Die Kreisleriana (eine Art lose Dreiecksgeschichte zwischen Robert, Clara und Kreisler, dem Protagonisten und Kapellmeister aus E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Sammlung mehrerer Texte) zählt zu den bedeutendsten Klavierwerken der Romantik und vereint innerhalb einer halben Stunde praktisch alle Wesenszüge dieses so vielschichtigen und komplexen Komponisten. Binnen kürzester Zeit geben sich lyrische Passagen voll intimer Zartheit und temperamentvolle Ausbrüche die Klinke in die Hand. Dass das Werk von Schumanns Zeitgenossen kaum verstanden wurde, überrascht angesichts seiner rhapsodisch wirkenden Sätze nicht sonderlich – zudem stehen manche von ihnen in dreiteiliger Liedform, während andere durchkomponiert sind. Insider finden auch jede Menge Anspielungen in dem Werk versteckt: so ist der fugierte Mittelteil von Nr. 7 oder das Finale, das deutliche Züge einer Gigue aufweist, ganz klar eine Hommage an Bach, den Schumann (wie alle Romantiker) sehr schätzte. Er ging so weit, von sich und seinen komponierenden Kollegen zu behaupten, „dass wir gegen ihn alle nur Stümper“ seien.
Schumanns großes Opus offenbart seine Qualitäten nicht unbedingt beim ersten Hören, weil die Struktur so wenig fassbar ist und man sich an diese unstete Stimmungslage, die das Werk durchzieht, durchaus erst gewöhnen muss. Allein der Schluss des Werkes würde locker einen ganzen Absatz verdienen: der in tiefster Lage ins Nichts entschwindende Klang hat nichts Heroisches, Bestimmtes oder gar Definitives. Stattdessen entsteht eine transzendentale Stimmung von völlig offenem Charakter – dergestalt, wie ihn die Romantiker so liebten. Genau wie der Horizont in den Gemälden eines Caspar David Friedrich wirkt der rätselhafte Schluss wie durch nichts eingeschränkt: so, als würde die Musik einfach imaginär fortgeführt. Idiomatischer für Schumanns ganzes Wesen und musikalisches Credo könnte die Kreisleriana kaum sein; es ist daher nicht vermessen, zu behaupten, dass es wohl seine persönlichste Komposition ist.
Der russische Jahrhundert-Pianist Vladimir Horowitz machte einige der Werke Schumanns zu Eckpfeilern seines Repertoires. Dies ist nicht weiter verwunderlich, weil Schumann und Horowitz erstaunlich viele Ähnlichkeiten in puncto Charakter aufwiesen. Gäbe es so etwas wie ein „signature piece“ im Repertoire von Horowitz, so wäre die Kreisleriana auf jeden Fall ein ganz heißer Anwärter. Horowitz lotet die sensible Stimmungslage des Komponisten bis ins kleinste Detail aus und erschafft eine Landschaft voller polyphoner Schichten und hinreißender Eingebungen. Die Spontaneität, die Horowitz dem Werk angedeihen lässt, ist überwältigend und wirkt ungemein authentisch. Diese Aufnahme sollte in keiner Sammlung fehlen.
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Das ungestüme Temperament von Martha Argerich ist für die Kreisleriana ebenfalls wie geschaffen. Sie setzt in ihrem Spiel ganze Schübe an Adrenalin frei, nur um im nächsten Moment schon wieder in eine völlig introvertierte Stimmung zu verfallen. Die Aufnahme punktet gegenüber Horowitz mit der besseren Klangqualität und darf als praktisch ebenbürtig angesehen werden. (Man beachte übrigens, dass sowohl bei Argerich als auch bei Horowitz die zuvor besprochenen Kinderszenen jeweils auf derselben CD eingespielt sind – die Links sind somit identisch wie bei den Kinderszenen, wo die beiden Aufnahmen dieser Interpreten ebenfalls empfohlen wurden.)
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Wenn den oben empfohlenen Aufnahmen überhaupt ein kleiner Makel anhaftet, dann ist es ein gewisser Mangel an technischer Genauigkeit zugunsten von Spontaneität. Die technisch sauberste Darbietung, die indes keine Sekunde steril wirkt, hat der russische Pianist Jewgeni Kissin anzubieten. Die Akkuratesse (vor allem in puncto Rhythmik), die er bei seinem Spiel an den Tag legt, ist atemberaubend – und das, obwohl sie niemals zu Lasten der Musik geht. Logischerweise ist das Endergebnis nicht ganz so aufregend wie bei Horowitz und Argerich, aber verstecken muss sich diese intensive Aufnahme keinesfalls.
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