„Wer sich an die 80er erinnern kann, hat sie nicht miterlebt.“ (Falco)
März 2025
In den 70ern und 80ern kam man auf die aus heutiger Sicht weniger gelungen anmutende Idee, im Sinne des Tourismus einige der attraktivsten und belebtesten Strandabschnitte der Ostsee mit brutalistischen und nicht übermäßig attraktiven Hotelbauten zuzukleistern. In diese Kategorie fällt auch das Maritim Seehotel am Timmendorfer Strand, das zu großen Teilen unverändert geblieben ist und daher wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkt, was auch auf das Interieur im kulinarischen Flaggschiff des Hotels, die Orangerie, zutrifft. Wenn man unbedarft das Lokal betritt, so könnte man tatsächlich allzu leicht dem Irrglauben aufsitzen, dass eine mit der Inneneinrichtung korrespondierende 80er-Jahre-Küche geboten und dementsprechend Angestaubtes aufgetischt würde. Nichts könnte jedoch weiter von der Wahrheit entfernt sein – zwar ist es wahr, dass die Ausstattung des Lokals mit ihren teils floralen Elementen fast so ikonisch wie das hummerrote 70er-Jahre-Ambiente des Münchner Tantris ist, doch genau wie fast am anderen geographischen Ende der Republik wird auch hier an der Ostsee eine alles andere als aus der Zeit gefallene Küche präsentiert. Dafür zeichnete über drei Jahrzehnte lang und bis vor Kurzem noch Lutz Niemann verantwortlich, der nun seinen mehr als wohlverdienten Ruhestand genießt – selbstredend aber nicht ohne zuvor seine Nachfolger an ihr neues Tätigkeitsfeld herangeführt zu haben …
… und dieses Gespann verspricht eine spannende Mélange: zum einen wäre da Thomas Lemke, der drei Jahrzehnte an der Seite von Lutz Niemann verbrachte und das kulinarische Programm des Hauses maßgeblich mitgestaltete. Sein gleichberechtigter Partner ist Simone Melis, der erst Anfang 30 ist und eine wohltuende Prise an unverbrauchten Ideen und Esprit mitbringt. Seine Ausbildungsstationen können sich durchaus sehen lassen, denn etliche zweifach besternte Hamburger Lokale wie das bianc, das Jacobs Restaurant und das Seven Seas zähllten schon zu seinen Ausbildungsstationen.
Schon der Auftakt in mein sechsgängiges Menü (ohne Käse) begann mit drei vielversprechenden Apéros, wenngleich sie recht unterschiedlich konzipiert waren: die Tartelette mit klassischer Kalbssülze erhielt eine fruchtige Akzentuierung durch Bergamotte, während die Gurkensphäre mit Passionsfrucht einen Schärfekick von Wasabi verpasst bekam. Komplettiert wurde das Trio von einer asiatisch inspirierten Tandoori-Mousse mit Lachs und Kokos – man muss der Küche lassen, dass alle drei Petitessen sehr sauber gearbeitet waren und trotz recht scharfer Kontraste harmonische Eindrücke hinterließen. Von der anschließenden Brotauswahl habe ich aus Zeitgründen keine Notizen gemacht, weil die zahlreichen Eindrücke rund um diesen Premierenbesuch erstmal notiert und verarbeitet sein wollten.
Noch präziser und ausgewogener wirkte das Amuse, bestehend aus gebeiztem Hamachi auf einem Apfel-Gurken-Sud und einer Misopaste: der Verzicht auf alles Überflüssige hob die Produktqualität weiter hervor, zumal alles in großer Transparenz umgesetzt wurde. Bestens abgestimmt erschien auch der erste flüssige Begleiter, der mit einem kleinen Rätsel verbunden war: da er in einem schwarzen Glas gereicht wurde, sollte ich erraten, worum es sich handelte. Ich war nah dran und erhielt als Auskunft die Information, dass es sich um einen klaren und mit Dry Tonic aufgegossenen Apfelsaft handelte, der ausgezeichnet passte.
Das größte Meisterwerk des Abends läutete das Menü offiziell ein: die auf dem Tellerrand platzierte Jakobsmuschel war in knapp gebratener und glasiger Form an sich schon recht bemerkenswert, doch was die Küche aus dem Tatar in Verbindung mit Jalapeño und einer Sphäre von Avocado zauberte, war schlicht atemberaubend. In unerhörter Transparenz kam jede Komponente bestens zur Geltung, zumal die vibrierende Frische des Gangs enorm von den cleveren Texturen und der sorgsamen Portionierung profitierte. Längst nicht jeder Küche gelingt es, auf so engem Raum eine derart intensive Ausdruckskraft zu erzeugen, doch nicht zuletzt dank des alkoholfreien Rieslings vom Weingut Dr. Losen in Bernkastel-Kues bewegte sich diese Eingebung bereits am Rande der kulinarischen Perfektion. Schärfe, Säure und vegetabile Aromen wurde hier mit einer Leichtigkeit kombiniert, dass es eine reine Wonne war!
Große Klarheit zeichnete auch den nächsten Einfall aus: fast schon minimalistisch wirkte im Anschluss die lediglich mit schwarzem Knoblauch, wildem Brokkoli und Seefenchel begleitete, schön knackige Langustine. Ein Knochenmarkschaum bereicherte mit leicht deftigen Noten den durchaus kräftigen Krustentiersud, doch ist die Küche clever genug, sparsam dosierte Fingerlimes als kontrastierenden Säuregeber einzusetzen und das Ganze mit feinem Pinselstrich filigran wirken zu lassen. Passend zur recht herben Grundausrichtung servierte man mir einen Assam-Tee mit Riesling, was hier offenbar keinen Tabubruch darstellt – ein wunderbar umgesetzter Gang, der den Horizont erweitert.
Unerwartet farbenfroh ging es bei Wolfsbarsch an Brandade, Escabechesud, Puntarelle und Beurre-Blanc-Schaum zu. Der Pulpo verdient eine gesonderte Erwähnung, denn ein außen derart krosses und innen dennoch wunderbar mildes Exemplar habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Das ohnehin schon reizende Spiel mit der Meeresaromatik gipfelte in eben jenem Kontrast zwischen dem saftigem Bar de ligne und dem Pulpo, doch ohne die zahlreichen kleinen aromatischen Überraschungen und die virtuos eingesetzte Säure wäre dieser Teller vielleicht nur halb so viel wert gewesen. Jörg Geigers alkoholfreier Weißwein namens 35° ließ dabei die fragile Struktur des Tellers unangetastet und ergänzte den Gang doch wunderbar mit seiner trockenen Aromatik.
Vielleicht setzte sich beim nächsten Teller das südländische Temperament von Simone Melis durch, denn hier wurde das Gaspedal erstmals voll durchgedrückt. Ohne falsche Scheu vor kraftvollem Geschmack wurde die Brust der vorzüglichen Etouffée-Taube gleichmäßig tiefrot gebraten und als Façon Rossini mit einer Scheibe von gebratener Gänseleber bedeckt. So zupackend die Begleiter in Form von noch bissfesten Beluga-Linsen, Brunnenkresse (als Schaum und Crème) und schwarzem Trüffel auch auftraten, so sehr blieben die bitteren und leicht typischen Aromen des Geflügels das prägendste Element des Tellers, der mit einer erstklassigen Sauce Bordelaise abgerundet wurde. Unbedingt hervorzuheben ist auch, dass das Ragout aus Innereien ganz im Sinne der Nachhaltigkeit ersonnen wurde und man das Prinzip der ganzheitlichen Verwertung eines Tieres hier schon längst verinnerlicht hat. Als Begleiter dieses erneut ausgezeichneten Gangs schenkte man Johannisbeersaft mit grünem Tee ein, der mit herber Frucht und Bitterstoffen zu überzeugen vermochte.
Ganz klassisch konzipiert, aber mit charmantem Beiwerk versehen, gelangte als Plat principal ein Filet vom Weiderind mit verschiedenen Texturen von Zwiebelgewächsen an meinen Platz. Dank schöner Marmorierung und ausgeprägter Röstaromen bedurfte es nicht vieler Begleiter, wobei es galt, unter den sehr variabel abgeschmeckten und geschickt dosierten Varianten insbesondere die Nocke von karamellisierten Schalotten sparsam einzusetzen. Das begleitende Ragout wirkte deutlich leichter, doch auch die Estragon-Hollandaise blieb dank ihrer recht fluffigen Konsistenz erfreulich bekömmlich. Sie überraschte aber dennoch mit unerwarteter Tiefe, die dem superben Hauptdarsteller ausgesprochen gut zu Gesicht stand. Vor lauter Beglückung entging es meiner Aufmerksamkeit, mir das begleitende Getränk zu notieren …
Der konsequenten Dramaturgie zufolge, die ganz nach traditioneller Auffassung im Hauptgang kulminierte, bedurfte es nun eines kontrastierenden Pré-Desserts, das sich bei der Komposition durchaus abseits der ausgetretenen Pfade bewegte. Pâtissier Taro Bünemann schichtete dabei von unten nach oben einen Sud von Bergamotte, Birne, Baiser, Champagnersorbet und eine Zuckerskulptur aufeinander – mit beachtlichem Erfolg, denn dank des recht geringen Einsatzes von Zucker kam die Betonung der Fruchtigkeit noch besser zur Geltung. Dezente Schärfe brachte noch das begleitende Getränk ins Spiel: Apfelsaft mit Ananassaft, Grüntee und einem Hauch Ingwer sorgte für dezente Würze, die gerade mit der Birne prächtig korrespondierte. Bei diesem Anblick dachte ich, dass Desserts in früheren Jahren durchaus ähnlich zusammengestellt worden sein mögen, aber in ihrer Auslegung meist um ein Vielfaches schwerer und belastender gerieten, während eine geradezu schwebende Leichtfüßigkeit von dieser Inspiration ausging.
Die falsche Banane mit einer geeisten Haut gab als Innenleben ein Ragout von exotischen Früchten frei, das mit dem begleitenden Streifen aus offenbar mehreren Obstsorten fast schon sommerlich wirkte. Kontraste gab es dennoch reichlich: die bekanntlich herbe Shisokresse als Sorbet und Pulver federte die fruchtige Süße gekonnt ab, doch auch Limette und Ananas in Texturen zeugten von kreativem, sicheren Handwerk. Meinem Gefühl zufolge hätte der Teller vielleicht im Sinne größerer Stringenz auf ein oder zwei Komponenten verzichten können, aber an der gelungenen Auslegung dieses heiteren Desserts änderte das nichts. Die Petits fours machten zudem nahtlos dort weiter, wo man zuvor aufgehört hatte: Baiser mit Apfel, Kardamom und Yuzu oder Snickers mit Erdnuss und Dulcey-Schokolade wahrten das hohe Niveau, während das Cannelé mit Orangenaromen noch einen Höhepunkt der Trias darstellte. Wer danach noch Platz hatte, durfte allen Ernstes noch von einer zweiten Selektion Gebrauch machen (ich hörte mich nicht nein sagen …) und sich an Macarons, Pralinés und co. erfreuen.
Obwohl dieses Lokal bislang immer unter meinem Radar durchgeflogen war, lohnte sich der Besuch ohne jeden Zweifel. Natürlich fand auch hier das eine oder andere typische Luxusprodukt den Weg in die Menüfolge, aber dank ungewöhnlicher Kombinationen oder Zubereitungen entstand dennoch nie der Eindruck, dass man irgendeines der Gerichte schon mehrfach in gleicher oder ähnlicher Form gegessen hätte. Lutz Niemann hat seine Nachfolger überaus gewissenhaft an ihre neue Aufgabe herangeführt und ihnen dabei dennoch den nötigen Freiraum für neue Inspirationen zugestanden. So bewahrt man zum einen das Erbe der goldenen Vergangenheit, zeigt sich zum anderen aber auch bereit, das Lokal in die Zukunft zu führen. Die behutsam, aber mit ganz viel Substanz und frischen Ideen aufgehübschte klassische Küche lässt dabei sofort erahnen, dass es künftig gerne noch weiter nach oben gehen soll – keineswegs eine völlig unrealistische Forderung, zumal diese Darbietung aus meiner Sicht einen der Favoriten für einen neuen Zweisterner darstellt. Gut möglich, dass gerade das Potential des noch jungen Simone Melis in den nächsten Jahren zur vollen Blüte gelangt – ausschließen will ich es jedenfalls nicht! Die Stärke der Küche, in kompakten Kreationen sehr präzise zu Werke zu gehen, übertrug sich übrigens auch auf die ausgesprochen durchdachte alkoholfreie Getränkebegleitung, die eine vollwertige Alternative zur üppigen Weinkarte darstellt. In puncto Service wurde speziell diese Option besonders kompetent erläutert, und auch beide Chefs erteilen bei Bedarf bereitwillig Auskünfte nach dem Mahl. Da das volle Menü mit € 189 auch noch überaus fair bepreist ist und die Nebenkosten nicht sonderlich zu Buche schlagen, gibt es kaum einen vernünftigen Grund, das Lokal zu ignorieren. Lassen Sie die Orangerie also beim nächsten Ostseeurlaub in Schleswig-Holstein besser nicht links liegen, denn Sie könnten es bereuen!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Orangerie
Strandallee 73
23669 Timmendorfer Strand
Tel.: 04503/6052424
www.orangerie-timmendorfer-strand.de
Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2025: 3 Toques
GUSTO 2025: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2025: 3,5 F
6-gängiges Menü: € 170