„Das Leben ist wie eine Speise, welche uns nur wegen ihrer Gewürze schmeckt.“ (Victor Hugo)
UPDATE (Februar 2023)
Wahabi Nouris putziges kleines Restaurant Piment gehört schon seit Beginn des Jahrtausends zu den bekanntesten und renommiertesten Adressen der Hansestadt, auch wenn es im Stadtteil Eppendorf und damit ein gutes Stück vom Zentrum entfernt liegt. Gefühlt hatte sich am Interieur seit meiner ersten Stippvisite vor drei Jahren nichts verändert: in dem beigebraunen Ambiente mit der drangvoll engen Küche und dem gedämpften Licht erwartet den geneigten Gast nach wie vor eine französisch geprägte Küche, die wahlweise immer wieder durch marokkanische Produkte oder Gewürze einen ganz eigenen Anstrich bekommt. Die Speisen zeichnen sich meist durch eine hohe aromatische Dichte und Kompaktheit aus, kommen dabei ohne Allüren aus und fesseln die Aufmerksamkeit des Gastes angesichts ungewohnter, aber nie krampfhaft anmutender Kreationen stets aufs Neue. Im Gegenteil: der Fokus ist meist sehr direkt auf die Qualität des Hauptprodukts gerichtet, welches hier stets ohne große Verfälschung präsentiert wird. Für weitere Details verweise ich auf die untenstehende Rezension meines Premierenbesuchs, in der vieles von dem, das ich damals schrieb, immer noch gültig ist.
Zum Auftakt schickt die Küche als Gruß einen marokkanisch gewürzten Flammkuchen aus Blätterteig, der mit schönen Texturen und einem Klecks Crème fraîche eine eigenwillige, weil nordafrikanisch interpretierte Variante des Klassikers darstellt, die dem unerfahrenen Gast hier aufzeigt, in welche Richtung der Küchenstil tendiert. Höchste Kunstfertigkeit ist für diese Petitesse schwerlich nötig, aber im Verbund mit einem alkoholfreien Winzersekt aus Südafrika setzt dieses Häppchen schon ein erstes kleines Ausrufezeichen.
Zur Auswahl stehen zwei unterschiedliche Menüs namens Nouri Menü und Piment Menü, für die beide jeweils € 175 zu berappen sind. Diese unterscheiden sich in ihrer Stilistik nicht besonders voneinander, sondern eher von den verwendeten Viktualien her. Der Austausch einiger Gänge ist auch möglich, so dass unterm Strich quasi ein Dutzend an Gerichten zur Auswahl steht. Wir entscheiden uns für das Nouri Menü ohne Modifikation und werden zügig mit dem Amuse gueule bedient: es besteht aus drei Teilen, die rund um Karotte eine fein abgeschmeckte Variabilität besonders bei den Intensitäten erkennen lassen. Die fruchtige Variante links mit Maracuja und Karotte evoziert mit ihrer Fruchtigkeit fast schon indische Aromenwelten, während die Karotten-Gazpacho mit Ingwerschaum und erst recht das Eis von Kakaobutter als Ummantelung einer Farce aus Karotten erheblich kraftvoller geraten. Monothematik rund um ein einziges Produkt wie hier erlebe ich bei Apéros im Allgemeinen eher selten, aber das Kalkül und seine Umsetzung sind durchaus aufgegangen. Auch zum beachtlichen Sauerteigbrot reicht die Küche neben der klassischen Butter ein Karottenrelish, das eine Kohärenz zu den Apéros herstellt und mich schon vor drei Jahren überzeugen konnte.
Zum Beginn des Menüs kommt der französische Klassiker Foie gras auf den Teller, der hier mit einem hauchdünnen Quittengelée überzogen wurde. Die Konsistenz der Leber als kühle Terrine ist leider etwas körnig und damit suboptimal, doch kompensieren die Tajine-Aromen dieses Menetekel zumindest etwas. Die eigentümliche Aromatik der Produkte, die in dem typisch nordafrikanischen Schmorgefäß entsteht, ist für mich immer wieder so bemerkenswert, dass ich mich frage, weshalb dieses Behältnis so selten in der Hochküche zum Einsatz kommt (gerne entsinne ich mich noch heute eines denkwürdigen Blumenkohls aus der Tajine im Schwarzen Hahn zu Deidesheim bei Stefan Neugebauer im Jahre 2018). Texturen von Safran und Zwiebel sorgen nicht nur für Abwechslung, sondern kleiden die Innerei vollends in ein ungewöhnliches Gewand, wobei der Dialog zwischen Würze und Säure erstaunlich gut gelingt. Wäre der spürbare Makel bei der Leber nicht gewesen, so wäre dies ein ausgezeichneter Gang geworden.
Geradezu spartanisch wird der zweite Gang als Berber-Couscous mit Piment angekündigt, doch steckt unverkennbar mehr in diesem Beitrag als nur das Annoncierte. Ganz unten in der vorzüglichen Holunderblütenessenz versteckt, schlägt der Couscous mit seinem Schmelz bei gleichzeitig leichtem Biss voll ein – wenn es allerdings hier nicht den besten Couscous der Republik gibt, wo dann?! Ringelbete, Kürbis, Erbse, schwarzer Rettich und Macadamia-Nüsse werden dabei zusätzlich auf engstem Raum drapiert, doch bleiben alle Komponenten wunderbar transparent. Es passiert reichlich viel, doch die ansprechende Präsentation des bunten und recht knackigen Gangs macht einfach Laune – ein selten schillernder Beitrag in diesem Hause.
Den puristischsten Teller gibt es dagegen im Anschluss zu bestaunen: der mit afrikanischen Aromen angedünstete und gedämpfte Lauch droht fast ein wenig, dem durchaus präsenten und wunderbar saftigen Streifenbarsch die Schau zu stehlen. Dank etwas Krustentiercrème sind Balance und Intensität dieses umami-lastigen Gangs vorzüglich ausgelotet, doch den letzten reizenden Feinschliff erfährt der Gang durch die Beigabe von etwas Melone, die der Wucht eine überraschende Fruchtigkeit entgegensetzt. Insgesamt wirken die Darbietungen noch um einiges reduzierter als vor drei Jahren, doch dafür ist das Maß an Fokussierung auf die subtile Würzung eher noch angestiegen. Insgesamt wirkt es auf mich, als durchlaufe die Küche gerade eine Findungsphase, in welche Richtung sie sich zukünftig orientieren möchte – dennoch wird das hohe Niveau dabei im Großen und Ganzen bewahrt.
Noch spartanischer wird der nächste Gang als Gemüsetarte mit Olivenjus angekündigt: sie besteht aus einem Blätterteig mit Aubergine, Paprika, Tomate, Zwiebelmarmelade und der Kräutermarinade Chimichurri. Insbesondere das subtile Spiel mit den variablen Temperaturen gefällt an diesem umami-strotzenden, mediterranen Gang voll präsenter Säure. Hier wurde eine beachtliche aromatische Vielfalt auf kompakten Raum gedrängt, die jedoch dank großer Transparenz leicht fassbar und wunderbar zur Geltung kommt. Schön!
Der Hauptgang wird gar als „Überraschung“ angekündigt und besteht aus Rücken und Keule vom Hirschkalb mit Pastilla, einer marokkanischen Spezialität aus Filoteigtaschen. Üblicherweise mit Hähnchen, Zwiebel, Ei und geröstete Mandeln gefüllt, ordnet sich die Pastilla in einen Reigen weiterer markanter, ausdrucksstarker Begleiter wie dem afrikanisch gewürzten Rotkohl mit einer Farce von Feige und dem Sellerie ein. Es bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass das afrikanische Kolorit dieses Gangs das vorzügliche Fleisch des Hauptdarstellers auf höchst stimmige Weise über sich selbst erhebt und einen mehr als würdigen Hauptgang veredelt. Sehr gelungen!
Dass man bei einem Besuch hier sehr viel über traditionelle marokkanische Speisen lernen kann, lässt sich auch beim Dessert beobachten, welches die geröstete Süßspeise Sellou in den Mittelpunkt rückt. Darauf drapiert die Küche in bildschöner Bienenwaben-Optik zartherbe und fruchtbetonte Schokolade, Traubenbutter-Eis und glasierte Kirsche. Eine übermäßige Süße kann man diesem betont herben Nachtisch weiß Gott nicht vorwerfen, doch exakt dieser Umstand animiert dazu, den mit viel Liebe zum Detail umgesetzten Komponenten genau nachzuschmecken und so den eigentümlichen Reiz dieser Kreation zu entschlüsseln. Alles in allem erweist sich dieser Ausklang als ein Beitrag abseits des Mainstreams mit vielen aromatisch überraschenden Wendungen und einer ausgeklügelten Optik mit Erinnerungswert. Ausgezeichnet!
Als einigermaßen amüsant (wie im Bild zu erkennen) empfinde ich die Tatsache, dass trotz der blanken und insgesamt rustikal anmutenden kreisrunden Tische während des ganzen Abends feinstes Silberbesteck zum Einsatz kommt. Den Ausklang bildet eine kompakte Komposition von Mandel-Financier unter einer mit Gelée ummantelten Zitrusfruchtpraline, welche zwar überzeugt, aber die grundsätzliche Frage nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis aufwirft: in den drei Jahren seit meinem ersten Besuch hat das Menü preislich nämlich um € 60 zugelegt, ohne dabei wesentlich umfangreicher geworden zu sein. Es ist wahr, dass man den Menüpreis im Voraus weiß, doch von der einst so attraktiven Preisgestaltung ist – im Gegensatz zur Qualität im Allgemeinen – leider nicht mehr viel übrig geblieben.
Damit ist dieser reizende Abend leider auch schon wieder zu Ende. Gerne hätten wir noch die eine oder andere Eingebung aus Wahabi Nouris Küche verkostet, doch gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, dass ein Lokal wie das Piment in der Post-Corona-Phase fast zwangsläufig einen schweren Stand haben muss: kein angeschlossenes Hotel im Hintergrund und keinen Sponsor, dafür aber Personalmangel und hohe Energiekosten. Da kommt fraglos eine Menge Faktoren zusammen, die auch den vorübergehenden Abstieg von noch höher dekorierten Lokalen in der jüngsten Vergangenheit befeuerte. Seien wir also trotz signifikanter Preissteigerungen lieber dankbar, dass das Niveau weitgehend gehalten werden konnte und hier weiterhin eine unverwechselbare Küchenstilistik offeriert wird, die Hamburg auch nach zwei Jahrzehnten immer noch ausgesprochen gut zu Gesicht steht. Der flinke Service besteht übrigens nur aus einem jungen Mann, doch macht er seine Aufgabe gut und hat in dem kleinen Lokal alles im Griff. Manche der Gerichte werden zur Entlastung des Service bisweilen auch vom Souschef am Platz erläutert, so dass die Abläufe hier nach wie vor reibungslos funktionieren, selbst wenn aufgrund des beachtlichen Arbeitspensums insgesamt nicht viel Zeit für Gespräche oder Sonderwünsche des Gastes bleibt.
Auch wenn diese Menüfolge nicht ganz dieselbe hypnotische Kraft wie die Darbietung vor drei Jahren hatte und mit der Leber ein auffälliges Menetekel aufwies, so hat sich an meinem fundamentalem Urteil, dass Wahabi Nouri hier längst seine innere Mitte gefunden hat, nichts geändert. Der ehemalige Schüler von Harald Wohlfahrt und Eckart Witzigmann ersinnt immer wieder neue und überraschende Geschmacksbilder, die dennoch unverwechselbar bleiben und seiner Ästhetik, auf eine Fusion von französischen und marokkanischen Elementen zu setzen, treu bleiben. Gerade die Gewürze der nordafrikanischen Heimat des Chefs werden besonders virtuos in die Gerichte integriert und zeigen so auf, was für verblüffende Auswirkungen durch subtile Eingriffe auf diesem Gebiet möglich sind. Unbeeindruckt von Auf- oder Abwertungen in diesem oder jenen Guide steht der Chef fünf Tage die Woche in seiner putzigen kleinen Küche und zieht unbeirrt sein Ding durch. Der Erfolg gibt ihm in jedem Fall recht, denn eines regen Zulaufs an Gästen erfreut sich dieses Lokal auch nach mehr als zwei Jahrzehnten. Wie wir beiläufig bei einer Stippvisite in der Küche erfahren, lässt sich der Filius des Hauses derzeit bei Klaus Erfort ausbilden – offenbar soll die Familientradition der Hochküche noch längere Zeit bewahrt werden. Es wäre absolut wünschenswert!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Piment
Lehmweg 29
20251 Hamburg
Tel.: 040/42937788
www.restaurant-piment.de
Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2022: 3 Toques
GUSTO 2023: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 3 F
6-gängiges Überraschungsmenü: € 175
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„Seltenheit verleiht der Freude Würze.“ (Juvenal)
Januar 2020
Ich bin auf dem Weg in ein Lokal, das schon lange auf meiner Liste steht, sich aber irgendwie nie einrichten ließ. Nun war es also endlich soweit: bevor ich mich jedoch dem Genuss widmen kann, muss ich entsetzt feststellen, dass Hamburgs Stadtteil Eppendorf weitaus städtischer als gedacht ist und die enervierende Parkplatzsuche einem schon vorab gehörig die Laune verderben kann. Nach dieser überstandenen Qual mache ich mich also zu einem unscheinbaren Lokal auf, neben dem sich zwei weitere gewöhnliche Restaurants befinden. Rein äußerlich deutet in diesem voll auf Understatement setzenden Etablissement bis auf ein kleines Michelin-Emailschild jedenfalls nichts auf ein außergewöhnliches Ess-Erlebnis hin. Auch drinnen das nahezu gleiche, bescheidene Bild: eine relativ kleine Räumlichkeit mit nicht allzu viel Platz und eine sehr kleine Küche. Das Interieur ist zurückhaltend in hellen Brauntönen eingerichtet und die Tische mit klassischen weißen Tischdecken eingedeckt. Hier und da prangt dezent etwas moderne Kunst an den Wänden, doch ansonsten sind erste Ähnlichkeiten mit dem Nürnberger Essigbrätlein (drangvolle Enge und Bescheidenheit, wohin man schaut) unübersehbar. Ich bin gespannt, ob das Piment auch kulinarische Vergleiche zulässt, denn natürlich weiß ich, dass Wahabi Nouri, der unlängst 50 gewordene marokkanische Chefkoch des Hauses, ein Spezialist für Gewürze sein soll und das Lokal daher einen durchaus treffenden Namen hat. Auch das Essigbrätlein arbeitet ganz gerne mit interessanten Gewürzmischungen und hatte vor einigen Jahren sogar ein Schild mit der Aufschrift „Gewürzküche“ an seiner Außenfassade prangen.
Nach dem Empfang durch einen sehr höflichen und freundlichen jungen Mann – er ist der Sohn des Chefs, wie ich später erfahre – geleitet man mich an meinen Tisch. Dieser ist quadratisch gehalten und ganz klassisch mit einer weißen Tischdecke und einem kleinen Blumenschmuck eingedeckt. Ich entscheide mich trotz zweier weiterer angebotenen Menüs umgehend für das sechsgängige Überraschungsmenü zu € 115 und warte gespannt auf die ersten Grüße …
… die sogleich gereicht werden: zunächst ein herzhaftes kleines Zwiebeltörtchen mit etwas Crème fraiche obenauf und danach noch eine ungewöhnliche Kreation aus kleinen Stückchen von Süßkartoffel, die mit Paprikaschaum und Tomatengel nicht nur reizend, sondern auch geschmacklich sinnvoll dekoriert ist. Dazu schlürfe ich einen alkoholfreien Tonic mit hausgemachtem Zitronengrassirup – alles in allem ein gelungener Einstieg außerhalb jeder Routine. Auch die Brotauswahl sieht bescheiden aus, doch das geniale Karottenpesto macht regelrecht süchtig und lässt die gesalzene Butter und das nicht weiter erwähnenswerte Brot schnell vergessen.
Zum Einstieg wird eine Foie gras mit Brioche und Nougat serviert. Die mit Tropfen von Quitten- und Aprikosengel dekorierte Komposition gerät weniger süß als erwartet, zumal etwas Crumble vom Nougat unter einem fluffig-leichten Schaum versteckt ist. Das kreisrunde Brioche ist leicht orientalisch abgeschmeckt und stellt einen reizenden Kontrast zur fruchtigen Begleitung dar. Die Terrine selbst ist recht klein, aber kühl temperiert und von ordentlicher Qualität.
Eine gewagte Komposition rund um rote Bete dominiert über Kalbstatar, den eigentlichen Hauptdarsteller. Der knallige Teller bietet die Bete als Schaum und Gel an, während das Tatar mit winzigen Segmenten von Tomate und einer herzhaften Gewürzmischung, die als flaches kleines Bäumchen auf den Teller drapiert wird, veredelt wird. Es wird nicht das letzte Mal an diesem Abend bleiben, dass die ausgesprochen raffinierten Gewürze den eigentlichen Reiz der Teller ausmachen. Hier ging es in Richtung Chili, doch auch geringe Spuren von Kakao glaubte ich herauszuschmecken. Wie dem auch sei – ein vortrefflicher Gang abseits von Konventionen.
Couscous an sich überrascht in einer marokkanisch inspirierten Küche natürlich nicht sonderlich, aber die reizende Kombination dafür umso mehr: der in einem herzhaften Fond platzierte Couscous braucht nicht viel mehr als etwas Orangenblütenschaum, Safranglace und gepufften Quinoa, der mit einer dünnen Glasur überzogen ist. Dass dieser nordafrikanische Klassiker Herrn Nouri vollendet von der Hand geht, beweist er in immer neuen, umwerfend stimmigen Kreationen. Auch dieser Teller ist keine Ausnahme: superbe Fruchtigkeit, leichter Biss durch den Quinoa und eine Konsistenz beim Hauptdarsteller, die ihresgleichen sucht. Schwer vorstellbar, jemals irgendwo besseren Couscous bestellen zu können!
Kabeljau kombiniert die Küche hier auf hinreissende Art mit Aubergine und geschmorten Tomaten. Schmelz und Temperatur lassen hier praktisch keine Wünsche offen, doch neben der grandiosen und kompakten Präsentation ist es wieder einmal ein phantastisch abgeschmeckter Jaipur-Curry-Sud, der dem Gericht die Krone aufsetzt. Die einzelnen Bestandteile wirken in handwerklicher Hinsicht gar nicht kompliziert, doch die praktisch perfekte Balance untereinander und die ausgeklügelte Dosierung der Gewürze zeugen sowohl von jahrelanger Erfahrung als auch von höchster kulinarischer Meisterschaft. Grandios!
Zumindest mengenmäßig gelangt dann auf den Tisch ein Teller, der das Prädikat „Hauptgericht“ schon mal vorab verdient, doch auch qualitativ wird sich dies als weiterer Knaller entpuppen: äußerst saftige und tiefrot gebratene Rehkeule paart Wahabi Nouri mit einem kleinen Törtchen aus Kohl vom nahegelegenen Dithmarschen (die Kohlkammer Europas), einer kräftigen Bratensauce, einer marokkanischen Teigrolle (deren Namen ich mir leider nicht gemerkt habe) mit Hack gefüllt und mit klein gestoßenen Mandeln obenauf, einem fruchtigen Aprikosengel und etwas geschmortem Fleisch vom Reh. Die variable Verwendung des Hauptprodukts und die intensive Würze machen aus diesem Gang einen Beitrag, den man nicht so schnell vergisst: aromensatt, klar erkennbar und ausgewogen. Sieht man einmal von der häufigen Verwendung diverser Gels ab, ist die Küchenleistung bis hier kein bißchen vorhersehbar gewesen.
Auch beim originell inszenierten Dessert wird dies so bleiben: ein Salzkaramell-Eis wird lediglich von etwas gestoßener Walnuss umspielt und mit etwas aromatisiertem Litschi-Pulver getoppt. Das nicht ganz so aufwendige Finale vermag dennoch mit aparter Optik und leicht fassbarem Geschmack zu punkten, wenngleich der Spannungsbogen hier zum Dessert ein wenig abfällt – nach all den Umami-Bomben zuvor fast schon eine Wohltat. Die Petits fours (ohne Foto) bestehen zwar aus drei recht bescheidenen Beiträgen (ein Financier mit Physalis, etwas türkischer Honig und ein klassisches Madeleine), doch an meinem Gesamturteil ändert dies nichts mehr.
Es ist recht erstaunlich, dass dieses feine Lokal selbst an einem Samstagabend nicht voll besetzt ist, denn das hat es wahrlich nicht verdient. Restaurantleiter Hicham Khabbaz und Kellner Nouri Junior, die beide sehr aufmerksam und kompetent ihren Job erledigen, reichen aus, um den Betrieb am Laufen zu halten. Deren Anteil am Erfolg des Lokals ist nicht zu unterschätzen, denn alkoholfreie Getränke werden mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Weine an den Gast gebracht. Doch auch unter den Vinophilen sieht man rundum nur glückliche oder inspirierte Gesichter, die offenbar soeben eine unerwartete Erweiterung ihres Horizonts erleben durften.
Wahabi Nouri selbst ist ein absoluter Großmeister im Umgang mit Gewürzen. Die Gerichte, die er und seine kleine Crew auf den Teller bringen, sind präzise gearbeitet und schnörkellos präsentiert. Dennoch wären sie kulinarisch längst nicht so reizvoll, wenn da nicht die faszinierenden Gewürze zum Einsatz kämen, die beispielsweise so manche althergebrachte Erwartung bei der Präsentation eines französisch anmutenden Gerichts mit Gänseleber oder Rehkeule rasch ad absurdum führen – aufgrund der verblüffenden Würze hat hier praktisch jedes Gericht etwas Überraschendes zu bieten, selbst wenn es äußerlich noch so harmlos scheinen mag. Routine scheint hier ein absolutes Fremdwort zu sein! Man fragt sich regelrecht, weshalb so viele andere Spitzenköche häufig eine gewisse Scheu an den Tag legen, wenn es darum geht, Gerichte mutig zu würzen. Wahabi Nouri kombiniert geschickt französische Tugenden mit marokkanischen Akzenten, was manche veranlasst hat, hier von einer Fusion-Küche zu sprechen. Dem kann ich allerdings nicht ganz zustimmen, denn die starke Fokussierung auf die Gewürze geschieht nicht etwa um einer bewussten Verfremdung oder Verwässerung anderer Stile willen, sondern weil es Herrn Nouri einfach in die Wiege gelegt worden zu sein scheint, seine kulinarischen Wurzeln nicht zu verleugnen und geschickt zu integrieren.
Übrigens: bei meinem Besuch im The Table nahm ich überrascht aus deren hauseigenem Magazin zur Kenntnis, dass sich der renommierte Drei-Sterne-Koch Kevin Fehling mit dem wesentlich geringer dekorierten Wasabi Nouri zusammen tat, um mehr über Gewürze zu erfahren und seine Scheu vor ihnen abzubauen. Das finde ich in doppelter Hinsicht bemerkenswert: zum einen, weil sich nur die wenigsten Drei-Sterne-Chefs bereitwillig in ihr Handwerk reden lassen, zum anderen da der absolut bescheiden auftretende Wahabi Nouri überhaupt keine Probleme damit zu haben scheint, etwaige Geheimnisse preiszugeben und höher dekorierten Chefs eine Vorlesung zu halten. Das könnte sich mittelfristig letztlich für beide Parteien auszahlen, zumal auch Nouri Junior demnächst offenbar ein Praktikum im The Table antreten möchte.
Doch auch so bleibt festzuhalten, dass dies einer der allerbesten Besuche jemals in einem Ein-Stern-Restaurant gewesen sein muss. Was aus den Teller kam, war handwerklich tadellos und wies nur wenige typische Merkmale einer Fusion-Küche auf. Die verblüffende und fast schon beiläufig wirkende Veredelung der Gerichte durch die subtile und unerwartete Würzung hat großen Eindruck auf mich gemacht. Ambitionierte Gäste können ja durchaus mal versuchen, die eingesetzten Gewürze, die die Karte erst gar nicht auflistet, zu entschlüsseln. Aber Vorsicht: die Aufgabe ist nicht ganz einfach, denn exotische Varianten wie Ras el Hanout oder Kardamom kommen dabei genauso zum Einsatz wie gewöhnlichere Vertreter, und außerdem ist vieles so geschickt hergestellt, dass man fast zwangsläufig daran scheitern muss! Den stärksten Eindruck hinterlässt bei mir die Erkenntnis, dass man Herrn Nouris Teller praktisch nach zwei, drei Bissen ihm zweifelsfrei zuordnen kann, weil einfach kein Zweiter in Deutschland auf diesem Niveau so traumwandlerisch sicher mit Gewürzen umgehen kann. Das Menü gibt es noch dazu zu einem fairen Preis, aber bei den Nebenkosten sollte man sich vorsehen: genau wie im Essigbrätlein wird hier recht kräftig zugeschlagen. So kosteten mich beispielsweise vier Gläser an alkoholfreier Begleitung (drei davon mit hausgemachten Ingredienzen) nicht weniger als 45 Euro – ein recht stolzer Preis, bei dem sich die Überlegung, nur mit Wasser auszukommen, durchaus rentieren könnte. Neben dem eingangs erwähnten Tonic handelte es sich dabei unter anderem um einen Traubensecco aus Südafrika, der mit etwas hausgemachtem Holundersirup versetzt war, und einem marokkanischen Minztee.
Ansonsten bleibt festzuhalten, dass ich guten Gewissens den 18. Punkt im Gault&Millau, den sie hier 2017 aberkannten, zurückfordere. Der Michelin vergibt einen Stern, doch außer Reichweite ist der zweite Macaron mit Sicherheit nicht. Als das Essigbrätlein im Jahr 2008 mit dem zweiten Stern ausgezeichnet wurde, kam dies für viele vollkommen überraschend – weshalb sollte es also nicht auch mit dem Piment klappen? Dieses feine Etablissement mit dem programmatischen Namen sollte man auf jeden Fall als Geheimtipp auf dem Zettel haben, selbst wenn sich der FEINSCHMECKER (3 F) im Gegensatz zum Gusto (8,5 Pfannen) noch ein wenig zurückhält. Vergleiche aus der Vergangenheit liegen mir keine vor, da es für mich die Premiere war, doch die starken Eindrücke dieses Abends können mich in meiner Ansicht bestärken, dass hier ein Mann auch jenseits der 50 noch vieles vorhat. Dabei ist das, was Chef Nouri aus den bescheidenen Möglichkeiten des Lokals (kleine Crew und enge Küche) heraus holt, ohnehin schon mehr als beachtlich. Mir jedenfalls nötigt das gehörigen Respekt ab – vielleicht stellt die lose Zusammenarbeit mit Kevin Fehling ja das letzte Quentchen dar, das für höhere Weihen noch fehlte.
Schade, dass Hamburg so weit weg ist, denn ansonsten würde ich garantiert öfters hier einkehren (und die Nebenkostenfalle vermeiden). Herzhafte Gerichte und die Seltenheit eines solchen Lokals potenzieren die Freude regelrecht – offenbar wusste der römische Dichter Juvenal im Eingangszitat genau, wovon er sprach. Recht hatte der Mann!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Piment
Lehmweg 29
20251 Hamburg
Tel.: 040/42937788
www.restaurant-piment.de
Guide Michelin 2019: *
Gault&Millau 2020: 17 Punkte
GUSTO 2020: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 3 F
6-gängiges Überraschungsmenü: € 115