Nelson Freire in memoriam

Unter den aktuellen Tastenlöwen gibt es einen Künstler, dessen Spiel mir stets besonders naheging: der brasilianische Pianist Nelson Freire. Nun ist der Ausnahmeinterpret überraschend am 31. Oktober 2021 in Rio de Janeiro im Alter von 77 Jahren nach einem Sturz verstorben.

Freire wurde 1944 in dem kleinen Ort Boa Esperança (ca. 40.000 Einwohner) in Brasilien geboren und machte schon früh als Wunderkind auf sich aufmerksam – bereits im Alter von 10 Jahren (!) wurde eine Straße in seinem Heimatort nach ihm benannt. Gut zwei Jahre später nahm er 1957 am 1. Internationalen Klavierwettbewerb im 400 Kilometer entfernten Rio de Janeiro teil, belegte bei namhafter internationaler Konkurrenz letztlich den 7. Platz und erhielt den Zuschauerpreis. Mit Hilfe eines Stipendiums konnte er in Europa studieren und legte eine Bilderbuchkarriere hin. Neben seinen relativ seltenen Soloauftritten (er spielte niemals mehr als 50 Konzerte im Jahr – meist sogar deutlich weniger) machte er sich auch als Duopartner von Martha Argerich einen Namen. Als er im Jahre 2002 im Alter von 58 Jahren einen Exklusivvertrag bei DECCA unterschrieb, empfanden viele dies als Sensation, da der im Allgemeinen als schüchtern und zurückhaltend geltende Freire in den Jahren zuvor fast keine Studioaufnahmen mehr produziert hatte. Diese künstlerische Liaison brachte indes einige der wunderbarsten Aufnahmen hervor, die wir in der gesamten Klavierwelt überhaupt haben.

Freires Spiel war stets ausgesprochen geschmeidig, (wenn nötig) von nonchalanter Virtuosität durchdrungen und von makelloser Technik. Sein Werkverständnis und seine Stiltreue waren immer vorbildlich, seine Tempi stets flüssig und seine Inspiration ungebrochen. Er spielte häufig auch die Werke seltener zu hörenden Komponisten wie zum Beispiel die seines von ihm bewunderten Landsmanns Heitor Villa-Lobos oder der norwegischen Ikone Edvard Grieg. Sagenumwoben waren dabei auch sein an Perfektion grenzendes Blattspiel und sein überragendes Gedächtnis, das manche als nicht von dieser Welt bezeichneten. Maßgeblich beeinflusst wurde sein Stil von der großen brasilianischen Pianistin Guiomar Novaes, die er Zeit seines Lebens vergötterte. Sein Spiel stand in der Tradition großer romantischer Pianisten wie Sergej Rachmaninoff, Artur Rubinstein und Walter Gieseking – gleichzeitig war es aber auch mit der Brillanz und Virtuosität eines György Cziffra oder Leopold Godowsky gepaart.

Das letzte Wochenende im Oktober 2021 habe ich in Leipzig verbracht. Als ich, wieder zuhause angekommen, die traurige Nachricht vom Tode Nelson Freires vernahm, musste ich sofort an seine legendäre Aufnahme der beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms denken. Sie entstand 2006 zusammen mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter dem Dirigat von Riccardo Chailly und wurde von der renommierten Zeitschrift Gramophone im selben Jahr zur „CD des Jahres“ gekürt – mit Recht, denn so makellos waren diese Werke seit der legendären Aufnahme von Leon Fleisher und George Szell aus den späten 1950er-Jahren nicht mehr eingespielt worden. Aristokratische Eleganz, dramatische Ausbrüche, introvertierte Passagen, heitere Ausgelassenheit, kantable Melodien – all das, was Brahms‘ Kosmos in den beiden Klavierkonzerten so kennzeichnet, war von Freire und den Leipzigern in ungeahnter Intensität und Perfektion herausgemeißelt worden. Was für ein trauriger Zufall, dass 15 Jahre später sich sozusagen bei meinem Aufenthalt in Leipzig der Kreis schließen sollte.

Kurz vor Ostern reiste ich 2016 eigens nach Berlin, um einem der höchst seltenen Auftritte des Maestros beizuwohnen. Doch auch wenn Freire einen relativ schwachen Tag erwischte und das Konzert sogar vorzeitig aus mir nicht bekannten Gründen abbrach, so tat es seiner unergründlichen Aura selbst keinen Abbruch. Erstaunlicherweise griff Der Tagesspiegel in seinem Nachruf genau diese Episode auf und führte als Grund an, dass Freire „zu müde gewesen“ sei, um weiterzuspielen! Noch im selben Jahr sollte er im Herbst – für mich völlig überraschend – nach über 20 Jahren wieder nach Stuttgart kommen und das Publikum nochmals verzücken. Diesmal war all das, was sein Spiel so auszeichnete, in Perfektion vorhanden. Ich schätze mich glücklich, dieser Sternstunde beigewohnt haben zu dürfen und verneige mich voll Demut vor der künstlerischen Integrität dieses so großen und doch bescheiden gebliebenen Pianisten. Bezeichnenderweise trug sein letztes Studioalbum den Namen „Encores“ (Zugaben), was einst als Ehrerbietung an Guiomar Novaes gedacht war und sich nun letztlich als überaus würdiger Abgang für ihn selbst erwiesen hat.

Hier eine Zusammenstellung von einigen der besten Einspielungen mit Nelson Freire:

O   Brahms: Klavierkonzerte – mit Riccardo Chailly (Decca)

O   Chopin: Nocturnes (Decca)

O   Chopin: Préludes (Sony)

O   Chopin: Scherzi (Warner)

O   Liszt: diverse Werke, u.a. Ballade Nr. 2 und Sonett Nr. 104 von Petrarca (Decca)

O   Liszt: Klavierkonzerte – mit Michel Plasson (Brilliant Classics)

O   Liszt: Klaviersonate h-moll (Video auf YouTube, Live-Aufnahme von 1982)

O   Rachmaninoff: Suite Nr. 2 für zwei Klaviere – mit Martha Argerich (Philips)

O   Schumann: Carnaval, Kinderszenen u.a. (Decca)

O   Villa-Lobos: Klavierwerke (Warner)

Seine beiden Livemitschnitte von Toronto und Miami (1984) bleiben unbezahlbare Sammlerstücke auf CD, wobei das erstgenannte Konzert ebenfalls auf YouTube eingestellt ist. Unbedingt reinhören, denn sie werden es keinesfalls bereuen!

Auch wenn Nelson Freire nun nicht mehr unter den Lebenden weilt, so wird sein künstlerisches Vermächtnis die Zeiten überdauern und Klavierfreunde aus aller Welt auch noch lange nach seinem Ableben weiterhin in Verzückung, Bewunderung und tiefe Beglückung versetzen. Mögen sie auch mich über seinen Tod hinwegtrösten.

 

Ruhe in Frieden, Maestro!