Das Marktrestaurant*, Mittenwald

„Nun aber bei dem Glanze der aufgehenden Sonne die dunkeln, mit Fichten bewachsenen Vordergründe, die grauen Kalkfelsen dazwischen und dahinter die beschneiten höchsten Gipfel auf einem tieferen Himmelsblau, das waren köstliche, ewig abwechselnde Bilder.“
(Johann Wolfgang von Goethe über Mittenwald in „Italienische Reise“)

Juli 2023

Schon der deutsche Dichterfürst erkannte, dass Mittenwald ein Paradebeispiel für einen Ort wie aus einem oberbayrischen Bilderbuch darstellt – kein Wunder, gibt es hier doch all das, was Oberbayern ausmacht, in Hülle und Fülle. Da wären neben verschwenderischer Lüftlmalerei, barocken Kirchen, Trachten und typischem Brauchtum auch noch das Karwendel und die Wettersteinwand mit der nahegelegenen Leutaschklamm, die über das deutsch-österreichische Grenzgebiet verläuft und einen Abstecher allemal wert ist. Außerdem hängt hier der Himmel buchstäblich voller Geigen, denn an kaum einem anderen Ort in Deutschland ist der Geigenbau so omnipräsent wie hier – das geht sogar soweit, dass diesem Thema gar ein eigenes Museum in der Altstadt gewidmet ist. Zweifellos hat der touristisch entsprechend ausgebaute Ort viel zu bieten, und doch wäre aus der Sicht eines Gourmets ein Sternerestaurant eine feine Sache. Diese Lücke schließt das Marktrestaurant, welches günstig am Ende der Fußgängerzone und unübersehbar gegenüber dem großen Busparkplatz liegt. Ein Besuch war eigentlich gar nicht eingeplant, doch manchmal ergeben sich solche Zufälle ganz von alleine: ein Platz war noch verfügbar, und die animierende morgendliche Wanderung durch die Klamm hatte angesichts eines dann noch überschaubaren Andrangs weniger Zeit in Anspruch genommen als gedacht.

Das blassgraue, aber stattliche Gebäude ist das Reich von Chefkoch Andreas Hillejan, dessen Ehefrau Nancy zudem für den 20 Meter entfernten, hauseigenen Gourmetladen mit einem Schwerpunkt auf Gewürze verantwortlich zeichnet. Es ist einigermaßen amüsant zu sehen, dass das Restaurantgebäude ebenfalls einen Delikatessenladen beherbergt, der allerdings nicht zum Betrieb gehört und vor allem auf exzellente Konfitüren spezialisiert ist. Inhaber Andreas Hillejan stammt eigentlich vom Niederrhein, hat aber an der Grenze zu Österreich sein Glück gefunden und erfolgreich ein Lokal etablieren können, das gekonnt die Klassiker der Region neu interpretiert, aber auch ganz eigene Akzente setzt. Das zeigt auch schon das Interieur, welches gekonnt antikes Mauerwerk mit modernen Elementen mischt und umgehend für eine natürliche Wohlfühlatmosphäre sorgt. An diesem sonnigen Nachmittag lockt das neben meiner Wenigkeit unter anderem drei Japanerinnen an, die sich von dem Besuch hier offenbar neben gehobener Küche bayrisches Kolorit versprechen und natürlich nicht enttäuscht werden.

Andreas Hillejan ist ein durchaus leutseliger Mensch und lässt es sich nicht nehmen, immer wieder mal im Gastraum aufzukreuzen und seine Gäste etwas näher kennenzulernen. Ich war ihm vor diesem Besuch zwar noch nicht geläufig, aber das sollte sich rasch ändern. Ich lenke das Thema des ersten Gesprächs rasch auf Andreas Widmann, da der mir bestens vertraute Chef des ursprung in Königsbronn-Zang als Vizepräsident der Vereinigung Jeunes Restaurateurs in einem Lokal, das ebenfalls Mitglied in diesem Verband ist, bekannt sein sollte. Natürlich lag ich richtig und bekomme umgehend den Auftrag, ihn bei der nächsten Stippvisite im Zanger Löwen herzlich im Namen des Chefs zu grüßen. Dann werden mir die Amuses höchstpersönlich vom Inhaber vorgestellt: auf der Holzscheibe ein Lachschip mit mariniertem Saibling, im Glas ein geschäumtes Spinatsüppchen und anbei noch ein Teignest mit marinierter Karotte. Dass hier alles etwas einfacher gehalten ist als im einen Tag zuvor besuchten Luce d’Oro, liegt schon angesichts der aufgerufenen Preise auf der Hand. Daraus macht der Chef auch überhaupt keinen Hehl, denn seine Gästeklientel ist nun mal eine andere – außerdem erkennt er mir gegenüber den Ausnahmerang des Luce d’Oro neidlos an und fordert genauso wie ich den dritten Stern für das noble Etablissement ein. Vorzeigbar sind diese Amuses natürlich trotz allem: handwerklich solide, unverfälscht im Geschmack und in ihrer Schlichtheit einfach gut!

Das kurz darauf gereichte Roggenbrot kommt mit aufgeschlagenem Rahm, Gewürzmischung und Kresse zum selbständigen Schneiden – wobei ich erst einige Zeit später gewahr werde, dass das Brett die Form eines Geigenkorpus aufweist und eine nette Referenz an die Spezialität der Stadt darstellt. Auch in puncto Qualität kann sich das absolut sehen lassen. Dazu noch ein Glas vom Prisecco Weißduftig von Jörg Geiger – und es kann losgehen!

Zur Auswahl stehen hier zwei sechsgängige Menüs, wobei eines davon rein vegetarisch gestaltet ist. Sie tragen den Namen „Wirtshaus mal anders“ (€ 138) bzw. „Wirtshaus mal anders vegetarisch“ (€ 128) und bilden die kulinarische Visitenkarte des Hauses. Erfreulicherweise bietet man zudem in den Wirtshaus-Rubriken „Heimat“, „Klassik“ und „Naschwerk“ noch eine stattliche Anzahl an fair bepreisten Gerichten à la carte an, die mir gut zugesagt und rasch mein Interesse auf sich zieht. Angesichts des üppigen Festmahls vom Vorabend lasse ich es tatsächlich bei nur zwei Gängen bewenden, verspreche dem Chef aber vorab, es auf jeden Fall nochmals einrichten zu wollen und dann ein Menü zu wählen.

So folgt also auf die Ouverture ausnahmsweise gleich das Hauptgericht, das gemäß meiner Wahl aus Bergbauernravioli (€ 28) besteht. Die Küche versteht darunter gefüllte Maultäschle vom Weiderind mit Röstzwiebelsud, was zunächst eher schwäbisch als alpenländisch klingt. Durch die Beigabe von Almkäse bekommt der Gang trotzdem Lokalkolorit verpasst und wird mit etwas Spinat weiter veredelt. Unterm Strich ist dies ein leicht verständlicher und bekömmlicher Gang, der den Fokus eher auf die fleischlosen Komponenten richtet und damit der Erwartungshaltung an ein gehobenes Wirtshaus vollumfänglich entspricht. Was dem Gang vielleicht an Raffinesse fehlen mag, macht er durch süffigen Wohlgeschmack locker wett. Zurecht ein Klassiker des Hauses, der meines Wissens immer auf der Karte steht und einen guten Eindruck von dem hier praktizierten Küchenstil gibt.

Ganz und gar alpenländisch wird es beim Dessert: Nörgler würden vielleicht unterstellen, dass bei einem Klassiker wie geschmeltzem Marillenknödel mit Marillensorbet, Aprikosenragout und  Vanillesauce nicht viel schiefgehen kann, doch ein derart oberflächliches Urteil würde diesem Teller nicht gerecht werden. Viel zu bemerkenswert ist allein schon die Ausgangsqualität der verwendeten Produkte, die ein Abdriften in seichte Beliebigkeit verhindert. Das exzellente Handwerk, das seinen Höhepunkt in dem unerhört fruchtigen Sorbet der Extraklasse findet, beweist zudem, dass selbst bei Klassikern große Qualitätsunterschiede denkbar sind. Wer dieses Gericht etwa deshalb meidet, weil er dahinter krachlederne Durchschnittskost in einer Touristenfalle vermutet, wird ganz schnell eines Besseren belehrt. Sicherlich bedarf es für diesen Teller keines Pâtissiers auf Weltklasseniveau, doch ändert es nichts daran, dass dieser Marillenknödel mit Sicherheit zu den besten der jüngeren Vergangenheit gezählt werden muss. Gerade wer hier mit derselben Erwartungshaltung wie die eingangs beschriebenen Japanerinnen einkehrt, dürfte schwerlich enttäuscht werden!

Auf Petits fours muss wohl verzichtet werden, und doch artikuliert Andreas Hillejan mir gegenüber die Hoffnung, den Grundstein für eine wiederholte Einkehr gelegt zu haben. Wie schon zuvor skizziert, sage ich zu und betone gleichzeitig, dass ich ziemlich viel herumkomme und deswegen Termine bisweilen nicht immer so lege wie ursprünglich gedacht. So oder so erkennt der Chef in mir einen kulinarisch interessierten und einigermaßen bewanderten Gast, was ihn letztendlich zu folgendem Kommentar hinreißt: „Wir brauchen mehr solche Gäste wie Sie!“

Die Darbietung dieses Tages war natürlich von geradezu aphoristischer Kürze, so dass ein verlässliches Urteil angesichts der wenigen Eindrücke etwas spekulativ bleiben muss und ein wenig von der Meinung anderer Guides geprägt ist. Tatsache ist, dass hier bei durchschnittlichen Nebenkosten und einem ziemlich persönlichen Service solide Kost mit einem gewissen Twist auf Ein-Stern-Niveau präsentiert wird, die gewiss ihren Reiz hat. Neuerungen am Puls der Zeit sind hier fehl am Platze und werden sicherlich von keinem Gast erwartet – und doch begnügt sich die Küche im Menü durchaus nicht mit klischeehaften Gerichten, sondern bringt, wie ein Blick in die Speisekarte verrät, auch mal asiatische Elemente wie Dim Sum ein oder kombiniert Rote Bete mit Frischkäse und zaubert daraus eigenständige Gerichte, die sich doch etwas weiter entfernen von der für diese Region so typischen Wirtshauskost.

Die von mir vergebene Punktzahl fußt somit ein wenig „auf Verdacht“ und soll ausdrücklich nicht in Stein gemeißelt sein – gut möglich, dass der nächste Besuch mit einer längeren Menüfolge dann schon eine höhere Punktzahl generiert. Bis dahin kann ich jedoch guten Gewissens jedem weiteren Gast hier den Marillenknödel vorbehaltslos empfehlen!

Mein Gesamturteil: 15 von 20 Punkten

 

Das Marktrestaurant
Dekan-Karl-Platz 21
82481 Mittenwald
Tel.: 08823/9269595
www.das-marktrestaurant.de

Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 2 Toques
GUSTO 2023: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 2,5 F

3-gängiges Menü „Klassik“ à la carte: ca. € 80