, Kiew 1965
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz
Es gibt Zufälle, die sich einfach nicht plausibel erklären lassen. Obwohl Ratmir Kholmov in seiner Blütezeit zu den zehn stärksten Spielern der Welt gehört haben dürfte, ist er außerhalb der Sowjetunion praktisch unbekannt geblieben. In seinen zwei berühmteste Partien überhaupt kam es zu einer merkwürdigen Konstellation, die noch gar niemandem aufgefallen zu sein scheint. Beide Kontrahenten hatten diese Stellung absichtlich angestrebt – ein sicheres Indiz dafür, dass einer einem Irrtum aufgesessen sein muss. Bronstein muss man allerhöchstens den Vorwurf machen, dass er Kholmovs berühmte Partie gegen Keres (Nr. 99) hätte kennen müssen. Genau wie in jener Partie spielte Kholmov auch hier 18. Sd4-c6!!. Es ist gewiß ein merkwürdiger Zufall, dass Kholmovs zwei berühmteste Züge identisch sind! In diesem Beispiel wird nach dem erzwungenen 18… Se5xc6 das Feld e4 für den Springer mit 19. e4-e5! freigeräumt. Bronstein fand in dieser schwierigen Lage die beste Verteidigung mit 19… Sc6xe5 nicht, sondern zog 19… Le7-g5+, um nach 20. Tg1xg5 f7-f6 die 7. Reihe mit Tempo zu decken. Nach 21. e5xd6 De7-f7 22. Tg5-g3 b4xc3 23. Lf1-c4! ist Schwarz hilflos. Hätte Kholmov nach 23… c3xb2+ 24. Kc1-b1 Sc6-d8 den recht offensichtlichen Zug 25. d6-d7 gewählt, so könnte Schwarz nach 25… Lc8-b7
26. Td1-g1 schon einpacken. Er zog stattdessen das schwächere 25. Td1-g1 und musste noch etwas länger für den Sieg arbeiten, den er im 34. Zug schließlich errang.
Epilog
Studie von Korolkov (1937): Weiß gewinnt
Zum würdigen Abschluss habe ich mich entschieden, dieses Beispiel aufzunehmen, obwohl es eine Studie ist und kein besonders schwieriger Springerzug darin vorkommt. Die Schlußstellung hingegen möge für sich sprechen.
Schwarz droht, beginnend mit 1… c2-c1=S+, zweizügig mattzusetzen, weshalb Weiß keine Zeit für Umwandlungen ohne Schachgebote hat. Das wichtigste Detail besteht darin, dass wenn Weiß den d-Bauer mit Schachgebot in eine Dame umwandeln kann, er im nächsten Zug den Springer auf d2 mit Gewinn eliminieren kann, sobald der eigene Springer von d5 wegzieht (was er sowieso im ersten Zug tun wird). Hier die Hauptvariante:
1. Sd5-f4+ Kh5-h6 2. g7-g8=S+! Kh6-h7 3. Sg8-f6+ Kh7-h6 4. Sf6xg4+ Kh6-h7 4. Se8-f6+ Kh7-g7 5. Sf4-e6+ Kg7-f7 6. d7-d8=S+! Kf7-e7 7. c7-c8=S#!
Matt mit fünf Springern – wem das nicht gefällt!
Damit sind wir am Ende des „Reitturniers“ angekommen. Ich habe wieder viel Mühe und Energie in die Recherche gesteckt und hoffe, ein ansprechendes Kompendium zusammengestellt zu haben. Ich wünsche viel Freude damit!
Bernd Grill