„Denken ist Inspiration der Freiheit.“ (Bettina von Arnim)
UPDATE (Oktober 2023)
Schon bei meinem ersten Besuch war ich ja schwer angetan von den Darbietungen des Maximilian Schmidt, der noch keine 30 Jahre alt ist und schon in Regensburg sowie weit über die Region hinaus beachtliche Zeichen setzen konnte. Gut möglich, dass ein weniger austauschbar klingender Name noch hilfreicher für den Bekanntheitsgrad wäre, aber einen Thomas Müller vom FC Bayern kennt ja bekanntlich heute auch jeder. Jedenfalls hat der weit überdurchschnittlich begabte Jungkoch bereits seinen ersten Stern ergattern können und schickte sich schon – gemessen an dem, was ich bei der Premiere vorgesetzt bekam – eher an, auf den zweiten Macaron zu schielen: so elaboriert, durchdacht und vor allem eigenständig wirkten seine Kreationen trotz namhafter Lehrmeister bereits auf mich. Ein kurzer Sprung am Nachmittag in die Domstadt an der Donau bot sich für frische Eindrücke an, da sein Lokal als eines der wenigen dankenswerterweise auch am Samstagmittag geöffnet hat. Dort erwartet den Gast ein vorgegebenes viergängiges Menü zum Preis von € 65, was ein mehr als faires Angebot darstellt. Aus Kostengründen scheint mir der Fokus bei diesem Menü stärker vegetarisch als beim Abendmenü ausgerichtet zu sein, aber das muss per se natürlich keinen Mangel darstellen. Ich bin tatsächlich recht neugierig, ob in den anderthalb Jahren seither schon wieder ein weiterer Fortschritt zu verzeichnen ist …
Leichten Schrittes suche ich also erneut das mitten in der Altstadt befindliche Hotel Roter Hahn auf, dessen unübersehbar rote Fassade viele Blicke auf sich zieht und dessen gleichnamiges Restaurant das Reich des ambitionierten Chefs ist, der hier offenbar Großes vorhat. Das stylische Ambiente mit den Deckenventilatoren will einerseits nicht so recht zur mittelalterlichen Altstadt passen, hebt sich aber andererseits durch seine geschickte Synthese von altem Mauerwerk und modernen Stilelementen wohltuend vom Einerlei der meisten anderen Restaurants ab. Die Musik stammt übrigens von einem Plattenspieler, der in schöner Regelmäßigkeit vom Service bedient wird – anhand der LPs lässt sich ein gewisses Faible des Chefs für Phil Collins, Queen und andere Größen, deren Blütezeit schon länger zurückliegt, erahnen. Passend zu den blanken Holztischen, die mit einer schwarzen Platzmatte eingedeckt sind, gibt sich auch der junge Service, der offenbar viel Wert auf ein unbeschwertes Genusserlebnis legt, betont locker. Pikant erscheint zudem eine Bemerkung auf der hauseigenen Homepage, laut der Hochküche auch in der Jogginghose schmeckt und diese deswegen ebenfalls geduldet würde …
Ich schlage diese Empfehlung ausnahmsweise aus und bestelle als Apéritif einen mit Soda aufgegossenen Saft von der Hirschbirne aus dem Hause Obsthof Retter, der in der Steiermark liegt und sich in den letzten Jahren ein beachtliches Renommée erarbeiten konnte. Zu den beiden Apéros erscheint der junge Chef gleich persönlich am Tisch und erläutert die sorgsam konzipierten Petitessen höchstselbst: in der Tartelette befindet sich mariniertes Störtatar mit Walnuss und Schmorgemüse. Der herzhaften Salinität dieses kompakten Happens setzt das Team noch einen minimal süßen Counterpart in Form von gepickelter Kirsche entgegen, was sich als kühne, aber effektvolle Idee erweist. Der zweite Beitrag thront auf der Hälfte eines Macarons aus (erstaunlich herzhafter) Tomatengazpacho und besteht aus Burrata, Kürbisgel und einem kandierten Algenchip. Es ist absolut beeindruckend zu sehen, welch außergewöhnliche Einfälle der junge Koch bar jeder Routine ersinnt, die trotzdem prächtig funktionieren. In beiden Fällen erweist sich die Aromatik als betont salzig, doch bei genauem Hinschmecken offenbaren sich dem Gast viele subtile Effekte, die jede Vorhersehbarkeit entkräften. Das muss man sich nämlich erst einmal trauen, in solch einem jungen Alter schon derart individuelle und höchst durchdachte Apéros aufzutischen – eine Menge Erfahrung ist dafür sicherlich notwendig, aber dank illustrer Lehrmeister wie Björn Frantzén und Martin Klein sind die Voraussetzungen dafür offenbar mehr als gegeben. Bravo!
Zu dem Sauerteigbrot, das per se schon qualitativ in der Oberliga angesiedelt ist, reicht der Service einen Aufstrich, der mit Rhabarber, Champagneressig, Honig und Latschenkiefer verfeinert wurde. Zwar ist mir dies noch vom letzten Ma(h)l bekannt, aber angesichts der Einzigartigkeit und des Suchtpotentials dieser Beigabe wird man gerne zum Wiederholungstäter!
Nach diesem klug dosierten Auftakt harre ich gespannt des Entrées, denn allein die auf der Speisekarte angekündigte und außergewöhnlich klingende Kombination von Weißkraut, Egerlingen, Schalotten und fermentierter Stachelbeere weckt zugegebenermaßen meine Neugier. Was dann auf den Teller gelangt, macht optisch vielleicht weniger her als erwartet, aber in geschmacklicher Hinsicht werden die Grenzen des Erwarteten dafür deutlich gesprengt: der zu einer Nocke verarbeitete eingelegte Weißkohl mit Kohlrabi ist von einer Hülle aus koji-gereiften Egerlingen und karamellisierten Schalotten ummantelt. Damit setzt Maximilian Schmidt ein echtes aromatisches Statement, denn die kraftvolle Erdigkeit wird durch die leichte Süße und den bemerkenswerten Biss subtil entwaffnet. Allein dadurch wird auch nur der Anflug von Eindimensionalität unterbunden, wobei auch der mit Paprika akzentuierte Sud von fermentierter Stachelbeere einen spürbaren Anteil am Gelingen diese Gerichts hat. Geradezu fabelhafte Spitzen setzen jedoch die nicht annoncierten Komponenten wie Würzpaste XO und insbesondere die schwarze Zitrone, die eine Crème fraîche direkt unter der „Haube“ auf verblüffende Weise aufwertet. Der nordische Einfluss von Björn Frantzén ist hier deutlich spürbar, aber ganz so rustikal wie in dieser Stilistik häufiger anzutreffen kommt dieser Gang dank einer gewissen Eleganz nicht daher. Fraglos ein mehr als gelungener Auftakt!
Exemplarisch erwähnt sei an dieser Stelle ein Getränk aus der alkoholfreien Begleitung, das rund um Birnengarum (!) konzipiert wurde: veredelt mit Zitronenmelissenöl, gibt das Team noch Staudensellerie, Verjus, grünen Apfel und Meerrettich dazu. Der Klang wirkt fast schon schauderhaft, aber der ungeheuer komplexe Geschmack rechtfertigt mit seinem kraftvollen Aroma die Experimentierfreude vollauf. Wenn alle Getränke der Begleitung so durchdacht sein sollten, dann hat diese Küche eine verblüffende und bemerkenswerte Meisterschaft auf diesem Gebiet errungen. Gut möglich, dass ich beim nächsten Mal die volle Begleitung dazu bestelle, denn selten hat mich ein flüssiger Begleiter stärker begeistert!
Noch um einiges reduzierter gibt sich das nahezu monothematische Spiel rund um Hokkaido-Kürbis. Die ausgesprochen körperbetonte und geschäumte Nage gestattet es der Küche, darunter auf geschickte Weise kontrastierende Aromen von Granny Smith als feinste Würfel zu verstecken – ein amüsantes, aber absolut sinnstiftendes und kontrastierendes Element in diesem Gang, dem hauptsächlich Garam Masala sein Umami verleiht. Der Kürbis selbst tritt in geflämmter und geräucherter Form auf, doch unter dem Schaum verstecken sich noch Purée und Brunoise desselben Produkts, das somit in allen nur erdenklichen Varianten verarbeitet wird und die große Wandelbarkeit dieses Produkts betont. Jedenfalls schlägt dieses Gericht mit einem fast schon kryptischen Design voll ein und gehört offenbar auch zu den Favoriten der Servicetruppe. Dem kann man nur uneingeschränkt beipflichten, denn was Maximilian Schmidt aus einfachsten Viktualien zaubert, hat wirklich Hand und Fuß!
Noch immer angetan von der beispielhaften Getränkebegleitung gebe ich nochmals nach, bestelle auch zu diesem Kürbisgang das korrespondierende Glas und bekomme einen alkoholfreien Cuvée auf Basis von Kombucha aus dem Hause Muri in Kopenhagen. Diesen ergänzte das Team noch um Saft von Feige, Johannisbeere und Erdbeere, wenn ich den Service richtig verstanden habe. Geschmacklich komme ich zu dem Ergebnis, kaum etwas Vergleichbares bislang getrunken zu haben – das ist fraglos spannend und absolut passend.
Weniger Raum für die überbordende Kreativität des Chefs lässt das eher klassische Hauptgericht, das möglicherweise den etwas konservativeren Teil des Gästeschar ansprechen soll: das medium gebratene Roastbeef hat dennoch einiges zu bieten, wartet es doch neben mustergültiger Qualität mit einigen Überraschungen auf. Neben einem Schuss Sherryessig wären hier vor allem die flambierten Feigen und der sautierte Steinpilz zu erwähnen, die für ein spannungsgeladenes und kontrastreiches Topping sorgen. Weitaus klassischer wirken dagegen Pomme Paillasson (vor allem in der Schweiz auch als Rösti bekannt) links vom Fleisch und die mit Koriander abgeschmeckte, gleichwohl eher milde Sauce Vierge. Die karamellisierte Zwiebel fällt auch in die eher altmodische Kategorie, ist aber bislang schwerlich so originell wie hier auf den Teller gelangt. Die klassische Reifeprüfung hat Maximilian Schmidt jedenfalls problemlos und mit Bravour bestanden, selbst wenn ich unterschwellig des Gefühl habe, dass seine Stärken woanders liegen.
Ganz bei sich ist der junge Chef wieder beim Dessert: hier kann er seiner Phantasie, wenn es darum geht, Gemüse in ein Dessert zu integrieren, freien Lauf lassen: natürlich kommt nicht nur das Grün der Petersilienwurzel zum Einsatz, sondern sie wird auch wie selbstverständlich ganz ausgelassen als Crème, Eis oder getrockneter Chip interpretiert. Gebettet ist all dies auf einem Haselnusscrumble, auf welchem sich neben zahlreichen Texturen von weißer Schokolade auch noch Geltropfen von Heidelbeere (auch auf dem Grün!) befinden. Für die geschmackliche Abrundung sorgt Verbene und untermauert so den Eindruck eines wenig zuckerlastigen Ausklangs, der sehr eigenwillig daherkommt und trotz des hohen Aufwands mit einer ökonomischen Zahl an Produkten auskommt, denen zudem nichts Exotisches anhaftet. Mit diesem Beitrag von ordentlichem Biss lehnt sich die süße Abteilung ziemlich weit aus dem Fenster, doch das Kalkül geht auf: es ist zauberhaft zu sehen, wie fortschrittlich und gleichzeitig bei vollem Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten die Küche hier schon agiert. Große Klasse!
Zum Ausklang erscheint Maximilian Schmidt nochmals an meinem Tisch und erläutert zunächst die Petits fours: zur linken haben wir eine etwas konventionellere Kirschpraline mit einer geeisten Hülle aus weißer Schokolade und zur rechten wieder einen sehr individuellen Beitrag in Form von Eistee mit Schaumkrone von Pfirsich und Basilikumöl. Trotz der Kontraste hält dieses Finale die Spannung bis zum Ende hoch und weist überzeugend nach, dass die Fülle an Ideen nicht nur aus reinem Selbstzweck umgesetzt wird, sondern wirklich überzeugt und mit einer unverwechselbaren kulinarischen Aussage einhergeht.
Mein Feedback (in verknappter Form) holt sich Maximilian Schmidt auch noch ein, auch wenn die Arbeit wieder ruft: besonders erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass die Küche hier keinesfalls auf hochpreisige Zutaten angewiesen ist, um ihre zweifellos vorhandenen Stärken voll ausspielen zu können. Um die volle Bandbreite kennenzulernen, muss dem Gast wohl objektiv zu einem Besuch abends geraten werden, doch ändert es nichts daran, dass all die Vorzüge dieser Küche trotz einfacherer Zutaten mittags genauso hell erstrahlten wie abends anderthalb Jahre zuvor. Maximilian Schmidts Kulinarium bewegt sich öfters am Rande der nordischen Küche, provoziert aber niemals und baut auf einen schier unerschöpflichen Fundus an Überraschungen – sei es dergestalt, dass Gemüse fast immer stilsicher und gewinnbringend zum Einsatz kommt oder dass Erwartungen meisterhaft in die Irre geleitet werden. Kaum eines der Gerichte meint man jemals in ähnlicher Form gegessen zu haben, was ihren Reiz noch spürbar aufwertet – und wenn doch, dann wartet um die Ecke schon die nächste aromatische Überraschung, mit der man nicht gerechnet hat. Bunt ist diese Küche durchaus, aber keinesfalls verspielt: überflüssigen Schnickschnack sucht man auf den Tellern vergebens, denn jede Komponente soll immer noch deutlich identifizierbar bleiben und als solche geschmacklich auf sich aufmerksam machen.
Besonders imponierte mir die Tatsache, dass sowohl optisch ausgelassenere Gerichte als auch fast schon minimalistische Kreationen gleichermaßen gut gelangen – durch diese geschickte Dramaturgie vermag die Küche, die Intensitäten variabel zu halten und die Aufmerksamkeit des Gastes über einen längeren Zeitraum mühelos hoch zu halten. Bereits die Ankündigungen in der Speisekarte wecken des öfteren die Neugier, doch mit dem Auftragen wird dieser Eindruck meist noch gekonnt verstärkt. Die Qualität wird dabei trotz des kurzweiligen Programms zu keiner Zeit vernachlässigt, was gemessen an der großen Zahl an Überraschungen und teils höchst ungewöhnlichen Designs vielleicht die bemerkenswerteste Eigenschaft dieser Küche darstellt. Wie oft hat man schon beobachtet, dass Reife oft mit einer gewissen Langeweile oder Routine einhergeht?! Wenn man das fast schon beängstigend hohe Niveau betrachtet, das der junge Koch schon jetzt erreicht hat, so kann man ob der Ausgelassenheit mancher Teller und deren gleichzeitiger Reife nur ungläubig staunen.
Zusammengefasst ist es schwer vorstellbar, dass der zweite Stern des Guide Michelin noch lange auf sich warten lässt: zu überzeugend, zu ungewöhnlich und zu selbstsicher sind die Teller bereits konzipiert als dass ein Verharren bei einem Stern noch angemessen erscheint. Die überbordende Kreativität, das praktisch fehlerfreie Handwerk und die kluge Dramaturgie setzen absolut Maßstäbe und stellen klare Indizien dafür dar, dass sich der Rote Hahn bereits wohltuend von den Einsternern der Republik abhebt und eine ganze Menge zu bieten hat. All das gibt es zudem immer noch für erstaunlich kulante Preise, so dass weitere Besuche meinerseits fest eingeplant sind. Zusammen mit Niclas Nussbaumer (Mühle, Schluchsee) würde ich Maximilian Schmidt, diesen ambitionierten jungen Mann, zu den derzeit größten Talenten seiner Generation in Deutschland zählen wollen. Überzeugen Sie sich selbst!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Roter Hahn
Rote-Hahnen-Gasse 10
93047 Regensburg
Tel.: 0941/595090
www.roter-hahn.com
Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 3 Toques
GUSTO 2024: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3,5 F
4-gängiges Mittagsmenü: € 65
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„In der Jugend lernt, im Alter versteht man.“ (Marie von Ebner-Eschenbach)
Mai 2022
Erneut führen mich meine Schritte durch die pittoreske Altstadt von Regensburg, die nicht ohne Grund zum UNESCO-Weltkulturerbe gezählt wird. Am Ende meines Weges stehe ich vor einem nicht sonderlich auffallenden Gebäude, dessen Fassade in Weiß- und Rottönen gehalten ist. Der abschließende Teil meiner Regensburg-Trilogie ist nämlich dem bislang jüngsten Sternerestaurant in der Domstadt gewidmet: der Rote Hahn im Herzen der Altstadt ist schon seit vielen Jahren im Bereich der Hotellerie und Kulinarik eine gehobene Adresse, doch mit der Rückkehr des Sohns zum heimischen Betrieb der Eltern nach Wanderjahren in der ganzen Welt scheinen die Leistungen der Küche regelrecht durch die Decke gegangen zu sein. Offenbar hat sich der Rote Hahn binnen kürzester Zeit zu einem echten Hotspot der Szene entwickelt …
Darf ich vorstellen? Chefkoch des Lokals ist der erst 27-jährige Maximilian Schmidt, dessen Ausbildungsstationen sich kaum beeindruckender lesen könnten: zunächst sammelte er seine ersten Sporen bei Lokalmatador Anton Schmaus vom STORSTAD, bevor es ihn zu nicht weniger als drei Weltklasseadressen zog: das Salzburger Ikarus, das Frantzén in Stockholm (welches nicht wenigen Kennern als eines der besten Lokale der Welt gilt) und das dreifach besternte Odette in Singapur. Angesichts solcher Referenzen sind beste Voraussetzungen für eine entsprechende Karriere gegeben, zumal die bisherigen Auszeichnungen (ein Michelin-Stern sowie 8 Pfannen im GUSTO) eine deutliche Sprache sprechen. Da ich erst durch die Rezension des GUSTO auf das Lokal aufmerksam wurde, bin ich noch gespannter als sonst. Wie viel darf man denn nun von einem 27-jährigen Chef erwarten – sind das übertriebene Vorschusslorbeeren oder bahnt sich hier gerade eine Ausnahmekarriere an?
Das Interieur des Lokals ist eine gelungene Synthese aus uraltem Mauerwerk und Designelementen, die überwiegend in Schwarz gehalten sind. Die blanken Holztische sowie die Platzmatten deuten frühzeitig darauf hin, dass Casual Fine Dining hier offenbar groß geschrieben wird und der Unterhaltungsfaktor eine nicht unerhebliche Rolle im Laufe des Abends spielt. Beim Anblick der Deckenventilatoren weht unweigerlich ein Hauch von New Orleans durch das Lokal, doch so schwül und heiß wie in der Metropole am Mississippi-Delta ist es zum Glück nicht. Der Service geleitet mich zu einem quadratischen Tisch direkt am Fenster, was mir zudem einen guten Überblick über das Lokal, das auf mehreren Ebenen angelegt ist, gestattet. Auffallend oft wird mich der Service an diesem Abend mit Namen ansprechen – hat man sich etwa im Vorfeld über mich schlau gemacht?! Jedenfalls wird man mich nach jedem Gang nach meinem Eindruck fragen und nicht nur vorgeschobenes, sondern ehrliches Interesse daran bekunden. Das kann ein ungewöhnlicher Abend werden!
Ein einziges angebotenes Menü namens „Experience Menü“ kann in vollem Umfang zu acht Gängen (€ 170) oder in einer verknappten Version (€ 135) zu fünf Gängen bestellt werden. Wegen zahlreicher Restaurantbesuche binnen kurzer Zeit entscheide ich mich für die verkürzte Version – und sollte dies angesichts der kommenden Darbietungen schon bald bereuen …
Zu einem „Sissi Spritz“ (Holundersaft mit Ginger Ale) serviert man die ersten Apéros, die speziell in optischer Hinsicht einiges hermachen: beim Rhabarbermacaron mit Pumpernickel und einer Füllung von Griebenschmalz scheint die Füllung fast wichtiger, wenngleich vom Macaron ein schöner Säurekick ausgeht. Beim zweiten Apéro versteckt sich unter der Ricotta-Haube eine Füllung von Preiselbeeren, Pfifferlingen, Ricotta, Zwiebel und Brennessel – eine enorm vielfältige Eingebung, in der überwiegend herben Noten bei leichter Cremigkeit eine fruchtbetonte Akzentuierung entgegengestellt wird. Das funktioniert prächtig und hängt die Messlatte schon mal richtig hoch. Als nächstes folgt ein Custard, welches mit der exotischen Füllung von Königskrabbe, Zwiebel, Bier sowie Blutpflaume aufwartet und weit besser als erwartet funktioniert. Noch mutiger, aber letztlich als doch zu gedrängt wirkt auf mich dagegen das Gunkan mit Brioche, Koji, Nori-Alge, Apfel und Ananas, weil zu viele disparitätische Aromen auf zu dichten Raum gedrängt wurden. Der letzte Einfall mit Rindertaco und Meerrettich ist wieder schlichter gehalten, funktioniert aber vielleicht gerade deswegen besonders gut nach den komplexen Vorgängern. In Summe ist dies jedenfalls eine höchst bemerkenswerte Parade für einen derart jungen Chef, selbst wenn noch nicht alles perfekt ausbalanciert wirkte.
Mit dem hausgemachten Sauerteigbrot, welches mit einer Salzkruste überbacken wurde, beweist die Küche, dass auch hier die ausgetretenen Pfade vermieden werden sollen, zumal auch der mit Wildkräutern verfeinerte Aufstrich, welcher aus einer Champagner-Honig-Vinaigrette besteht, sich abseits aller Konventionen bewegt und trefflich gelingt.
Beim Auftakt ins Menü mit Dry-Aged-Karpfen, fermentierter Erdbeere und Mairübe erinnert in optischer Hinsicht so manches an das Frantzén in Stockholm, aber geschmacklich vermag das voll zu überzeugen. Der fünf Tage abgehangene Fisch ist von glasiger Konsistenz und entfaltet einen intensiv salzlastigen Geschmack, der ganz reizend kontrastiert wird von der leichten Süße der Erdbeeren und der Fruchtigkeit der Tomaten. Die Vinaigrette aus gegrillter Erdbeere und Tomatenwasser bindet auch die herberen Aromen der Mairübe gekonnt ein, während etwas Forellenkaviar für die geschmackliche Abrundung sorgt. So gehen viele Aromen (salzig – Fisch und Kaviar, süß – Erdbeere, säuerlich – Tomatenwasser und bitter – Mairübe) einträchtig Hand in Hand, was den nachhaltigen Eindruck eines äußerst durchdachten, bemerkenswerten und kühnen Entrées in mir hinterlässt. Die zauberhafte Anrichte trägt natürlich auch noch ihren Teil zum ausgezeichneten Urteil bei …
Unter der mit Dill und fermentiertem Spargel verfeinerten Buttermilch versteckt sich auf dem nächsten Teller Jakobsmuschel in zwei Varianten: einmal in geflämmter und ziemlich bissfester Form, zum anderen als Ceviche. Durch die Verfeinerung der Kreation mit etwas Meerrettich vermeidet man eine zu große Gefälligkeit, selbst wenn die diversen Varianten des Dills schon bemerkenswert geraten und dem Gang sein Gepräge verleihen. Einziger Wermutstropfen an diesem Gang ist der leicht holzige Spargel, der diesem frühlingshaften Gang das Prädikat der Extraklasse entreißt. Es wird allerdings der einzige handwerkliche Fehler an diesem Abend bleiben – und so etwas ist, mit Verlaub, auch schon ganz anderen Köchen (oder deren Mitarbeitern) passiert. Unterm Strich ist dies ein Einfall, der dem Zeitgeist absolut huldigt (viele grüne Elemente, bekömmlich und abseits jeder Routine) und selbst trotz des kleinen Fehlers die Klasse des Chefs offenbart.
Eine ausgeprägt nordische Note kennzeichnet auch den nächsten Teller, bei dem kurz geflämmte Rotbarbe mit zusätzlich gerösteten Schuppen im Mittelpunkt steht. Da erweist es sich als durchaus cleverer Gedanke, den ausgesprochen würzigen und voller Umami auftretenden Fisch auf eine Koji-Beurre-Blanc aus Perlgraupen zu betten, welche zwar einigermaßen herb interpretiert wird, aber der Wucht des Hauptdarstellers etwas entgegensetzt. Während Ikura und Pinienkerne vergleichsweise dezente aromatische Spitzen setzen, sorgen Maiwipferl für herzhaft bittere Aromen, die trotz ihrer geringen Größe dem Gang ein nordisches Kolorit verleihen. Dieser rustikal interpretierte Gang lässt erneut ein starkes Handwerk erkennen und zeigt, dass die Küche bereits in diversen Stilen zu punkten vermag. Erneut wirklich überzeugend!
Die optische Aufmerksamkeit beim Hauptgericht gilt zunächst dem Joghurt mit Zitrone und Minze – oder dem vom Service als „falsches Tzatziki“ definierte Element – welcher mit asiatischem Knoblauch und einer Gurkendashi anstelle der typisch griechischen Gewürze aromatisiert wurde. Das recht kräftig gebratene Lamm ruht auf einem Ragout von Erbsen sowie Bärlauch und wird durch eine leichte, fast schon demütige Sauce Vierge nicht in seiner Wirkung beeinträchtigt: kraftvolle Röstaromen dominieren den Teller. Trotz einer recht lang anmutenden Liste an Zutaten wirkt dieser Beitrag um einiges fokussierter, puristischer und auch ernsthafter als die ausgelassenen Vorgänger – eine kluge dramaturgische Maßnahme, um nicht im Vollgas-Modus durch das Menü zu reiten und dem Hauptgericht seinen ihm gebührenden Platz einzuräumen.
Fast schon schlicht wird das Dessert mit Rhabarber, Buchweizen und Dulcey annonciert, doch wird es sich als um einiges komplexer wie erwartet entpuppen: auf dem Buchweizen-Taler thronend, nimmt das Buchweizen-Eis den meisten Platz davon ein. Gut erkennbar sind die gepufften Buchweizenperlen, doch die echten Überraschungen sind im Rhabarberschaum unter dem Taler versteckt: der Rhabarber wird auch als Kompott interpretiert und darf selbst als Marinade für Texturen von pochiertem Granny Smith mit Rosinen herhalten – er sorgt so für belebende Spritzigkeit in einem recht getreidelastigen Dessert, welches mit Dulcey-Schokolade von Valrhona einen würdigen Feinschliff erfährt. Dieser adrette Ausklang ist weniger grell und insgesamt etwas harmonischer als viele der durchaus fordernden Gänge zuvor, doch nach all der Intensität tut so ein Ausklang, der sein virtuoses Handwerk geschickt kaschiert, wirklich gut. Hut ab für diese Menüfolge!
Die drei ganz netten Petits fours in Form von Cannelé (die Klassiker beherrscht man auch …), Zitronentarte und Yuzu-Vanille-Praline sind schwerlich echte Highlights, halten aber das gezeigte Niveau hoch und runden so eine für einen 27-jährigen Chefkoch höchst bemerkenswerte Menüfolge würdig ab.
Die wichtigste Erkenntnis nach diesem Mahl besteht darin, dass Maximilian Schmidt ohne Weiteres das Potential zum „Talent des Jahrzehnts“ hat – eine derart elaborierte, durchdachte und erfrischend individuelle Küche von einem Chef in so jungen Jahren vorgesetzt zu bekommen, hat mich tief beeindruckt. Selbstverständlich finden sich in Schmidts Schaffen noch einige Elemente seiner berühmten Lehrmeister, aber wovon reden wir hier gerade, wenn der größte Kritikpunkt an einen 27-Jährigen darin besteht, sein eigenes Profil noch schärfen zu müssen?! Es besteht jeder Grund zur Annahme, dass Maximilian Schmidt auch diese Hürde nehmen wird, da schon andere große Chefs vor ihm diesen Schritt gehen mussten – ich denke etwa an Tohru Nakamura, der den Einfluss von Sergio Herman abstreifen musste oder Thomas Schanz, dessen klassische Lehrmeister Erfort und Thieltges lange Zeit seine Menüs nachhaltig beeinflussten. Mit zunehmender Reife und Sicherheit werden Schmidts Kreationen sicherlich noch eindringlicher und persönlicher werden. Ich würde jedenfalls behaupten wollen, dass Maximilian Schmidt das größte deutsche Talent seit Jan Hartwig darstellt.
Während sich andernorts Chefs in diesem Alter glücklich schätzen dürfen, wenn sie überhaupt schon den begehrten Michelin-Stern über ihrem Lokal funkeln sehen, tendiert diese Performance dagegen schon klar in Richtung des zweiten Macarons. Zur Erinnerung: der bislang jüngste Chef, der in Deutschland drei Sterne erlangen konnte, war Heinz Winkler im Alter von 32 Jahren – man schrieb damals das Jahr 1982. Ist dieser uralte Rekord eventuell in Gefahr?!
Lassen wir das Menü nochmals Revue passieren: abgesehen von einer kleinen handwerklichen Nachlässigkeit beim Spargel gab es auf diesem Gebiet überhaupt nichts zu beanstanden. Nicht nur die Frische und Qualität der verwendeten Produkte waren makellos, sondern auch die große Bandbreite, die sie abdeckten, vermochte mich absolut zu überzeugen. Der Ablauf des Menüs folgte einer klugen Dramaturgie und wartete zudem mit jeder Menge angenehmer Überraschungen auf, so dass ich meine Wahl von nur fünf Gängen schon bald bereut hatte. Gerne hätte im Nachhinein noch mehr von den schillernden Eindrücken mitgenommen, doch auch so reichte es für ein mehr als aussagekräftiges Urteil, welches absolut wohlwollend ausfällt. Dieser mondänen Küche voller Esprit und ausländischer Einflüsse haftet überhaupt nichts Dogmatisches oder Spießiges an – kein Wunder, dass sie auch ein recht junges und aufgeschlossenes Publikum mühelos anlockt. Die bisweilen Instagram-taugliche Optik mag da hilfreich erscheinen, aber ohne geschmackliche Substanz (die hier reichlich vorhanden ist) wäre all dies auch nichts wert!
Eine emsige und junge Servicetruppe bemüht sich zudem nach Kräften, den Gästen einen möglichst angenehmen, unbeschwerten und auch faszinierenden Abend zu bieten. Noch fehlt der Servicebrigade eine Person vom Format eines langjährigen und erfahrenen Maîtres, doch angesichts des riesigen Potentials, das ich hier ausmachen konnte, muss dies momentan auch nicht die höchste Priorität genießen. Gastfreundlich kalkulierte Preise und eine zwanglose Atmosphäre sorgen dafür, dass man sich hier umgehend wohl fühlt.
Gegen Ende des Abends komme ich mit einem weiteren Tisch (eine vierköpfige Familie aus München in einer Geburtstagsrunde) in regen Austausch, da sie sehr wohl zur Kenntnis nahmen, dass ich reichlich Notizen angefertigt hatte. Diese Gäste waren jedenfalls schlauer als ich (sie hatten das volle Menü genommen!) und zeigten sich ebenfalls mit Recht von dieser Darbietung sehr angetan. Sie würden die Entwicklung hier schon länger verfolgen und konnten meine Eindrücke nur bestätigen. Ich für meinen Teil fiebre dem nächsten Besuch aus gutem Grund entgegen, denn wenn die kometenhafte Entwicklung dieses jungen Chefs weiterhin im gleichen Tempo voranschreitet, dann werden nur ständige Besuche ein aktuelles Urteil erlauben. Noch ist das dafür nötige ruhige Umfeld und die wirtschaftliche Situation gegeben, denn fest etabliert im Gedächtnis regionaler Gourmets ist dieses Lokal schon längst. Ein volles Lokal und fehlender Druck von Controllern werden sicherlich dabei helfen, der Entfaltung weiter Vorschub zu leisten. Ich bin sehr gespannt auf die weitere Entwicklung und habe dieses Lokal fortan auf dem Schirm!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Roter Hahn
Rote-Hahnen-Gasse 10
93047 Regensburg
Tel.: 0941/595090
www.roter-hahn.com
Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 1,5 F
5-gängiges „Experience Menü“: € 135