„Meine Träume sind wirklicher als der Mond, als die Dünen, als alles, was um mich ist.“
(Antoine de Saint-Exupéry)
September 2023
Seitdem vor einigen Jahren binnen kurzer Folge die beiden Sylter Zweisterner La Mer in List und das Fährhaus in Munkmarsch schlossen, darf sich das Bodendorf’s in Tinnum als Deutschlands nördlichstes Sternerestaurant bezeichnen. Chefkoch Holger Bodendorf fehlen zwar die ganz großen Namen unter seinen Ausbildern, doch den Landgasthof Stricker, in welchem sich sein Lokal befindet, bekocht er nun schon seit über zwanzig Jahren mit einem Michelin-Stern als Auszeichnung. Sein Stil wird oft als südfranzösisch mit weltoffenen Einflüssen bezeichnet und ist daher auf Deutschlands nördlichster Insel einigermaßen gewöhnungsbedürftig. Mein bisher einziger Besuch datierte auch schon sieben Jahre zurück, wobei dies nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass mein Bedürfnis, hier wieder einzukehren nach einer für mich nur teilweise überzeugenden Vorstellung nicht sonderlich stark ausgeprägt war. Dass sieben Jahre in diesem Metier andererseits eine halbe Ewigkeit darstellen können, leuchtet auch ein, weshalb frische Eindrücke angezeigt waren, um sich ein aktuelles Bild zu verschaffen.
Ursprünglich war meine Einkehr hier während der Faschingsferien angedacht, aber wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten hatte das Etablissement mehrere Monate geschlossen und präsentierte sich dennoch danach von außen unverändert. Innen hingegen sieht es nun, wie ich bei meiner Ankunft überrascht feststelle, komplett anders aus als damals: das eher dunkle Ambiente ist nun einem lichten, weißen Anstrich mit Pop-Art-Collagen an den Wänden gewichen, die wohl eine unbeschwerte Atmosphäre schaffen sollen. Des weiteren sind die quadratischen Holztische ohne Leintuch eingedeckt, was einen weiteren Fingerzeig darstellt, dass man hier mit der Zeit geht und offenbar gewillt ist, Casual Fine Dining in lockerem Rahmen anzubieten. Bei der Lektüre der Speisekarte geht schon ein Teil dieser Gelassenheit durchaus verloren, denn ein bis zu neungängiges Menü zu € 279, das bis auf sechs Gänge zu € 224 reduziert werden kann, findet man zu solchen Preisen in deutschen Einsternern ansonsten nur noch in den Münchner Lokalen Werneckhof und Tantris DNA. An Selbstvertrauen mangelt es dem Chef zudem nicht, denn sein Menü tituliert er wenig bescheiden als „Sternstunden by Holger Bodendorf“ und wirbt auch noch mit potentieller Suchtgefahr. In der Realität haben ihm seine Darbietungen jedenfalls neben dem Macaron unter anderem 8,5 Pfannen im GUSTO und 4 F im Feinschmecker eingebracht – ein aktuelles Urteil des Gault&Millau liegt dagegen derzeit nicht vor, weil das Lokal nach der Pandemie einige Zeit geschlossen hatte und sich ein Besuch des Testers wegen der Renovierung im Frühjahr wohl nicht mehr vor Redaktionsschluss hatte einrichten lassen.
Zu einem fruchtigen Apéritif namens „Küstentraum“, der mit einigen Kräutern herb und erfrischend aufgewertet wurde, reicht der großgewachsene Chef, der in weißer Kochjacke und Blue Jeans am Tisch erscheint, auf fast schon joviale Art die ersten Apéros selbst. Diese fallen allerdings recht harmlos aus: links ein dekonstruierter Caesar-Salad in einer knallgrünen Sphäre mit Füllung von Anchovis, daneben ein Macaron (Details sind mir leider entgangen) und schließlich eine Falafel mit Hummus-Füllung. Etwas großzügiger portioniert tischt man außerdem noch zweierlei Sellerie in Nussbutterschaum auf, doch in Summe bleibt der Eindruck eines sehr verhaltenen Einstiegs ohne roten Faden haften: ohne nennenswerte aromatische Intensität und gemeinsamen stilistischen Nenner.
Ach ja: ein Gast am Nebentisch bestellt ohne Skrupel ein Pils, was mir bislang in bestenfalls drei, vier weiteren Sternelokalen (von denen keines so hochdekoriert war) untergekommen ist. Schmunzeln muss ich zudem ob einer Anekdote, die sich vor sieben Jahren hier zutrug und glattes Kontrastprogramm dazu darstellte: damals echauffierte sich eine ältere Dame sichtlich entrüstet mit der Frage, ob man hier etwa keinen offenen Château d’Yquem ausschenke?! Zur besseren Einordnung: in den wenigen Lokalen, wo dies bislang möglich war, durfte man – abhängig vom Jahrgang – zirka € 75 für 1 dl veranschlagen. Wirklich unverschämt, einen solch „billigen“ Dessertwein nicht offen auszuschenken …
Mit dem Amuse zieht das Niveau glücklicherweise merklich an: dem Tafelspitz im Zentrum des Geschehens stellt die Küche etwas kleinteilig rote Bete, Sauerampfer, gestocktes Eigelb, ein Senfeis und Senfsaat zur Seite. Obschon das Eis dominanter als das Fleisch auftritt, bleiben alle Komponenten in feiner Balance zueinander. Durch die recht natürlich wirkende Behandlung der einzelnen Texturen wird aus dem farbenfrohen Arrangement ein gelungenes Statement, das mich nach dem mauen Auftakt deutlich versöhnt.
Der Service beschreibt die Gerichte hier recht aphoristisch, so dass dem Gast die pedantische Detektivarbeit nicht erspart bleibt, wenn dieser die Gerichte enträtseln will – was zudem nicht so einfach ist, wenn sich fast alle Teller am Rande der Überfrachtung bewegen. So auch beim Entrée zu beobachten: roh marinierter Carabinero als Carpaccio wird nicht nur von Grapefruit und Avocadocrème umspielt, sondern auch auf ein Öl von Meeresfenchel gebettet. Dabei hätte man es gut bewenden lassen können, zumal die Produktqualität so noch zum Tragen käme und der fruchtige Kontrast eine Bereicherung des Krustentiers dargestellt hätte. Hinzu gesellt sich aber noch ein Paprikafond, der spätestens im Verbund mit der am Platz zugegebenen gestockten Hummercrème fremdelt; außerdem werden die Texturen unnötigerweise durch die Crème kaschiert, die so zum entbehrlichen Element wird und für eine irritierende Kombination sorgt. Auch die Konsistenz der Teigblume überzeugt mich nicht: kein bißchen knusprig, sondern fast schon spröde. Fazit: hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen.
Weiter geht es mit einer Art Surf’n’Turf: auf einem Tortellino mit Füllung von glasiertem Kalbsschwanz drapiert die Küche ein Carpaccio von roh marinierter Jakobsmuschel und gibt Limonenseitlinge sowie eine Brunoise von Karotte und gelber Bete hinzu. Gebettet wird die Kreation schließlich auf einem Thymianfond, welcher dem Gang einen wesentlich runder wirkenden Feinschliff als beim Vorgänger verpasst. Durch die deutlich reduzierte Zahl an Komponenten wirkt dies spürbar homogener und lässiger – von einer Sternstunde ist der Teller weit entfernt, aber er schneidet zumindest signifikant besser als der Einstieg ab.
Allmählich dämmert es mir, dass angesichts der gehaltvollen Kreationen wohl gänzlich auf eine Brotauswahl verzichtet wird. Vor diesem Hintergrund wirkt der nächste Gang selten kompakt und sollte schon allein deshalb besser gelingen als so manches andere zuvor. Nach dem Verzehr ergibt sich dennoch ein differenziertes Bild: nicht zu beanstanden ist mustergültig in Nussbutter confierter bretonischer Kabeljau, den die Küche mit gehaltvollem Pancetta umwickelt. Darüber thronen allerdings wieder grenzwertig viele Komponenten, die teils recht beliebig und ergo entbehrlich erscheinen: ein Flan von Dillblüten, ein Verjus-Schaum sowie eine ausgestochene Kugel und Gelée von Birne wetteifern eher miteinander um die Gunst des Hauptdarstellers, der sich zudem gegen eine deftige Speckjus behaupten muss. Da es den Begleitern teils entschieden an Tiefe im Geschmack mangelt, hätte man guten Gewissens zwei Komponenten streichen und sich stattdessen stärker auf die Vorzüge weniger Produkte fokussieren können.
Dem insgesamt eher betagten Publikum sagt zumindest die zwanglose und relativ laute Atmosphäre gut zu, zumal sich offenbar einige Stammgäste an diesem Abend eingefunden haben. Mangels Teppichen oder Gardinen gibt es indes kaum Elemente, die den Schall in irgendeiner Weise dämpfen würden, so dass der Lärmpegel den ganzen Abend über vergleichsweise hoch bleibt. Ob den anderen Gästen das bisherige Essen besser als mir zusagte, entzieht sich meiner Kenntnis, aber zumindest die exorbitante Spirituosenauswahl wird im Laufe des Abends bei ihnen noch großen Anklang finden. Meine eigene Laune hält sich dagegen spürbar in Grenzen, doch zumindest wirkt der Service locker und grundfröhlich – ohne allerdings einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Crépinette von der Wachtel hinterlässt ein ähnlich diffuses Bild: den sorgsam gewürzten und auf ganzer Linie überzeugenden Hauptdarsteller – so weit, so gut! – begleitet das Team um Holger Bodendorf mit einem Ragout, das ungewöhnlich mit Kirschgel und gehobeltem schwarzen Trüffel darüber ummantelt wird. Der Sinn hinter der bizarren Kombination von eingelegter Kirsche im Duett mit mariniertem Topinambur und Purée erschloss sich mir dagegen nicht. Der Anteil an dem edlen Pilz in der dünnen und wenig eindringlichen Trüffelsauce beschränkte sich zudem auf Spurenelemente und verdiente daher den Namen kaum. Auch diesmal will angesichts einer zu auffälligen Zahl an merkwürdigen Entscheidungen keine rechte Freude aufkommen.
Beim Hauptgericht fällt zumindest umgehend auf, dass Struktur und Purismus weitaus stärker ausgeprägt sind als bei den teils überfrachteten Vorspeisen, doch nach dem Verzehr stellt sich heraus, dass der Anspruch letztlich nur gelegentliche Besseresser überzeugen kann, weil es ihnen mutmaßlich an Vergleichsmöglichkeiten mangelt: dem eigentümlich flach schmeckenden Kotelett vom Salzwiesenlamm, das ich beispielsweise bei Hans Haas auf zwei Stufen höherem Level verkosten durfte, fehlt es einfach an mineralischen Noten und geschmacklicher Tiefe. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei der archetypisch mediterranen Begleitung aus Tomatenconfit, Knoblauchcrème und gefüllter Powerade, die lediglich vorhersehbare und wenig kreative Akzente zu setzen vermag. Außer einer Tomatenglasur um die Powerade bietet der Teller nichts, was ich nicht schon ein Dutzend Mal in ähnlicher – und leider meist auch in besserer – Form gegessen habe. Das gezeigte Handwerk ist letztlich zu brav und enttäuschend, um im Gedächtnis haften zu bleiben.
Das Pré-Dessert besteht aus einer geeisten Kugel mit einer Füllung von Champgnergranité, die auf einem Flan mit deutlichen Noten von Stachelbeere ruht. Der mit Sylter Rose aromatisierte Schaum bereichert den Beitrag spürbar, doch hätte eine größere Kugel (und damit eine größere Menge des Granités) im Sinne von mehr Aussagekraft wohl nicht geschadet.
Damit tritt letztlich der höchst selten zu boebachtende Umstand ein, dass das Dessert tatsächlich zum Höhepunkt der Menüfolge werden sollte: mit gerade einmal drei Komponenten zaubert die Pâtisserie ein Dessert auf den Teller, das vergleichsweise old school ist, dessen Qualität und Klarheit jedoch zu weiten Teilen in der Menüfolge schmerzhaft vermisst wurde. Gebettet auf eine leichten Apfel-Minz-Vinaigrette platziert die süße Abteilung Amalfi-Zitronen-Canneloni mit einer Kuvertüre von weißer Ivoire-Schokolade und lässt diese von Sorbet sowie weiteren Varianten des grünen Apfels, zum Beispiel ausgestochene Kugeln, kokett umspielen. Man hätte sich unwillkürlich gewünscht, dass die Küche noch mehr Asse im Ärmel gehabt hätte, aber wenigstens spielte sie diese eine Stärke voll aus und schloss so das teils ernüchternde Menü auf versöhnliche Weise ab: das war fraglos das Highlight des Abends!
Die Petits fours erreichten durchschnittliches Ein-Stern-Niveau und vermochten kaum mehr Reizpunkte zu setzen: von links nach rechts handelt es sich um Obstsalat in einer Tartelette, Aprikosen-Marzipan-Praline, Profiterol und Kokos-Sphäre mit Mandarinengel.
Am Ende dieser Soirée weckte der Besuch hier in mir Erinnerungen an den Abend vor sieben Jahren, als wir zu zweit zu einem einhelligen Urteil gelangten und schlussendlich eine ähnlich entbehrliche Erfahrung machen mussten. Auf der Suche nach der Beschreibung von Holger Bodendorfs Stil aus anderen Quellen stieß ich immer wieder auf Wörter wie „Kreativität“ und „Lockerheit“. Wenn der Preis im Gegenzug allerdings darin besteht, dass es den Gerichten allzu häufig an Struktur, einem roten Faden, überragender Produktqualität oder einer klaren kulinarischen Aussage fehlt, dann verzichte ich im Zweifelsfall zugunsten der Substanz auch gerne auf diese Attribute. Vor allem unter Berücksichtigung der gesalzenen Preise (extrem kostspielige Produkte kamen schließlich nicht zum Einsatz) und der spartanischen Extras (ohne Brotauswahl) hätte man sich meines Erachtens doch deutlich mehr erhoffen dürfen, denn in dieser Form ist das Bodendorf’s für mich auch weiterhin kein ernsthafter Kandidat für einen zweiten Stern.
In Summe blieb die Küche vieles schuldig, speziell im Hinblick auf die vollmundige und alles andere als bescheiden wirkende Nomenklatur des Menüs. Glaubt man den wesentlich optimistischeren Ausführungen der anderen Guides, so könnte man entschuldigend einen schwachen Tag als Grund vermuten, doch die essentiellen Schwachpunkte machte ich nicht nur beim Handwerk, sondern eher noch bei der Konzeption der Gerichte aus, die nicht immer durchdacht auf mich wirkte. Neben der mehrfach beobachteten und letztlich nicht gerechtfertigten Überfrachtung fehlte es mir auch an einer unverwechselbaren Handschrift: so viele der zuvor kolportierten mediterranen Elemente konnte ich letzten Endes gar nicht ausmachen. Als Holger Bodendorf im Jahre 2018 die Auszeichnung zum „Koch des Jahres“ vom Großen Restaurant & Hotel Guide erhielt, war in der Begründung beispielsweise Folgendes zu lesen: „Seine mediterrane Küche mit asiatischen Elementen verbindet er mit dem Anspruch, seinen Gästen Urlaub, Sonne und Leichtigkeit auf die Teller zu bringen.“ Besagte Elemente aus Fernost sind in den fünf Jahren seither offenbar ebenfalls verbannt worden, so dass letztlich die Frage im Raum steht, was seinen Stil denn nun wirklich ausmacht. Mit dem Dessert setzte die Küche ja nochmals ein echtes Ausrufezeichen, so dass ich im Prinzip weiterhin glauben möchte, dass es auch besser geht. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich trefflich streiten, doch in Summe war diese Menüfolge viel zu unstet, um von einem gelungenen Abend sprechen zu können. An einer genuinen Sternstunde kratzte kein einziges Gericht, und von dem eingangs bemühten Suchtpotential bleibt in meinem Fall festzuhalten, dass weiterhin keine Gefahr besteht.
Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten
Bodendorf’s
Boy-Nielsen-Straße 10
25980 Tinnum
Tel.: 04651/88990
www.landhaus-stricker.com/de/
Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: –
GUSTO 2023: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4 F
6-gängiges Menü „Sternstunden by Holger Bodendorf“: € 224