„Wo die Ostseewellen spülen an den Strand,
wo die gelben Ginster blüh’n im Dünensand,
wo die Möwen schreien, schrill im Strumgebraus,
da ist meine Heimat, da bin ich zu Haus.“ (Martha Müller-Grälert)
Juni 2020
Der quirligste Ort der Sonnen- und Ferieninsel Usedom wartet mit einer Fülle nobler Hotels auf, so dass es nicht überraschend kommt, wenn man hier doch auf das eine oder andere überdurchschnittliche kulinarische Angebot trifft – so auch im Hotel Strandidyll, das zur Hotelkette Travel Charme Hotels gehört. Dieser Fakt gehört deshalb erwähnt, weil in nicht wenigen Filialen dieser Kette bessere Restaurants anzutreffend sind; am deutlichsten wurde dies bei meinem ausgezeichneten letztjährigen Besuch in der Kilian Stuba im Kleinwalsertal, die ebenfalls in einem Hotel dieser Kette unterkommt. Dem Vertreter auf Usedom, dem Restaurant Belvedere, fehlt zwar noch der Michelin-Stern, aber 16 Punkte im Gault&Millau sind auch nicht von der Hand zu weisen. Wir machen uns also bei strahlendem Sonnenschein, wolkenlosem Himmel und einer frischen Brise nach einem Spaziergang durch den Ort auf den Weg zum Lokal, das sich im obersten Stock des Hotels befindet. Dadurch punktet die Location nicht nur mit einem traumhaften Blick auf die Ostsee, sondern auch mit einem architektonisch ansprechenden Konzept auf dem Dach des Gebäudes: das fast vollständig verglaste Halbrund ist ein echter Hingucker und trägt ganz erheblich zum entspannten Dinieren bei.
Chefkoch Christian Somann bietet hier ohne jeden Menüzwang eine Karte von insgesamt neun Gerichten an, die nach Belieben kombiniert werden können – schon das darf heutzutage als Seltenheit gewertet werden. Noch überraschender erscheint mir allerdings, dass sich auf der Karte auch ein Innereien-Gericht befindet, was sich meines Erachtens im Hinblick auf mehr Nachhaltigkeit definitiv als ein zukunftsweisender Weg für die gesamte Branche herausstellen sollte. Die meisten Kreationen weisen einen klaren Bezug zur Region auf, die ja in der Tat mehr als nur Salzwasserfische zu bieten hat: Süßwasserfische aus der Müritz, Rinder aus der Uckermark und Sanddorn seien hier nur exemplarisch als weitere Belege dafür genannt. Einige Gäste scheinen zwar Stammkunden zu sein und schauen jedes Jahr hier offenbar einmal vorbei, doch auch diesen kann man ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit für ungewöhnliche Gerichte nicht absprechen. Der Chef scheint mir hier somit einige Freiheiten genießen zu können, die er auch gerne für wagemutige Experimente ausnutzt. Wie gut diese gelingen sollten, würde sich ja schließlich am Ende des Abends zeigen.
Aus der Karte kann man sich ein individuelles Menü mit bis zu sechs Gängen zum Preis von € 95 zusammenstellen (was die Küche auch in Corona-Zeiten angesichts gesetzesbedingter früherer Schließungen als üblich nicht in Zeitnot bringen sollte). Überhaupt erscheint die gesamte Preisgestaltung im Hinblick auf die grandiose Lage nicht nur beim Menü, sondern auch bei der umfangreichen Weinkarte mehr als moderat zu sein. Wir nehmen dennoch nur ein viergängiges Menü, da uns an den Nebentischen die Portionen auch noch von ordentlicher Größe zu sein scheinen und warten gespannt, wie sich der Abend entwickeln wird.
Zu einem alkoholfreien Apfel-Secco tischt man in einem länglichen Quinoa-Schälchen mitsamt der aufgerollten Menükarte bereits die ersten Kleinigkeiten: zum einen ein Pumpernickel-Chip mit einer Kartoffel-Käsecrème, Radieschen und Kaviar sowie zum anderen eine Komposition aus Sommerkräutern, Meerrettich, Lauchasche und Joghurtschaum. Besonders das zweitgenannte Apéro gefällt an diesem sommerlichen Tag angesichts seiner Leichtigkeit und dezenten Würze ausgesprochen gut.
Das Amuse selbst paart den Geschmack der Ostsee geschickt mit asiatischen Anklängen: Räucherfisch in Eierstich mit Gemüse macht schon einiges her, aber das grandiose Kimchi-Eis verleiht dem Gericht bestechende Würze und gerät somit zum intensiven Gaumenkitzler. Nach diesem bestens abgestimmten Einstieg sowie einer Brotauswahl mit Kartoffelbrot und Salzbutter kann das Menü also losgehen. Wir sind gespannt …
… denn gleich zum Einstieg haben wir uns für „Innere Werte“ entschieden. Auf dem Teller kombiniert Chef Somann eine wunderbar zarte, saftige und nur ganz leicht bittere Kalbsleber vom Aubrac mit gegrilltem Müritz-Aal und Zwiebelgewächsen. Der gar nicht so fettige und schmelzige Aal geht zusammen mit der Bratensauce eine wunderbare Liaison mit der Leber ein, zumal die frischen Zwiebeln nicht zu dominant auftreten – unterm Strich trotz rustikaler Komponenten ein erstaunlich ausgewogenes Gericht mit einem gewissen Charme, das den Gast geschickt aus seiner Komfortzone lockt. Wären all die wenigen Innereien-Gerichte, die ich sonst bisher in edlen Restaurants vorgesetzt bekommen habe, so überzeugend gewesen, dann würden vermutlich noch mehr Gäste ihre Reserviertheit vor dieser Art von Produkt ablegen. Wirklich sehr gelungen!
Der nächste Gang, „Spinner“ genannt, stellt Tatar von gegrillter dänischer Meerspinne (für alle Nichteingeweihten: „Krabbe“ ist ein gängigerer Begriff) in den Mittelpunkt. Das Fleisch ist vielleicht einen Tick zu weich geraten, aber die vergleichsweise puristische Kombination mit jungem Kohlrabi und Soja-Dashi vermag dennoch zu überzeugen. Das im Vergleich zum Vorgänger einfacher gestrickte Gericht punktet mit unverfälschtem Wohlfühlgeschmack und ist auch leichter fassbar – ein schöner Kontrast.
Der nächste Gang, „Grüner Dampf“, stellte das wohl klarste kulinarische Bekenntnis zur Region dar: gedämpfter Peene-Zander der zartesten Art wird hier mit einer Entourage ausgestattet, die der Hauptdarsteller meines Erachtens gar nicht nötig gehabt hätte, zumal unter den begleitenden Kräutern und Radieschen die Erbsen etwas zu dominant erscheinen. Der leicht säuerliche Schaum (ich konnte das Aroma leider nicht zweifelsfrei zuordnen) federte den Gang allerdings gekonnt ab und rundet das eher schlicht gehaltene Gericht, dessen Trumpf eindeutig der grandiose Zander ist, würdig ab. Allenfalls mehr Produktpurismus hätte hier noch mehr Dividenden einbringen können.
Was selten genug vorkommt: mit dem Dessert sollte nun der Höhepunkt an Wagemut erreicht werden. Bei „Rauch Karamel“ ist der Name Programm: der Hauptdarsteller wird hier mit Sorbet von der Sonnenblumenwurzel und Haselnusscrème in Szene gesetzt. Leider handelt es sich bei diesem Abschluss für unsere Begriffe klar um den schwächsten Gang des Abends, denn die durchaus an Whiskyaromen erinnernde Komposition bleibt in einem zu engen aromatischen Spektrum verhaftet. So entsteht schließlich ein eher diffuses und wenig differenziertes Aromenbild, was auch die verschiedenen Texturen nicht beheben können. Schade um eine an sich originelle Idee, die allerdings noch nicht sonderlich ausgegoren oder zu Ende gedacht wirkte. Mit etwas Feinjustierung sollte aus diesem Gang zukünftig durchaus noch etwas zu machen sein, aber in der aktuellen Form hatte dieser schwere und gehaltvolle Ausklang eine eher fragwürdige Wirkung. Wir verbuchen das als grundsätzlich zu respektierenden Mut eines noch recht jungen Kochs, dem ein Experiment eben mal nicht so gut gelang.
Da uns die Petits fours aufgrund eines Missverständnisses nicht am Tisch aufgetragen, sondern letztlich zur Mitnahme gereicht wurden, ist hiervon leider kein Foto vorhanden. Insgesamt bestand die kleine, feine Auswahl aus Törtchen und Pralinen, die das zuvor allgemein gezeigte Niveau locker bestätigten.
Serviceleiter Steffen Berger fackelt an diesem Abend eine beeindruckende, genuine One-Man-Show im Service ab und überzeugt durch sicheres Auftreten, charmante Pointen und völlig unaufgeregtes Begleiten durch den Abend – eine wirkliche bemerkenswerte Leistung, zumal unter den erschwerten aktuellen Bedingungen. Als einzigen Fauxpas verzeichnen wir die Panne mit den Petits fours, was angesichts der restlichen Darbietungen aber verziehen sei.
Was Christian Somann hier auf die Teller zaubert, ist insgesamt recht klar strukturiert, leicht fassbar und meist unkompliziert dargeboten. Dennoch entbehren die meisten Gerichte nicht eines gewissen Twists, der mit Hilfe kleiner origineller Ideen scheinbar sattsam bekannte Produkte in ein neues Licht rückt. Ein Hort der Avantgarde ist das Lokal nicht, aber die zeitgemäßen Darbietungen erweisen sich als durchaus launige und durchdachte Einfälle. Die Küche konnte uns mit mutigen Kreationen mehr als nur einmal voll auf ihre Seite ziehen. Hätte das Dessert bereits das gleiche Maß an geistiger Durchdringung vorweisen können, dann hätte ich diesen Abend ohne Weiteres auch mit einem Punkt mehr honoriert. Dennoch sei resümiert, dass der Gesamteindruck durch das etwas flaue Finale nur marginal getrübt wurde und am Ende des Abends eine Darbietung stand, die für unsere Begriffe allemal einen Michelin-Stern verdient hätte. Ein weiterer Besuch ist zwar vorerst wegen der großen Entfernung nicht geplant, was aber keinerlei Rückschlüsse über die Qualität zulässt. Wer seinen Urlaub auf Usedom plant, ist also mit einem Besuch hier sicherlich nicht ganz schlecht beraten!
Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten
Belvedere
Delbrückstraße 10
17424 Heringsdorf
038378/4760
www.travelcharme.com
Guide Michelin 2020: —
Gault&Millau 2020: 16 Punkte
GUSTO 2020: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: —
6-gängiges Menü: € 95