„Hoffnung ist Wunsch und Erwartung zugleich.“ (Ambrose Bierce)
Oktober 2020
Die Kleinstadt Tangermünde in der Altmark im Norden von Sachsen-Anhalt lohnt unbedingt einen Besuch, denn vor nicht allzu langer Zeit wurde die schmucke Hansestadt am Zusammenfluss von Elbe und Tanger zur schönsten Kleinstadt Deutschlands noch vor Bayerns weitaus bekannteren Perlen Rothenburg ob der Tauber (Platz 2) und Dinkelsbühl (Platz 3) gewählt. Die Altstadt hoch über der Elbe verzaubert mit verwinkelten Gässchen, wuchtiger Backsteinarchitektur und einem kilometerweiten Blick über die Elbauen bis zum auf der anderen Seite der Elbe gelegenen Kloster Jerichow, das nicht nur Norddeutschlands ältester Backsteinbau ist, sondern auch eine überaus sehenswerte romanische Kirche zu bieten hat. Ein touristisches Souvenir der besonderen Art ist außerdem das sogenannte Kuhschwanzbier, das konsequent nur hier vermarktet wird und seinen Namen der Stelle verdankt, an der die Bierbrauer im Mittelalter immer der Elbe ihr Wasser entnahmen und an der immer mindestens eine Kuh ihren Schwanz ins Wasser hängen ließ.
In kulinarischer Hinsicht ist das heutige Sachsen-Anhalt dagegen leider eines der unattraktivsten Bundesländer der Republik, denn neben dem Zeitwerk und dem Pietsch, die beide in Wernigerode liegen und auch noch vom selben Inhaber (Robin Pietsch) unterhalten werden, sucht man Michelin-Sterne sonst im „Bundesland der Frühaufsteher“ (so lautete ein ehemaliger Werbeslogan für Sachsen-Anhalt) vergeblich. Folglich freut man sich also schon über kleinere Errungenschaften. Dem im Schlosshotel Tangermünde (auf dem höchsten Punkt der Altstadt) gelegenen Restaurant namens 1699 verleiht der Gault&Millau immerhin noch die bescheidene Einstiegsnote von 13 Punkten, so dass mangels besserer Alternativen eine Einkehr hier schnell beschlossen ist. Wir hoffen einfach das Beste …
Immerhin bekommen wir auch ohne Reservierung (am Montagabend!) noch einen Platz in dem ziemlich feudal eingerichteten Lokal, das mit hellen Crèmefarben und Leuchtern aufwartet. Die Speisekarte liest sich ähnlich traditionell, hat aber einiges zu moderaten Preisen zu bieten, so dass wir gespannt bleiben, ob trotz der relativ niedrigen Kosten ein anständiges Niveau geboten wird. Wir stellen uns à la carte ein dreigängiges Menü zusammen und warten, ob es noch etwa weitere Extras gibt oder ob die Grundausstattung genügen muss.
Dieser Aspekt ist schnell geklärt, denn nach einiger Zeit geht es ohne Umschweife mit dem ersten Gang los: Bärlauchrahmsuppe mit gebratenem Garnelenspieß ist für die Jahreszeit etwas befremdlich, aber an sich gibt es an der Umsetzung nichts zu bemängeln. Die schön bissfesten kleinen Garnelen sind eine ideale Ergänzung zu der cremigen Suppe, die trotz ihrer Schlichtheit kaum trefflicher hätte geraten können – ein wirklich gelungener Einstieg.
Das lässt sich von der gebratenen Gänseleber „Berliner Art“ an Portweinjus mit Kartoffelpüree, Apfel und geschmorten Zwiebeln leider nur bedingt behaupten: die überraschend tiefe Jus ist mustergültig geraten und auch die Begleitung an sich wirkt stimmig, doch zwei Kritikpunkte dämpfen die Euphorie doch merklich. Zum einen verliert das Gericht aufgrund der schieren Masse und des Fehlens von originellen Texturen schnell von seinem Reiz; zum anderen ist es der viel zu kräftig gebratene Hauptdarsteller, dessen Bitternoten auf äußerst unvorteilhafte Weise das Gericht dominieren. Schade drum, denn mit etwas mehr Augenmaß bei der Innerei hätte dieser Teller locker signifikant besser ausfallen können. Andererseits müssen die vom G&M vergebenen 13 Punkte ja auch irgendwo herrühren, denn solche handwerklichen Ausrutscher würde man in einem höher dekorierten Lokal aller Voraussicht nach nicht antreffen.
Besser gefällt da wieder der gar nicht so süße Abschluss in Form von Tonkabohneneis auf Rhabarberkompott, was allerdings auch wieder für Ende August ein wenig deplatziert wirkt. Das geschmackliche Ergebnis ist durchaus vorzeigbar, doch auch hier hält nach einer gewissen Zeit die Langeweile Einzug, weil nach den ersten zwei, drei Bissen nichts Aufregendes mehr passiert und die Einfallslosigkeit bei der Präsentation zum Tragen kommt. Petits fours gibt es keine, doch preiswerte Digestifs mögen eine sinnvolle Alternative darstellen.
Der Abend verläuft im Wesentlichen so wie es die 13 Punkte im G&M auch erwarten ließen. Einem Höhepunkt gleich bei der Vorspeise folgten ein weniger gelungenes Hauptgericht sowie ein Dessert, das anstelle der schieren Masse etwas mehr Kreativität gut hätte vertragen können und somit signifikant aufgewertet worden wäre. Der Service lieferte eine solide Leistung ohne echten Erinnerungswert ab, doch offensichtliche Patzer gab es trotz eines gut gefüllten Lokals auch keine. Wer einen Tagesausflug nach Tangermünde ohne die ganz große Erwartungshaltung ausklingen lassen möchte, findet hier eine durchaus ansprechende Adresse, deren Handwerk vielleicht nicht frei von Schwankungen ist, aber insgesamt schon als überdurchschnittlich bezeichnet werden kann. Außerdem sind auch die fair kalkulierten Nebenkosten ein weiterer Grund dafür, das Lokal nicht allzu enttäuscht verlassen zu müssen. Den ambitionierten Drang nach oben verspüre ich hier zwar nicht, aber mit dem Erreichten kann man in dieser Region ja auch schon auf sich aufmerksam machen – in Tangermünde sollte dies jedenfalls die erste Adresse sein, zumal die Premiumlage des gar nicht mal so teuren Hotels eine weitere Trumpfkarte des Hauses darstellt.
Mein Gesamturteil: 13 von 20 Punkten
1699
Amt 1
39590 Tangermünde
Tel: 039322/7373
www. schloss-tangermuende.de
Guide Michelin 2020: –
Gault&Millau 2020: 13 Punkte
GUSTO 2020: –
FEINSCHMECKER 2020: –
3-gängiges Menü à la carte: ca. € 40