Februar 2019
Die Altstadt von Braunschweig ist unter anderem gekennzeichnet durch eine selten wilde Mischung an Baustilen, die hauptsächlich den Zerstörungen im 2. Weltkrieg geschuldet ist. So auch im Fall dieses recht unscheinbaren Restaurants im Südwesten der Altstadt, das sich schnell zur ersten Gourmet-Adresse der niedersächsischen Löwenstadt gemausert hat: der Hauptteil des Restaurants ist ein nach hinten versetzter, moderner Anbau, während die Küche in einem zimelich schmal anmutenden Fachwerkhaus rechts davon untergebracht ist. Hier, in der Alten Knochenhauergasse (martialischer Name!), kocht seit Kurzem der erst 30-jährige Enrico Dunkel bereits auf einem beachtlichen Niveau. Ich betrete einigermaßen schlecht gelaunt das Lokal, denn die enervierende Parksituation in der Altstadt an einem Samstagabend kostet einen den letzten Nerv, weshalb an dieser Stelle unbedingt die potentielle Anreise per Linienbus empfohlen sei. Meine Laune hebt sich allerdings schnell, denn die ersten kulinarischen Eindrücke scheinen den Ruf eines Lokals, das (noch) Geheimtipp-Status genießt, schon zu untermauern. Passend zur eher rustikalen, weitgehend in Brauntönen gehaltenen Inneneinrichtung wird die erste Petitesse, eine warme und überraschend intensive Blutwurst-Quiche mit einem Tupfen Wasabi-Crème obenauf, auf einem kleinen Holzkästchen serviert. Die Kellnerin kredenzt mir einen Cocktail aus Ginger Ale und ein paar Spritzern Orangensaft, und auch Sommelier Nico Spalding ist rasch zur Stelle, wenn die Kollegin mal verhindert ist. Sehr originell und gut umgesetzt auch ein zweiter Gruß, bestehend aus einem Königsberger Klops vom Linumer Wiesenkalb. Diese Variante hier kommt allerdings ohne Kapern aus und setzt stattdessen auf Rote-Bete-Brunoise, Essiggurke und eine intensive Kräutersauce – keine Frage, der Koch kann etwas!
Ich gestehe freimütig, dass dieses nur abends geöffnete Lokal keine 14 Tage vor meinem Besuch mir noch überhaupt kein Begriff gewesen war, aber da dürfte ich nicht der Einzige sein. Abgesehen von der Gestaltung des Lokals mit den auffallend großen Fensterflächen zur Vorderseite hin und der an manchen Stellen recht hohen Decke erinnert mich hier ansonsten vieles an das ähnlich empfehlenswerte Délice in Stuttgart: neben einer vergleichbaren Parksitaution findet man auch dort einen kompetenten Sommelier sowie einen einzigen Koch, der in der ganzen Küche als One-Man-Show agiert und dabei beachtliche Ergebnisse vorweisen kann. Wie das Délice ist auch Das Alte Haus mit 7 GUSTO-Pfannen und 16 Punkten im G&M dekoriert. Der Michelin-Stern fehlt Enrico Dunkel hingegen noch, aber höchstwahrscheinlich ist dieses Manko bereits Ende Februar Geschichte, wenn der neue Guide Michelin 2019 endlich erscheint.
Zur Auswahl steht in Braunschweig ein bis zu siebengängiges Menü, wobei ich diesmal (im Nachhinein eine gute Entscheidung) wegen einigermaßen hoher Sättigung im Lauf des Tages auf den Käsegang verzichte. Der geforderte Preis von € 100 für sechs Gänge ist dabei angesichts der verwendeten Viktualien bemerkenswert gastfreundlich. Sollte der große Hunger eintreten, wäre ja auch noch die sättigende und ordentliche Brotauswahl verfügbar.
Eine gebratene Jakobsmuschel von absolut generöser Größe kombiniert Dunkel mit Rogenmousse, Kürbis, Grapefruit und Kürbis-Garnelensauce. Das klingt zunächst recht wild, erweist sich aber als weitaus besser wie befürchtet. Speziell die bitteren Noten der Fischeier federn die Aromen der insgesamt recht fruchtigen Komposition von straffer Säure geschickt ab, wobei die mit den Aromen der Muschel aromatisierte Crème auch sinnvolle texturelle Vielfalt beisteuert. Im Detail ist die etwas grobe Struktur des Tellers vielleicht noch ausbaufähig, aber in Summe hat dieser Einstieg durchaus Charme und auch Individualität.
Greater Omaha Beef kommt als Tatar und aromatisierter Schaum obenauf auf den Teller. Drumherum drapiert die Küche gerösteten Topinambur, Buchenpilze und schwarzen Wintertrüffel. Die herben und erdigen Noten ergeben hier ein wirklich stimmiges Gesamtbild, zumal diese bildschöne Komposition sehr viel kompakter wirkt als ihr etwas ausladender Vorgänger. Auch geschmacklich macht der Inhalt des Schälchens einiges her, denn die fast schon perfekte Balance der Aromen erfordert doch eine gewisse Routine. Zur Freude des Gastes trägt auch der Umstand bei, dass Herr Dunkel immer wieder mal höchstpersönlich an den Tisch kommt und die Speisen erklärt – eine Tradition, die vom Aussterben bedroht ist und in dieser Form nur noch in wenigen Lokalen, wie beispielsweise dem Essigbrätlein in Nürnberg oder dem August in Augsburg, praktiziert wird.
Als mutiger Gang erweist sich Ostsee-Aal und Pfälzer Blutwurst, die in bester mürber Konsistenz den Boden für ein in Räucheraalsauce badendes, reizendes Türmchen bildet: darauf tummeln sich ebenfalls recht rustikale „Gesellen“ wie dicke Bohnen und saure Kartoffeln. Das schmeckt indes erheblich eleganter als erwartet und gerät sogar zu einem Höhepunkt des Abends. Das recht diffizile Aromenbild wirkt nie plump trotz eher deftiger Komponenten und offeriert eine insofern ungewöhnliche Esserfahrung, da nicht viele Köche Blutwurst so prominent und massig einsetzen würden ohne dabei ein Gericht zu eindimensional geraten zu lassen. Herrn Dunkel gelingt dies jedoch mit fast schon nonchalanter Leichtigkeit.
Noch puristischer und konzentierter wirkt Skrei (geflämmt und gebackene Praline), marinierter Fenchel, Dill und Salzzitrone. Der fast schon auffallend säuerliche Fenchel (eine echte Diva unter den Gemüsen) verleiht dem Gericht spritzige Frische, die prächtig mit dem perfekt gegarten Kabeljau harmoniert. Die federleichte Dillsauce liefert die passende Bühne für ein Gericht, das eine beachtliche Reife erahnen lässt. Handwerklich top und einfach schnörkellos umgesetzt – absolut meisterhaft!
Als eingeschobene Erfrischung vor dem Hauptgang wird in einem trichterförmigen Schälchen eine erfrischende Darbietung aus einem Obstsalat mit Sahne und klein gewürfelter Melone obenauf gereicht. Ganz obenauf findet man die (auch im wörtlichen Sinne) Krönung, nämlich ein beachtliches Kalamansi-Sorbet.
Ein recht üppig portionierter Hauptgang folgt diesem Einschub: Havelländer Apfelschwein, Schwarzwurzel, Flower Sprouts und Kartoffelwaffel. Der nur zartrosa gegarte Rücken ist saftig, aber von nicht allzu intensiver Aromatik. Für diese sorgen die Begleiter, die in einem herzhaften Sud in recht groben Strukturen, aber nicht minder intensiven Aromen um den Hauptdarsteller angeordnet sind. Summa summarum erweist sich dieser Gang als solide – nicht mehr und nicht weniger.
Ein echtes Kunstwerk von langanhaltender Wirkung ist dagegen trotz bereits erheblicher Sättigung die „Zitronentarte“: Dessert von Valrhona-Yuzu-Schokolade, Yuzu, Vanille und Buddhas Hand. Dieser absolut hinreißende Reigen aus einem Mürbteigtörtchen mit Kuvertüre von weißer Valrhona-Schokolade (laut dem Chef eine neue Produktlinie von Valrhona) harmoniert in einer göttlichen Liaison mit den asiatischen Zitrusfrüchten und wird durch die edlen, feinen Vanillenoten so kongenial veredelt, dass es eine reine Wonne ist. Die sättigenden Tropfen von Yuzu-Gel auf der Kuvertüre scheinen da fast schon entbehrlich, während eine Scheibe von der getrockneten Urfrucht (Buddhas Hand) die Komposition fast schon geheimnisvoll bedeckt. Auch wenn das Jahr 2019 noch recht jung ist, so dürfte dieses ganz starke Dessert schon jetzt zu den besten Drei des Jahres gehören! Wer stört sich da schon an den drei harmlosen Petits fours zum Ende?
Ich muss nicht lang um den heißen Brei herumreden: Enrico Dunkels Küche hat mich beeindruckt, da sie einen jugendlich-heiteren Eindruck auf mich machte, der jedoch nie überdreht oder gewollt wirkte. Im Gegenteil: die an den Tag gelegte Reife war für einen 30-jährigen Koch schon sehr bemerkenswert und ließ ein beachtliches Potential erkennen. Gepaart mit einem ziemlich sicheren Gespür für Aromenallianzen kreiert der junge Chef hier alles andere als langweilige oder vorhersehbare Gänge (die allesamt jedes Mal auf einem anderen Teller präsentiert wurden) mit kreativen Ideen und ziemlich souveränem Handwerk. Dieses Engagement schwappt auch über auf die kleine Servicebrigade, die aufmerksam und nah am Gast ihren Auftrag erledigt. Vinophile Gäste können hier übrigens auf einen erstaunlich großen Weinfundus zurückgreifen, sind aber ebenfalls gut damit beraten, sich einfach von Nico Spalding kompetent beraten zu lassen. Obwohl ebenfalls noch ein junger Vertreter seiner Zunft, agiert er sehr sicher und ist schon jetzt aus dem Serviceteam nicht mehr wegzudenken. Fazit: eine beachtliche kleine Adresse im kulinarisch nicht allzu reich gesegneten Niedersachsen mit Potential für die Zukunft – wie viel davon genau, dürfte die nähere Zukunft schon bald zeigen. Von den anwesenden Gästen (darunter zwei noch recht junge Kinder im Alter von etwa sieben Jahren) verließ jedenfalls kein einziger das Lokal enttäuscht an diesem Abend. Es gab auch absolut keinen Anlass dafür!