Schattbuch*, Amtzell

„Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.“ (Eugène Ionesco)

Juni 2020

Ein Tagesausflug ins schöne und weitgehend von großen Touristenströmen freie Oberschwaben sollte an diesem Abend mit einem Besuch in einem mir bisher nicht bekannten Restaurant würdig beendet werden. Bevor es soweit war, stand allerdings eine kurze Stippvisite in Ravensburg an, wo um die Jahrtausendwende das legendäre Restaurant Waldhorn laut Gault&Millau zu den besten Restaurants von Deutschland gehörte. Der legendäre Albert Bouley, den der Berliner Großmeister Tim Raue zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen zählt, etablierte hier eine asiatische geprägte Fusion-Küche, deren Reputation bis weit über die Grenzen der Region nachhallte. Nach dem viel zu frühen Tod des legendären Patrons im Jahre 2013 wurde das berühmte Haus im Herzen der Altstadt noch auf niedrigerem Niveau weitergeführt, bis das vorläufige Ende im Herbst des letzten Jahres endgültig eintrat. Glücklicherweise klärt wenigstens noch eine Internetseite alle Interessenten über die ruhmreiche Historie des Hauses auf. Heute hingegen ist die Region Oberschwaben und westliches Allgäu quasi kulinarische Diaspora, denn innerhalb eines riesigen Vierecks, dessen Eckpunkte die Städte Ulm, Augsburg, Pfronten und Ravensburg bilden, gibt es nicht ein einziges Lokal, das der Gault&Millau derzeit als würdig ansieht, in den gelben Restaurantführer aufgenommen zu werden.

Zurück zum aktuellen Geschehen: das erst vor wenigen Jahren eröffnete Restaurant Schattbuch liegt in Amtzell, einer Gemeinde etwa 20 Kilometer nördlich von Lindau. An der Schnittstelle von Oberschwaben, der Bodenseeregion und dem westlichen Ällgau gelegen, konnte sich diese neue Adresse schnell in den Profi-Guides etablieren, obwohl sie etwas abgelegen in einem Industriegebiet liegt. Mit einem recht kleinen Küchenteam unter der Leitung von Chefkoch Christian Grundl und Maître Alexander Marz wurden binnen kurzer Zeit schon beachtliche Erfolge erlangt: ein Michelin-Stern und 16 G&M-Punkte erreicht man schließlich nicht im Handumdrehen.

Das schicke, lichtdurchflutete Restaurant selbst setzt auf eine fast lounge-artige Atmosphäre mit viel Glas und edlen Werkstoffen. Der Trumpf des Hauses – zumal in Corona-Zeiten – ist jedoch die weitläufige Veranda mit einem künstlichen Teich. Hier sind die Tische in wirklich geräumigem Abstand und toller Atmosphäre zueinander gestellt, zumal durch ausgeklügelte Technik das Dach und die umgebenden gläsernen Wände bei kühler Witterung oder Regen auch geschlossen werden können. Mittags kocht man hier für die Belegschaft der Firma nebenan bescheidener auf, doch abends scheint dieses Lokal binnen kürzester Zeit bereits eine beträchtliche Anzahl an Habitués generiert zu haben. So fanden sich an diesem Abend nicht weniger als 14 Gäste ein, von denen außer meiner Wenigkeit sonst keiner hier zum ersten Mal zu sein schien.

Man geleitet mich also mit Mundschutz zu meinem Platz, einem quadratischen Tisch mit klassischem weißem Leinentuch darauf. Das Besteck hingegen ist deutlich moderner gehalten und sieht nach dem Werk eines Designers aus, was auch zur Ästhetik im Innenbereich gut zu passen scheint. Noch vor dem Reichen der Speisekarte trägt man eine Kleinigkeit auf: ein Grissini mit Sellerie-Meerrettich-Crème, verfeinert mit Wurzelspeck. Ein schöner, bekömmlicher Einstieg. Dazu lasse ich mir ein eiskaltes Wasser und einen Sanbitter mit Tonic geben, der zu diesem warmen Tag hervorragend passt.

Die Speisekarte umfasst ein sechsgängiges Menü zu € 99 sowie einige Gerichte à la carte – das alles zu durchaus moderaten Preisen. Ich entscheide mich für das volle Programm – mit einer kleinen Modifikation, doch dazu später mehr. Außerdem leiste ich mir die Getränkebegleitung rund um Produkte aus der Manufaktur Jörg Geiger.

Ein weiterer Gruß wird noch aufgetragen, bevor es richtig losgeht: Kalbszunge mit einem Brotchip, Beluga-Linsen, Blumenkohl-Crème und rote Bete. Ein herber Einstieg mit recht grellen Kontrasten, doch das Kalkül geht auf. Sehr schön!

Nicht unerwähnt bleiben soll auch die überdurchschnittliche Brotauswahl mit Olivenöl und einem aromatisch dichten Bärlauch-Aufstrich. Zudem wird die Auswahl ohne Nachfrage nochmals aufgefüllt.

Der erste offizielle Gang besteht aus Saibling, Holunderblüte, Rettich und Brunnenkresse. Der confierte und sehr zarte Fisch bekommt durch die Variante mit der krossen Haut noch etwas Abwechslung, während der eigentliche Fokus aber eher vom Hauptdarsteller weggelenkt wird. Der sauer eingelegte rote Rettich und die Tupfen von Brunnenkresse sind sehr prominente Begleiter und verleihen dem Gang Biss und eine elegante, durchaus präsente Würze, die von den typischen, leicht süßlichen Holundernoten gekonnt abgefedert wird. Alles in allem ein schöner Auftakt! Dazu passend: der herbe PriSecco Nr. 10 – Mostbirne und wilder Holunder.

Als zweites reicht man Pekingessenz mit Entenkeule und Shiitake-Pilzen. Die leicht mit Zitronengras veredelte Essenz hat ordentlich Umami, doch für die beigefügte Teigtasche mit Entenrillette auf Shiitake-Chutney gilt dies erst recht – speziell davon hätte es gerne noch mehr sein dürfen, denn mit der Zeit gerät die Essenz etwas eindimensional. Trotzdem: ein solides Gericht auf Ein-Stern-Niveau mit asiatischen Anklängen. Als Begleiter gibt es PriSecco Nr. 12: Schwarzriesling und Johannisbeerzweige.

Zum besten Gericht des Abends wird Kalbsbries mit Erbse, Aubergine und Artischocke. Das Bries kommt sowohl in gebackener als auch gebratener Form auf den Teller, wozu gerade die säuerliche Artischocken-Crème einen stimmigen aromtischen Kontrast setzt. Die Erbsen-Crème wird als kleiner Gag mit falschen Erbsen inszeniert, während die Nocke aus Auberginen-„Kaviar“ (so wird es vom Service annonciert!) mit den etwas süßlichen Noten dem Gericht eine überraschende Vielfalt verleiht. Ausgezeichnet! Ein idealer Begleiter: PriSecco Nr. 22 mit Apfel, Brennessel und Stachelbeerlaub.

Etwas weniger überzeugend gerät Krabbe mit Spargel, brauner Butter, Ei und Estragon – hauptsächlich deshalb, weil der Hauptdarsteller schon angesichts seiner schieren Größe zum Statisten verkommt. Das mit brauner Butter und Eigelb gefüllte Raviolo ist eine Wucht, und auch die Varianten von weißem und grünem Spargel als Crème, Schaum und in geflämmter Form machen durchaus etwas her. Bleibt also die Frage nach dem blassen Hauptdarsteller, der auch im Falle einer doppelt so großen Menge das Gericht bestimmt nicht aus der aromatischen Balance geworfen hätte. So hingegen hätte man im Prinzip getrost auf ihn verzichten und daraus ein rein vegetarisches Gericht machen können. Begleitend dazu „Inspiration 4.4“: grüne Jagdbirne, Weißdorn und Holz.

Kommen wir zum Hauptgericht: hier leistete sich der Service den einzigen Patzer, denn ursprünglich hatte ich das vorgesehen Gericht gegen Husumer Deichlamm ausgetauscht, doch schien das irgendwie untergegangen zu sein. Wegen der besonderen Umstände und der frühen Schließungszeiten wegen der Corona-Epidemie habe ich dann letztlich auf eine Reklamation verzichtet, doch tatsächlich sollte das Hauptgericht letztlich der schwächste Gang werden. Dieses trägt den Namen Maibock, Gewürzjus, Spitzkraut, Blaubeere und Süßkartoffel. Das auffallend kurz gebratene Fleisch hätte für meine Begriffe ruhig noch ein wenig in der Pfanne verweilen dürfen, zumal auch die Gewürzjus blass blieb. An dem Krautwickel und den Tupfen von Blaubeer-Gel gab es nichts auszusetzen, doch die Balance des Gerichts war der eigentliche Schwachpunkt: die Brandade von Süßkartoffel mit der Garnitur von Blaubeeren und Granatapfelkernen machte zwar optisch viel her, wirkte aber geschmacklich eher flach und in erster Linie als fast schon plumpe Sättigungsbeilage, die dem Maibock die Schau stahl. So herausragend geriet die Brandade jedenfalls nicht, dass man sie so überdimensionieren musste. Als Getränkebegleitung dazu PriSecco Nr. 9: Kerner, Müller-Thurgau und Portugieser.

Versöhnlich stimmte da das eingeschobene Pré-Dessert, das, obschon es nicht zu kompliziert geriet, zu überzeugen vermochte: das exzellente Aprikosen-Sorbet mit der Cerealien-Waffel gewann vor allem durch die subtile Beigabe von Mispelcrème deutlich an Profil. Wunderbar!

Ein geschmackliches Highlight setzte dann das Dessert: Walderdbeere, Rhabarber, Mandel und Thaibasilikum. Das dominierende Sorbet im Zentrum des Tellers wird schön säuerlich mit Rhabarbergel und Mandelschaum im krossen Keks begleitet, doch der eigentliche Clou ist das Basilikum, das dem Dessert einen ungewohnten Kick verleiht und die Zusammenstellung der Beliebigkeit entreisst. Die Fülle an Texturen gerät zudem nicht zum Selbstzweck, sondern vermeidet zuviel Aufdringlichkeit. Ein schöner Abschluss! Bei Einbruch der Dämmerung gibt es noch zwei ordentliche Kugeln aus Kalamansi und Kokos, wenngleich schon klar sein dürfte, dass für höhere Weihen hier mehr geboten werden muss. Flüssiger Begleiter: PriSecco Nr. 23 (Rhabarber, Apfel und Blüten).

Was bleibt also von diesem Abend unter besonderen Umständen? Beginnen wir mit der Küchenleistung: nach acht Wochen Dornröschenschlaf scheint ein stabiles Niveau etabliert, aber im Detail ließ hin und wieder einiges zu wünschen übrig. So wurde die Größe des jeweiligen Hauptdarstellers in manchen Gängen ohne ersichtlichen Grund (außer den Kosten natürlich) auf Lupenformat reduziert. Außerdem trat mit der Zeit bei den Zubereitungsarten eine gewisse Vorhersehbarkeit ein, da das Spektrum hier noch nicht sonderlich variabel schien. Gerade bei dem Hauptgericht wurde ein bisweilen merkwürdiges Gespür für Portionen und deren Balance bemerkbar. Auf der anderen Seite mangelt es dem Team um Chefkoch Grundl keineswegs an originellen Einfällen, deren Umsetzung derzeit eben mal besser und mal schwächer gelingt. Die zeitgemäße, aber insgesamt eher klassisch wirkende Küche wusste in ihren besten Momenten jedenfalls sehr zu gefallen, zumal die Stammgäste praktisch bei jedweder Gelegenheit ihre Begeisterung zum Ausdruck brachten. Eine unverwechselbare Stilistik konnte ich allerdings noch nicht feststellen, denn neben gelegentlichen asiatischen Anleihen suchte man so etwas wie einen gemeinsamen Nenner noch vergeblich. Dennoch möchte ich für den wirklich bescheidenen Menüpreis die Messlatte jetzt nicht zu hoch hängen, zumal das Menü alles in allem immer noch den Urteilen der anderen Guides durchaus entsprach.

Eine überraschend große Vielfalt an Geiger-PriSeccos (darunter auch recht seltene Sorten) zum moderaten Preis sowie durchaus rare Spirituosen machten außerdem einiges, was an diesem Abend vielleicht nicht optimal lief, bis zu einem gewissen Grad wieder wett. Außerdem gab sich das rein männliche Serviceteam trotz der ungewohnten Begleitumstände alle Mühe, freundlich und aufmerksam zu sein – mit Ausnahme der Episode zum Hauptgericht klappte dies auch ganz ordentlich.

Zusammengefasst stelle ich fest, dass ich so schnell kaum wieder in der Region sein werde, doch ist es schön zu wissen, dass es hier eine solide Ein-Stern-Adresse gibt, wenn dies doch der Fall sein sollte. Hier ist für die kommenden Jahre durchaus noch Potential vorhanden, zumal der GUSTO bislang noch gar nicht auf das Lokal aufmerksam geworden ist. (UPDATE 15.7.2020: Der GUSTO ist jetzt mit 6,5 Pfannen aufgesprungen.)

Mein Gesamturteil: 15 von 20 Punkten

 

Schattbuch
Schattbucher Straße 10
88279 Amtzell
07520/953788
www.schattbuch.de

Guide Michelin 2020: *
Gault&Millau 2020: 16 Punkte
GUSTO 2020: 6,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 2,5 F

6-gängiges Menü: € 99