Franz Liszt (1811 – 1886): Ungarische Rhapsodien (Standardrepertoire)

Franz Liszt wird um 1840 zusammen mit seinem Zeitgenossen, dem „Teufelsgeiger“ Niccoló Paganini, das moderne Konzertrecital aus der Taufe heben. Dass ein Künstler einen ganzen Abend alleine auf seinem Instrument gestaltet und durch die Lande tourt, kommt uns heute geradezu selbstverständlich vor – ohne die Initiative dieser beiden Supervirtuosen wäre es damals möglicherweise nie dazu gekommen. Dem Geschmack der damaligen Zeit folgend, bedienten beide die Erwartungshaltung des (zu nicht geringen Teilen weiblichen) Publikums vor allem durch schillernde Virtuosität und weniger durch die großen, anspruchsvollen Werke der Konzertliteratur.

Liszts wehende Mähne und seine weißen Seidenhandschuhe (der Damenwelt liebstes Souvenir) waren seine äußerlichen Markenzeichen, während seine bahnbrechenden technischen Fähigkeiten das akustische Erkennungsmerkmal waren. Da traf es sich geschickt, dass die leidenschaftliche Musik seines Heimatlands Ungarn vollendet zu den Bedürfnissen des Publikums passte: bei seinen Ungarischen Rhapsodien handelt es sich um Werke in sehr freier Form. Sie beginnen meist mit einem langsamen Teil und steigern allmählich das Tempo, bis gegen Ende der Interpret sein ganzes Virtuosentum präsentieren darf. Der musikalische Gehalt ist wegen des volkstümlichen Charakters eher niedrig – für manche Pianisten der Grund, warum sie um diese Werke einen Bogen machen, während andere die hemmungslose Virtuosität in vollen Zügen genießen und damit Eindruck schinden möchten.

Nicht alle der 19 Rhapsodien sind gleich bekannt: uneingeschränkter Favorit ist die Nr. 2, die als heimliche Nationalhymne Ungarns gelten kann. Sehr beliebt sind auch die Nummern 6, 9 („Pester Karneval“), 12 und 15 („Rakoczy-Marsch“).

Die Mono-Aufnahme des ungarischen Pianisten György Cziffra, der kurz vor dem gescheiterten Ungarnaufstand vom November 1956 nach Frankreich auswanderte, bietet alles, was Sie jemals von den Rhapsodien brauchen werden. In der gar nicht so schmalen Diskographie Cziffras ragen die Rhapsodien derart deutlich gegenüber der Konkurrenz heraus, dass kaum eine Alternative empfohlen werden muss. Allerdings spielte Cziffra die Nummern 16 bis 19 nicht ein.

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In den 70er-Jahren nahm Cziffra einen Querschnitt der beliebtesten Rhapsodien nochmals in Stereo auf – und verhalf seinem Label EMI zu einer der 30 meistverkauften klassischen LPs in der Geschichte des Hauses. Die atemberaubende Souveränität, mit der Cziffra den Parcours meistert, veranlasste damals einen Kritiker zu dem Begriff „Virtuosenterror“! Dies ist fürwahr keine Übertreibung – wer jemals die Coda des „Pester Karnevals“ mit ihm gehört hat, müsste eigentlich davon ausgehen, dass der Pianist vier bis sechs Hände haben muss! Leider ist Cziffra, der 1994 verstarb, nie wirklich einem breiteren Publikum bekannt geworden, obwohl er einer der größten Klaviervirtuosen aller Zeiten war. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie gerne Marc-André Hamelin, der Supervirtuose heutiger Tage, sich mit ihm ausgetauscht hätte!

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Falls es aber doch alle 19 Rhapsodien sein sollen, dann kann die akustische Visitenkarte von Cziffras Landsmann Roberto Szidon, dem der ganz große Durchbruch versagt blieb, empfohlen werden. Unter den wenigen Aufnahmen von Szidon bei Deutsche Grammophon ist sie mit Sicherheit seine beste. Ob Szidon das gleiche Format wie Cziffra hat, ist anfechtbar, aber zumindest klanglich hat diese Aufnahme die Nase vorn.

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Ach ja: wenn hier der irrige Eindruck einstehen sollte, dass nur Ungarn dieses Werke spielen können oder dürfen, dann sei zum Schluss noch auf Michele Campanella verwiesen. Bevor ich auf diese überzeugende und sehr sauber gespielte Aufnahme stieß, war mir dieser italienische Pianist überhaupt kein Begriff gewesen – und da werde ich nicht der einzige sein. Etwaige Interessenten finden auf der italienischen Plattform einer bekannten Online-Enzyklopädie einige Informationen über diesen Interpreten.

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