Maurice Ravel (1875 – 1937): Gaspard de la nuit (Standardrepertoire)

Ravels dreisätziger Zyklus nach Gedichten von Aloysius Bertrand mit dem merkwürdigen Titel („Wächter/Schatzmeister der Nacht“) ist nicht nur ein schillerndes Beispiel für ein impressionistisches Meisterwerk, sondern gleichzeitig auch ein diabolisch schwieriges Werk. Insbesondere der bösartige Gnom „Scarbo“ (3. Satz) verlangt dem Interpreten alles ab und hat schon so manchen Pianisten zur Verzweiflung getrieben. Die Wasserspiele rund um die unglückliche Nixe „Undine“ (1. Satz) waren ein Lieblingsthema der Impressionisten – hier wird es so farbenfroh und bezaubernd in Klang umgewandelt wie nur selten. Dem gegenüber steht die düstere Trostlosigkeit des zweiten Satzes „Le gibet“ („Der Galgen“), in dem immer wieder gespenstische Glockenschläge das abgründige Stück durchziehen. Auf dem Gebiet der Klaviermusik ist dies fraglos Ravels Meisterwerk und hat Publikum wie Interpreten seit jeher gleichermaßen verzaubert und entrückt.

Der serbische Pianist Ivo Pogorelich genehmigt sich bei der Auslegung des Notentextes (wie immer) ein paar interpretatorische Freiheiten, aber längst nicht so viele und nicht so kontrovers diskutierte wie etwa bei seinem Chopin-Spiel. Pogorelich bekundete selbst, diese Einspielung habe ihm unglaublich große Mühe bereitet. Der Hörer wird es ihm allerdings bis in alle Ewigkeit danken, denn diese Einspielung ist bis heute das Maß aller Dinge geblieben. Meiner bescheidenen Meinung nach gehört diese unverzichtbare Aufnahme zu den besten Einspielungen eines Klavierwerks aller Zeiten!

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Die ehemalige Referenzaufnahme ist natürlich trotzdem noch hörenswert, denn Martha Argerich spielte auf ihrer Debüt-CD das Werk ebenfalls auf eine Art und Weise ein, die kaum idiomatischer für ihren Stil sein könnte – direkt, forsch und voller Energie. Ihre aufnahme ist vielleicht weniger subtil als die von Pogorelich, aber von größter Leidenschaft. (Kleine Notiz am Rande: beim prestigeträchtigen Chopin-Wettbewerb im Jahre 1980 sollte Ivo Pogorelich wegen seiner fremdartig anmutenden Interpretationen gemäß dem Willen der Jury nach der Vorrunde ausscheiden. Diese Maßnahme wurde auch tatsächlich vollzogen, so dass das Jurymitglied Martha Argerich, die sich gegen diese Entscheidung vehement verwehrte, die Konsequenzen zog und demissionierte. Dieser mutmaßlich größte Skandal in der Geschichte des Chopin-Wettbewerbs brachte Pogorelich letztlich wohl mehr ein als wenn er den Wettbewerb gewonnen hätte. Fakt ist, dass der tatsächliche Gewinner des Wettbewerbs, der Vietnamese Dang Thai Son, längst in der Bedeutungslosigkeit versunken ist, während Pogorelich trotz inzwischen reduzierter Auftritte immer noch weiter einige Konzerte gibt.) 

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Einer der vielversprechendsten jungen Pianisten legte eine der besten Versionen seit langem vor: Benjamin Grosvenor. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass seit Pogorelich die Messlatte derart hoch hängt, dass eine Neueinspielung dieses Werkes fast zwangsläufig an dieser Hürde scheitern muss. Grosvenors Interpretation ist jedoch makellos, hat Panache und auch individuelle Klasse.

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Schließlich sei noch auf die Aufnahme von Samson François verwiesen, da der „Scarbo“ so etwas wie sein „Signature Piece“ wurde: abgründig, düster und seinem eigenen durchaus rätselhaften Charakter nicht unähnlich. Beim „Gaspard“ war dieses Enfant terrible jedenfalls vollkommen zuhause, veröffentlichte er doch nicht zuletzt sogar unter dem Namen „Scarbo“ seine Autobiographie. Auf der empfohlenen CD-Box gibt es gleich zwei Einspielungen des „Gaspard“ sowie eine separate Einspielung des „Scarbo“, die am berühmtesten wurde.

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