„Das Zelebrieren von Mahlzeiten und die Wertschätzung von Lebensmitteln hat […] eine Bedeutung, welche in unserer heutigen Zeit vielfach schon verloren ging. Genau diese Erfahrungen möchte ich in unserem ‚Seestern‘ leben. Der Gast soll den Unterschied zwischen nur ESSEN und GENUSS erleben.“ (Klaus Buderath)
November 2021
Als Chefkoch Klaus Buderath vor acht Jahren den nur 15 Kilometer entfernten Landgasthof Adler in Rammingen verließ, schien er sich für meine Begriffe von der gar zu klassisch ausgeprägten Küche verabschieden und sein eigenes Ziel verfolgen zu wollen. Kurz darauf übernahm er das Restaurant LAGO im gleichnamigen Hotel bei der Donauhalle in Ulm, welches eine ungleich zeitgemäßere Interpretation klassischer Hochküche bot. Zwar konnten seine Kreationen (siehe meine damalige Rezension) zu Beginn die Kritiker nicht immer gleichermaßen überzeugen, doch ist das inzwischen schon einige Zeit her.
Kurz nach meinem einzigen Besuch in jenem Lokal wurden in dem Hotel umfangreiche Sanierungs- und Umbaumaßnahmen eingeleitet, welche grundlegende Veränderungen zur Folge hatten. So befindet sich heute an der Stelle des ehemaligen Sternerestaurants LAGO das ziemlich ambitionierte Zweitrestaurant namens Treibgut, das der Mehrzahl der Gäste bereits sicher gut genug ist, da die Küchenleistung auch dort absolut vorzeigbar ist. Das neue Flaggschiff, das Seestern, befindet sich dagegen recht versteckt hinter dem nüchternen Hotelbau, welcher geschickt tarnt, was für ein Ausnahmelokal sich hinter dem Gebäude verbirgt. So wurden ehemalige Konferenzräume des Hotels zur Küche des Seestern umgebaut, während ein Anbau im Stile einer Blockhütte direkt am künstlichen See hinter dem Hotel komplett neu ersonnen wurde. Dieses Genussreich, welches Klaus Buderath seit nunmehr vier Jahren seinen Arbeitsplatz nennt, verströmt sofort eine Wohlfühlatmosphäre, die im Sommer mutmaßlich noch um einiges mehr zur Geltung kommt. Weite Abstände zwischen den Tischen, eine rustikale Einrichtung sowie die großzügige Fensterfront mit Blick auf den See sorgen für ein unverwechselbares und tiefenentspanntes Ambiente – zumal, wenn wie im Winter das Feuer im Ofen prasselt.
Von meinem großzügigen Tisch direkt an der Fensterfront schweift mein Blick immer wieder mal im Raum umher, da die Drehsessel dies auf unkomplizierte Weise ermöglichen und es wahrhaftig eine ganze Fülle an liebevollen Details in dem Raum zu entdecken gibt. Doch schon fragt man mich nach einem Apéritif, wobei meine Wahl auf den leicht herben, alhokolfreien Sekt von der Champagner-Bratbirne aus dem Hause Jörg Geiger fällt. Dazu reicht man die ersten Apéros, die sich durchaus sehen lassen können: zum einen ein sorgsam abgeschmecktes Rinderpastrami auf einem Kürbischip, dann durchaus fruchtigen Saiblingskaviar in einem Mürbteigtartelette und schließlich eine Maronenkugel, ummantelt mit gepufftem Quinoa. Das ganz große Risiko bei der Umsetzung hat man hier zunächst vielleicht noch gescheut, aber geschmacklich ist das sehr präsent und absolut auf den Punkt gebracht – ein sehr ordentlicher Einstieg.
Da das Menü bereits bei der Ankunft auf dem Tisch steht, stellt auch derjenige Gast, der sich nicht vorher im Internet schlau gemacht haben sollte, schnell fest, dass hier nur ein Menü angeboten wird, bei dem lediglich die Wahl bleibt, ob es vier, sechs oder acht Gänge (€ 179) sein sollen. Nach der nervigen Anreise durch zahllose Baustellen steht das volle Programm an …
Als das erste Highlight des Tages entpuppt sich das Amuse, welches sogleich geflämmte Jakobsmuschel in den Mittelpunkt stellt. Der exzellente, schön glasige und leicht knackige Hauptdarsteller bekommt in Form von Kalamansi und insbesondere einer Paste von Steckrübe (als Seestern angeordnet) eine würdige Begleitung zur Seite gestellt. Abgerundet wird dieser starke Beitrag durch einen markanten Sud mit Zitrusaromen und asiatischen Gewürzen sowie mit einem (weihnachtlich gewürzten) Gewürzbrioche und Salzbutter. Für ein Amuse ist dies schon ein recht komplexer und luxuriöser Einstieg, der unbedingt Appetit auf mehr macht. Auch ohne die optische Aufwertung durch den Teller wäre mein Fazit identisch ausgefallen: ganz ausgezeichnet!
Zum Auftakt des Menüs macht die Küche dann endgültig ernst, denn der betriebene Aufwand bei ungestopfter Gänseleber kann sich wahrlich sehen lassen. Auf einem Makronen-Macaron platziert die Küche eine kühle Mousse der Leber, während das Produkt auf dem Hauptteller gebraten und mit Teriyaki lackiert auf den Teller gelangt. Bedauerlicherweise geraten sowohl das Macaron als auch die gebratene Leber dabei ein wenig zu fest in puncto Konsistenz, doch dafür liefert die originelle Begleitung mit Mandarinen-Sphäre, Grapefruit und Miso einen reizenden, fruchtbetonten Kontrast ohne aufdringliche Süße. Aufgrund der kleinen handwerklichen Mängel scheint mir dieser Gang wegen der kleinen Vorbehalte noch nicht optimal, doch die superbe Mandarinenlimonade aus dem Hause La Mortuacienne als flüssige Begleitung kompensiert diesen Umstand reichlich.
Die Dienstflughöhe ist mit der Pilzessenz jedoch endgültig erreicht. Auf dem einen Teller wird dieser Gang im Stile von Ramen umgesetzt. Das ursprünglich aus China stammende und von der japanischen Küche übernommene Gericht inszeniert Klaus Buderath mit Udon-Nudeln und einer kräftigen Pilzessenz im Stile eines Dashi sowie Sponge obenauf. Kleine Stückchen diverser Pilze wie Shiitake und Buchenpilze runden den ersten Teil ab, während der zweite Teller eine kompakte Kreation auf Pilzschaum präsentiert, die ihren Reiz aus der Pilzmousse in der Kugel bezieht. Beide Teller sind zudem mit Ingwer, Zwiebel und Soja abgeschmeckt, was für eine stimmige geschmackliche Abrundung sorgt.
Das Beeindruckende an diesem Gang ist meines Erachtens nicht nur die voller Überraschungen steckende Inszenierung an sich, sondern die stimmige Liaison einheimischer herbstlicher Produkte mit japanischen Einflüssen bei gleichzeitiger Bewahrung der für die fernöstliche Küche so typischen Demut vor dem Produkt. Es wird nicht das letzte Mal an diesem Abend bleiben, dass Reminiszenzen an Nippon die Menüfolge maßgeblich prägen werden – gut so, denn die Philosophie der fernen Kultur scheint Klaus Buderath inzwischen meisterhaft verinnerlicht und umgesetzt zu haben.
Auch ohne japanische Produkte erweist sich der nächste Gang teilweise als sehr puristisch. Auf dem Hauptteller überzeugt Zander in mustergültiger Zubereitung: saftig, zart und von perfekter Konsistenz. Die Beigabe von etwas luxuriösem Kaluga N25 Kaviar und einer Buttermilch mit Schnittlauch hätte schon ausgereicht, um vollständig zu überzeugen, doch mit dem beachtlichen Kontrastprogramm im Schälchen à part entlockt die Küche dem Hauptdarsteller noch andere Facetten: die Brandade von Stockfisch auf einer Fischvelouté und Kartoffel verblüfft mit ihren rauchigen und doch cremigen Aromen. Die Abrundung mit knuspriger Haut setzt einem enorm durchdachten und makellos zubereiteten Beitrag die Krone auf. Ach ja: als Begleitung verkoste ich auf Empfehlung des Service einen alkoholfreien Gin aus dem Hause Memento Blue, dessen besondere Eigenschaft ein ausgeprägt salziger und keineswegs an Wacholder erinnernder Geschmack ist. Zur Abrundung wird dieser mit Tonic Water aufgegossen und komplettiert einen fast schon als denkwürdig zu bezeichnenden Gang.
Zum nächsten Gang gießt der Service ein unvergessliches Getränk ins Glas: Essenz von schwarzem Rettich mit Muscovado-Zucker versetzt klingt schon exotisch und erweist sich als genau dies bei der Verkostung. Ein dermaßen intensives und aromensattes Getränk von ausgeprägter Herbheit habe ich noch nie verkostet – da muss der nächste Gang aber mal eine signifikante aromatische Wucht haben, um da mithalten zu können …
Und siehe da: geschmorten Kalbsnacken von unerhörter geschmacklicher Tiefe, die teils an Lardo erinnert, toppt man hier mit leicht geschmolzenem Périgord-Trüffel und gibt zur Begleitung neben einer grandiosen Kalbsjus nur ein kleines Bouquet aus verschiedenen Texturen von Pastinake bei. Separat reicht man dazu einen getrüffelten Toast, der mit etwas Mayonnaise bestrichen und ebenfalls reichlich mit Trüffel getoppt ist. Mir bleibt lange im Gedächtnis haften, wie dieser Einfall vollkommen souverän erdige und bittere Noten miteinander verquickt. Der heimliche Star dieses hervorragenden Beitrags ist für meine Begriffe die Jus, die absolute Extraklasse darstellt: intensiv, vielschichtig und süchtig machend. Nach der Velouté im Gang zuvor und der Jus hier sollte das Trio allerdings im Hauptgang noch komplettiert werden …
Ein alles andere als routiniertes und bieder ersonnenes Sorbet erfrischt die Geschmackspapillen vor dem Hauptgericht nochmals – was angesichts der fordernden Gänge zuvor durchaus angezeigt ist! Ein Glockenapfelsorbet wird hier nicht nur weihnachtlich gewürzt, sondern mit Apfelgranité, einem Zitrusespuma und etwas Punsch (in der Menüfolge als „Seestern Punch“ annonciert) auf komplexe, aber keineswegs unangemessene Weise begleitet. Die Art und Weise, einem einzigen Produkt möglichst viele Facetten abzuringen, kommt hier besonders schön zum Tragen.
Geschmorte Vierländerente kommt tatsächlich ohne „Satelliten“ aus und darf auch ohne störende Nebeneffekte glänzen: etwas Rotkohl-Kimchi, Wan Tan und eine abermals unbeschreiblich präzise hergestellte Jus von ungeahnter Tiefe reichen schon aus, um nachhaltig zu beeindrucken. Verschiedene Teile der Ente sorgen für geschmackliche Abwechslung in einem Plat principal, das ohne Chichi auskommt – wer solch profunden Geschmack aus den Produkten herauszukitzeln vermag, kann es sich auch leisten. Preiselbeersaft mit Ingwer ist erwartungsgemäß ein herber Begleiter, der bestens korrespondiert.
Einen kleinen Hänger genehmigt sich die Küche dagegen für meine Begriffe beim Käsegang: Fourme d’Ambert wird mit Williams-Birnencrème und -tapioka begleitet, doch auch der kross frittierte Topinambur ändert zu wenig an meinem Urteil, dass dies ein Gang ohne Ecken und Kanten ist. Trotz Blauschimmels entpuppt sich der Käse als vergleichsweise milde – und wird noch zusätzlich von Produkten begleitet, die keinen ausreichenden Kontrast liefern können. Was die Küche bisher sonst so an Mut aufgefahren hatte, das ließ sie hier doch etwas vermissen: zu viel Harmonie und Biederkeit dominierten beim Gesamteindruck.
Das gewohnte Niveau rief das Team um Klaus Buderath (wobei „Team“ ein problemtaischer Begriff ist, denn wie ich vom Service erfahre, stehen insgesamt nur zwei kochende Personen in der Küche!) wieder bei den Desserts ab. Beispielhaft wurde dies schon beim ersten Nachtisch deutlich, welches Beni Wild Schokolade 66% (Original Beans) mit Piemonteser Haselnuss kombinierte und ein nachdrückliches geschmackliches Statement setzte. Dank der überragenden Qualität der Nuss nimmt man sich hier die Freiheit, sie nicht nur „pur“, sondern auch als Ringe zu verwenden. Die Schokolade gelangt als Ganache in das Tartelette von weißer Schokolade und begleitet das „Körbchen“ auch in Form eines herausragend guten Eis. Für weitere Verfeinerung im Geschmack sorgen nicht nur Safran und etwas Sahne, sondern auch Kumquats (unter dem Eis und im Körbchen). Seinen Reiz bezieht dieses weit überdurchschnittliche Dessert vor allem aus der filigranen Umsetzung und dem wunderbar herben Geschmack, bei dem der Verzicht auf zu viel Zucker spürbar guttut.
Zum offiziellen Abschluss treffen quasi alte Schule und Moderne aufeinander: ein ganz klassisches, schön fluffiges und mustergültiges Topfensoufflé paart man hier mit ganz reizenden Umsetzungen von Quitte und Sanddorn in ausgelassener Heiterkeit und Phantasie. Trotz der optischen Schauwerte bleibt auch dieses zweite Dessert fokussiert und rückt die wenigen verwendeten Produkte ins beste Licht. Die Texturen und Konsistenzen sorgen gleichermaßen für ein abwechslungsreiches Essvergnügen, das jedoch zu keinem Zeitpunkt irgendwelchen Schauwerten huldigen muss. Die Veredelung dieses würdigen Ausklangs zeugt von einer sublimen Herangehensweise der Küche, die ein Abdriften ins Plakative gekonnt vermeidet. Der Kontrast zum ersten Dessert ist zudem wohltuend, denn dessen erdige Noten werden durch die fruchtigen Akzente wieder bestens aufgefangen. Ausgezeichnet!
Die Petits fours bestehen aus drei Pralinen (Ananas-Mango, Schokolade sowie Quitte) und einem winzigen Christstollen. Einer der Kellner verwickelt mich nebenbei, da ich zu diesem Zeitpunkt bereits der letzte Gast war, in ein Gespräch, da ich im Laufe des Abends durchaus den Eindruck erweckt zu haben scheine, dass ich mich in der Szene ganz ordentlich auskennen würde. Als Ergebnis dieses langen Plauschs vergesse ich, die Petits fours vor dem Verzehr abzulichten …
Seit meinem damaligen Besuch im LAGO hat sich der Stil von Klaus Buderath nochmals deutlich gewandelt – oder zumindest präzisiert. Die Affinität zur japanischen Küche und ihren Techniken durchzog weite Teile des Menüs, das an vielen Stellen wahrhaftig zu überzeugen vermochte. Als besonders gelungen empfand ich die Reduktion auf selten mehr als drei, vier Zutaten, die dann allerdings in beachtlicher Vielfalt seziert und neu zusammengesetzt werden. Auch wenn Klaus Buderaths Küche auf solidem französischem Fundament ruhen mag, so halten seine Gerichte mit ihrer aromatischen und so gar nicht französisch anmutenden Intensität selten hinterm Berg. Kein einziger Teller an diesem Abend wirkte auch mich nicht zu Ende gedacht, sondern litt allenfalls hin und wieder an fehlender Akkuratesse (Gänseleber) oder auch Mut (Käsegang). Doch selbst in diesen seltenen Fällen gab es immer wieder andere Faktoren, die diese kleinen Mängel kaschierten – seien es die reizenden Texturen oder die individuelle Interpretation von Klassikern mit ungewöhnlichen Produkten (zum Beispiel die Ramen mit Pilzen). Genuin frankophil gerieten dagegen ein ums andere Mal die Saucen, Sude und Veloutés, deren Niveau fast schon an den Standard von Großmeistern der Saucen wie Heinz Winkler oder Harald Wohlfahrt anknüpft.
Dass sowohl die Küche als auch der Service mit gerade einmal jeweils zwei Personen auskommen (die dabei alles im Griff zu haben scheinen), ist vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem gesamten Abend. Die Kellner können kompetent weitere Auskünfte bei Rückfragen erteilen und erweisen sich auf vielen Gebieten (Essen, Getränke, Traditionen) als wirklich sattelfest. Ich honoriere diesen Abend daher mit einem stattlichen Trinkgeld, selbst wenn die Nebenkosten bei den hausgemachten Getränken spürbar sind (ca. € 10 pro Glas). Die Rechtfertigung für den Menüpreis selbst erbrachte die Küche dagegen ohne jeden Zweifel.
Nach diesem Besuch steht für mich jedenfalls außer Frage, dass das Seestern derzeit im östlichen Württemberg die unumstrittene Nummer Eins ist. Der Michelin-Stern ist nicht nur redlich verdient, sondern vielleicht schon in naher Zukunft um einen weiteren Stern bereichert. Es würde mich nicht wundern, denn wenn die kleinen handwerklichen Ungenauigkeiten noch abgestellt werden könnten, dann hätte die gezeigte Darbietung für mich allemal das Potential für höhere Weihen. Gerade die inzwischen sehr ausgeprägte und unverwechselbare Handschrift des Chefkochs und seine geistige Durchdringung der Gerichte stellen für mich die deutlichsten Merkmale einer spürbaren Weiterentwicklung dar, die honoriert gehört. Das Urteil des FEINSCHMECKER mit 2 F ist eine Frechheit, doch zumindest hob die nun jüngere Testerriege des G&M die Note heuer gleich mal von 15 auf 17 Punkte an – ein Umstand, der in der Geschichte dieses Führers selten vorkommt, aber meines Erachtens vollkommen gerechtfertigt ist. Das Ende der Fahnenstange ist hier zudem noch nicht erreicht, so dass regelmäßigere Besuche meinerseits in Zukunft durchaus vorstellbar sind. Noch zücke ich wegen der kleinen Vorbehalte nicht die dritthöchste Note, aber der Trend zeigt mehr als deutlich in diese Richtung. In Ulm und Umgebung gibt es jedenfalls nichts Besseres – soviel ist sicher!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Seestern
Friedrichsau 50
89073 Ulm
Tel.: 0731/2064000
www.hotel.lago-ulm.de
Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 17 Punkte
GUSTO 2022: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 2 F
8-gängiges Menü: € 179