Roter Hahn*, Regensburg

„In der Jugend lernt, im Alter versteht man.“ (Marie von Ebner-Eschenbach)

Mai 2022

Erneut führen mich meine Schritte durch die pittoreske Altstadt von Regensburg, die nicht ohne Grund zum UNESCO-Weltkulturerbe gezählt wird. Am Ende meines Weges stehe ich vor einem nicht sonderlich auffallenden Gebäude, dessen Fassade in Weiß- und Rottönen gehalten ist. Der abschließende Teil meiner Regensburg-Trilogie ist nämlich dem bislang jüngsten Sternerestaurant in der Domstadt gewidmet: der Rote Hahn im Herzen der Altstadt ist schon seit vielen Jahren im Bereich der Hotellerie und Kulinarik eine gehobene Adresse, doch mit der Rückkehr des Sohns zum heimischen Betrieb der Eltern nach Wanderjahren in der ganzen Welt scheinen die Leistungen der Küche regelrecht durch die Decke gegangen zu sein. Offenbar hat sich der Rote Hahn binnen kürzester Zeit zu einem echten Hotspot der Szene entwickelt …

Darf ich vorstellen? Chefkoch des Lokals ist der erst 27-jährige Maximilian Schmidt, dessen Ausbildungsstationen sich kaum beeindruckender lesen könnten: zunächst sammelte er seine ersten Sporen bei Lokalmatador Anton Schmaus vom STORSTAD, bevor es ihn zu nicht weniger als drei Weltklasseadressen zog: das Salzburger Ikarus, das Frantzén in Stockholm (welches nicht wenigen Kennern als eines der besten Lokale der Welt gilt) und das dreifach besternte Odette in Singapur. Angesichts solcher Referenzen sind beste Voraussetzungen für eine entsprechende Karriere gegeben, zumal die bisherigen Auszeichnungen (ein Michelin-Stern sowie 8 Pfannen im GUSTO) eine deutliche Sprache sprechen. Da ich erst durch die Rezension des GUSTO auf das Lokal aufmerksam wurde, bin ich noch gespannter als sonst. Wie viel darf man denn nun von einem 27-jährigen Chef erwarten – sind das übertriebene Vorschusslorbeeren oder bahnt sich hier gerade eine Ausnahmekarriere an?

Das Interieur des Lokals ist eine gelungene Synthese aus uraltem Mauerwerk und Designelementen, die überwiegend in Schwarz gehalten sind. Die blanken Holztische sowie die Platzmatten deuten frühzeitig darauf hin, dass Casual Fine Dining hier offenbar groß geschrieben wird und der Unterhaltungsfaktor eine nicht unerhebliche Rolle im Laufe des Abends spielt. Beim Anblick der Deckenventilatoren weht unweigerlich ein Hauch von New Orleans durch das Lokal, doch so schwül und heiß wie in der Metropole am Mississippi-Delta ist es zum Glück nicht. Der Service geleitet mich zu einem quadratischen Tisch direkt am Fenster, was mir zudem einen guten Überblick über das Lokal, das auf mehreren Ebenen angelegt ist, gestattet. Auffallend oft wird mich der Service an diesem Abend mit Namen ansprechen – hat man sich etwa im Vorfeld über mich schlau gemacht?! Jedenfalls wird man mich nach jedem Gang nach meinem Eindruck fragen und nicht nur vorgeschobenes, sondern ehrliches Interesse daran bekunden. Das kann ein ungewöhnlicher Abend werden!

Ein einziges angebotenes Menü namens „Experience Menü“ kann in vollem Umfang zu acht Gängen (€ 170) oder in einer verknappten Version (€ 135) zu fünf Gängen bestellt werden. Wegen zahlreicher Restaurantbesuche binnen kurzer Zeit entscheide ich mich für die verkürzte Version – und sollte dies angesichts der kommenden Darbietungen schon bald bereuen …

Zu einem „Sissi Spritz“ (Holundersaft mit Ginger Ale) serviert man die ersten Apéros, die speziell in optischer Hinsicht einiges hermachen: beim Rhabarbermacaron mit Pumpernickel und einer Füllung von Griebenschmalz scheint die Füllung fast wichtiger, wenngleich vom Macaron ein schöner Säurekick ausgeht. Beim zweiten Apéro versteckt sich unter der Ricotta-Haube eine Füllung von Preiselbeeren, Pfifferlingen, Ricotta, Zwiebel und Brennessel – eine enorm vielfältige Eingebung, in der überwiegend herben Noten bei leichter Cremigkeit eine fruchtbetonte Akzentuierung entgegengestellt wird. Das funktioniert prächtig und hängt die Messlatte schon mal richtig hoch. Als nächstes folgt ein Custard, welches mit der exotischen Füllung von Königskrabbe, Zwiebel, Bier sowie Blutpflaume aufwartet und weit besser als erwartet funktioniert. Noch mutiger, aber letztlich als doch zu gedrängt wirkt auf mich dagegen das Gunkan mit Brioche, Koji, Nori-Alge, Apfel und Ananas, weil zu viele disparitätische Aromen auf zu dichten Raum gedrängt wurden. Der letzte Einfall mit Rindertaco und Meerrettich ist wieder schlichter gehalten, funktioniert aber vielleicht gerade deswegen besonders gut nach den komplexen Vorgängern. In Summe ist dies jedenfalls eine höchst bemerkenswerte Parade für einen derart jungen Chef, selbst wenn noch nicht alles perfekt ausbalanciert wirkte.

Mit dem hausgemachten Sauerteigbrot, welches mit einer Salzkruste überbacken wurde, beweist die Küche, dass auch hier die ausgetretenen Pfade vermieden werden sollen, zumal auch der mit Wildkräutern verfeinerte Aufstrich, welcher aus einer Champagner-Honig-Vinaigrette besteht, sich abseits aller Konventionen bewegt und trefflich gelingt.

Beim Auftakt ins Menü mit Dry-Aged-Karpfen, fermentierter Erdbeere und Mairübe erinnert in optischer Hinsicht so manches an das Frantzén in Stockholm, aber geschmacklich vermag das voll zu überzeugen. Der fünf Tage abgehangene Fisch ist von glasiger Konsistenz und entfaltet einen intensiv salzlastigen Geschmack, der ganz reizend kontrastiert wird von der leichten Süße der Erdbeeren und der Fruchtigkeit der Tomaten. Die Vinaigrette aus gegrillter Erdbeere und Tomatenwasser bindet auch die herberen Aromen der Mairübe gekonnt ein, während etwas Forellenkaviar für die geschmackliche Abrundung sorgt. So gehen viele Aromen (salzig – Fisch und Kaviar, süß – Erdbeere, säuerlich – Tomatenwasser und bitter – Mairübe) einträchtig Hand in Hand, was den nachhaltigen Eindruck eines äußerst durchdachten, bemerkenswerten und kühnen Entrées in mir hinterlässt. Die zauberhafte Anrichte trägt natürlich auch noch ihren Teil zum ausgezeichneten Urteil bei …

Unter der mit Dill und fermentiertem Spargel verfeinerten Buttermilch versteckt sich auf dem nächsten Teller Jakobsmuschel in zwei Varianten: einmal in geflämmter und ziemlich bissfester Form, zum anderen als Ceviche. Durch die Verfeinerung der Kreation mit etwas Meerrettich vermeidet man eine zu große Gefälligkeit, selbst wenn die diversen Varianten des Dills schon bemerkenswert geraten und dem Gang sein Gepräge verleihen. Einziger Wermutstropfen an diesem Gang ist der leicht holzige Spargel, der diesem frühlingshaften Gang das Prädikat der Extraklasse entreißt. Es wird allerdings der einzige handwerkliche Fehler an diesem Abend bleiben – und so etwas ist, mit Verlaub, auch schon ganz anderen Köchen (oder deren Mitarbeitern) passiert. Unterm Strich ist dies ein Einfall, der dem Zeitgeist absolut huldigt (viele grüne Elemente, bekömmlich und abseits jeder Routine) und selbst trotz des kleinen Fehlers die Klasse des Chefs offenbart.

Eine ausgeprägt nordische Note kennzeichnet auch den nächsten Teller, bei dem kurz geflämmte Rotbarbe mit zusätzlich gerösteten Schuppen im Mittelpunkt steht. Da erweist es sich als durchaus cleverer Gedanke, den ausgesprochen würzigen und voller Umami auftretenden Fisch auf eine Koji-Beurre-Blanc aus Perlgraupen zu betten, welche zwar einigermaßen herb interpretiert wird, aber der Wucht des Hauptdarstellers etwas entgegensetzt. Während Ikura und Pinienkerne vergleichsweise dezente aromatische Spitzen setzen, sorgen Maiwipferl für herzhaft bittere Aromen, die trotz ihrer geringen Größe dem Gang ein nordisches Kolorit verleihen. Dieser rustikal interpretierte Gang lässt erneut ein starkes Handwerk erkennen und zeigt, dass die Küche bereits in diversen Stilen zu punkten vermag. Erneut wirklich überzeugend!

Die optische Aufmerksamkeit beim Hauptgericht gilt zunächst dem Joghurt mit Zitrone und Minze – oder dem vom Service als „falsches Tzatziki“ definierte Element – welcher mit asiatischem Knoblauch und einer Gurkendashi anstelle der typisch griechischen Gewürze aromatisiert wurde. Das recht kräftig gebratene Lamm ruht auf einem Ragout von Erbsen sowie Bärlauch und wird durch eine leichte, fast schon demütige Sauce Vierge nicht in seiner Wirkung beeinträchtigt: kraftvolle Röstaromen dominieren den Teller. Trotz einer recht lang anmutenden Liste an Zutaten wirkt dieser Beitrag um einiges fokussierter, puristischer und auch ernsthafter als die ausgelassenen Vorgänger – eine kluge dramaturgische Maßnahme, um nicht im Vollgas-Modus durch das Menü zu reiten und dem Hauptgericht seinen ihm gebührenden Platz einzuräumen.

Fast schon schlicht wird das Dessert mit Rhabarber, Buchweizen und Dulcey annonciert, doch wird es sich als um einiges komplexer wie erwartet entpuppen: auf dem Buchweizen-Taler thronend, nimmt das Buchweizen-Eis den meisten Platz davon ein. Gut erkennbar sind die gepufften Buchweizenperlen, doch die echten Überraschungen sind im Rhabarberschaum unter dem Taler versteckt: der Rhabarber wird auch als Kompott interpretiert und darf selbst als Marinade für Texturen von pochiertem Granny Smith mit Rosinen herhalten – er sorgt so für belebende Spritzigkeit in einem recht getreidelastigen Dessert, welches mit Dulcey-Schokolade von Valrhona einen würdigen Feinschliff erfährt. Dieser adrette Ausklang ist weniger grell und insgesamt etwas harmonischer als viele der durchaus fordernden Gänge zuvor, doch nach all der Intensität tut so ein Ausklang, der sein virtuoses Handwerk geschickt kaschiert, wirklich gut. Hut ab für diese Menüfolge!

Die drei ganz netten Petits fours in Form von Cannelé (die Klassiker beherrscht man auch …), Zitronentarte und Yuzu-Vanille-Praline sind schwerlich echte Highlights, halten aber das gezeigte Niveau hoch und runden so eine für einen 27-jährigen Chefkoch höchst bemerkenswerte Menüfolge würdig ab.

Die wichtigste Erkenntnis nach diesem Mahl besteht darin, dass Maximilian Schmidt ohne Weiteres das Potential zum „Talent des Jahrzehnts“ hat – eine derart elaborierte, durchdachte und erfrischend individuelle Küche von einem Chef in so jungen Jahren vorgesetzt zu bekommen, hat mich tief beeindruckt. Selbstverständlich finden sich in Schmidts Schaffen noch einige Elemente seiner berühmten Lehrmeister, aber wovon reden wir hier gerade, wenn der größte Kritikpunkt an einen 27-Jährigen darin besteht, sein eigenes Profil noch schärfen zu müssen?! Es besteht jeder Grund zur Annahme, dass Maximilian Schmidt auch diese Hürde nehmen wird, da schon andere große Chefs vor ihm diesen Schritt gehen mussten – ich denke etwa an Tohru Nakamura, der den Einfluss von Sergio Herman abstreifen musste oder Thomas Schanz, dessen klassische Lehrmeister Erfort und Thieltges lange Zeit seine Menüs nachhaltig beeinflussten. Mit zunehmender Reife und Sicherheit werden Schmidts Kreationen sicherlich noch eindringlicher und persönlicher werden. Ich würde jedenfalls behaupten wollen, dass Maximilian Schmidt das größte deutsche Talent seit Jan Hartwig darstellt.

Während sich andernorts Chefs in diesem Alter glücklich schätzen dürfen, wenn sie überhaupt schon den begehrten Michelin-Stern über ihrem Lokal funkeln sehen, tendiert diese Performance dagegen schon klar in Richtung des zweiten Macarons. Zur Erinnerung: der bislang jüngste Chef, der in Deutschland drei Sterne erlangen konnte, war Heinz Winkler im Alter von 32 Jahren – man schrieb damals das Jahr 1982. Ist dieser uralte Rekord eventuell in Gefahr?!

Lassen wir das Menü nochmals Revue passieren: abgesehen von einer kleinen handwerklichen Nachlässigkeit beim Spargel gab es auf diesem Gebiet überhaupt nichts zu beanstanden. Nicht nur die Frische und Qualität der verwendeten Produkte waren makellos, sondern auch die große Bandbreite, die sie abdeckten, vermochte mich absolut zu überzeugen. Der Ablauf des Menüs folgte einer klugen Dramaturgie und wartete zudem mit jeder Menge angenehmer Überraschungen auf, so dass ich meine Wahl von nur fünf Gängen schon bald bereut hatte. Gerne hätte im Nachhinein noch mehr von den schillernden Eindrücken mitgenommen, doch auch so reichte es für ein mehr als aussagekräftiges Urteil, welches absolut wohlwollend ausfällt. Dieser mondänen Küche voller Esprit und ausländischer Einflüsse haftet überhaupt nichts Dogmatisches oder Spießiges an – kein Wunder, dass sie auch ein recht junges und aufgeschlossenes Publikum mühelos anlockt. Die bisweilen Instagram-taugliche Optik mag da hilfreich erscheinen, aber ohne geschmackliche Substanz (die hier reichlich vorhanden ist) wäre all dies auch nichts wert!

Eine emsige und junge Servicetruppe bemüht sich zudem nach Kräften, den Gästen einen möglichst angenehmen, unbeschwerten und auch faszinierenden Abend zu bieten. Noch fehlt der Servicebrigade eine Person vom Format eines langjährigen und erfahrenen Maîtres, doch angesichts des riesigen Potentials, das ich hier ausmachen konnte, muss dies momentan auch nicht die höchste Priorität genießen. Gastfreundlich kalkulierte Preise und eine zwanglose Atmosphäre sorgen dafür, dass man sich hier umgehend wohl fühlt.

Gegen Ende des Abends komme ich mit einem weiteren Tisch (eine vierköpfige Familie aus München in einer Geburtstagsrunde) in regen Austausch, da sie sehr wohl zur Kenntnis nahmen, dass ich reichlich Notizen angefertigt hatte. Diese Gäste waren jedenfalls schlauer als ich (sie hatten das volle Menü genommen!) und zeigten sich ebenfalls mit Recht von dieser Darbietung sehr angetan. Sie würden die Entwicklung hier schon länger verfolgen und konnten meine Eindrücke nur bestätigen. Ich für meinen Teil fiebre dem nächsten Besuch aus gutem Grund entgegen, denn wenn die kometenhafte Entwicklung dieses jungen Chefs weiterhin im gleichen Tempo voranschreitet, dann werden nur ständige Besuche ein aktuelles Urteil erlauben. Noch ist das dafür nötige ruhige Umfeld und die wirtschaftliche Situation gegeben, denn fest etabliert im Gedächtnis regionaler Gourmets ist dieses Lokal schon längst. Ein volles Lokal und fehlender Druck von Controllern werden sicherlich dabei helfen, der Entfaltung weiter Vorschub zu leisten. Ich bin sehr gespannt auf die weitere Entwicklung und habe dieses Lokal fortan auf dem Schirm!

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

Roter Hahn
Rote-Hahnen-Gasse 10
93047 Regensburg
Tel.: 0941/595090
www.roter-hahn.com

Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 1,5 F

5-gängiges „Experience Menü“: € 135