De Librije***, Zwolle

„Wo die Geselligkeit Unterhaltung findet, ist sie zu Hause.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Oktober 2019

„Gehen Sie direkt ins Gefängnis. Gehen Sie nicht über los, ziehen Sie nicht 4.000 DM ein.“ So lautet eine Ereigniskarte eines berühmten Brettspiels, über die sich wohl schon so mancher Spieler tüchtig geärgert hat. Gourmets hingegen, die es ins niederländische Zwolle zieht, leisten dieser Aufforderung hingegen nur zu gerne Folge, denn hinter den Mauern eines ehemaligen Frauengefängnisses, das im Herzen der ehemaligen Hansestadt Zwolle liegt, befindet sich eines der weltbesten Restaurants mitsamt einem Hotel der Luxusklasse: das De Librije.

Inhaber und Chefkoch Jonnie Boer nennt bereits seit 2004 drei Michelin-Sterne sein Eigen – und damit deutlich länger als jeder andere niederländische Drei-Sterne-Koch. Von den insgesamt drei mit den höchsten Weihen des Michelin ausgezeichneten Restaurants in unserem Nachbarland ist dies mit Abstand das renommierteste und ein wahrer Wallfahrtsort für internationale Gourmets. In den Mauern der Haftanstalt wurde ein Genussrefugium eingerichtet, das Hotelzimmer, ein Restaurant, einen Laden, ein Kochstudio und noch diverse weitere Einrichtungen allesamt unter einem Dach vereint. Herzstück des Areals ist der ehemalige Innenhof, der inzwischen mit einem Glasdach bedeckt wurde und so für eine lichtdurchflutete Atmosphäre im Herzen des Lokals sorgt. Dass dieses Restaurant eine Brutstätte der niederländischen Avantgarde ist, wird einem allerdings schon beim Betreten des Etablissements verdeutlicht, denn diverse bunte und gewagte Design-Gegenstände finden sich hier an jeder Ecke. Der gar nicht so kurze Weg zum Restaurant selbst führt schließlich an ehemaligen Zellen vorbei über einen stylish eingerichteten Vorraum (in dem die Kanapées und der Apéritif eingenommen werden), ehe man schließlich das Epizentrum der Haute Cuisine erreicht. Natürlich wusste ich schon vor dem Besuch des Lokals, dass viele Gourmets dieses Lokal zu den zwanzig Besten der Welt zählen – in puncto Erwartungshaltung natürlich eine große Hypothek für die Betreiber, doch soviel sei vorweggenommen: anstatt dies als Bürde zu interpretieren, nimmt man hier die Herausforderung tagtäglich aufs Neue an und lockt nach wie vor Gäste aus aller Welt an. Das manifestiert sich am Vorlauf für die Reservierung: mittags sind Wartezeiten auf einen Tisch von drei bis sechs Monaten sowie abends bis zu einem Jahr keine Seltenheit. Wer dauerhaft ein solches Lokal füllt, kann kein ganz schlechter Koch sein!

Zunächst einmal geht es nicht ins Restaurant selbst, sondern in einen ziemlich knallig eingerichteten Vorraum, in dem der Apéritif (in diesem Fall ein fruchtiger Traubensecco eines mir nicht bekannten Produzenten) und die Grüße aus der Küche eingenommen werden. Der dreiteilige Reigen beginnt mit einem Sandwich aus hauchdünnen Reiscrackern – dazwischen befindet sich hocharomatischer Senf, der mit marinierten Zwiebeln verfeinert wurde. Es geht weiter mit gebackener holländischer Garnele in einem knusperdünnen Tempurateig, bevor schließlich leicht rauchige Schweineschnauze mit Speck vom Wollschwein den Höhepunkt der beachtlichen Trilogie erreicht. Das beeindruckt uns schon ziemlich, aber da geht bestimmt noch mehr …

Nach dem Apéritif geleitet man uns zu unserem Platz, der aus einem Tisch mit einer halbkreis-förmigen Sitzbank besteht. Der Tisch ist zunächst recht spartanisch mit einem kleinen Blumenschmuck und einer Lederdecke eingedeckt. Das überaus geräumige und helle Restaurant hat seit dem Umzug aus den ehemaligen Räumlichkeiten in einem Nebengebäude nochmals spürbar dazu gewonnenen. Gut und gerne 50 Gäste aller Couleur werden hier an zwei Nachmittagen und an fünf Abenden umsorgt – doch von Hektik nicht die geringste Spur. Im Gegenteil: der Service unter der Leitung von Thérèse Boer, der Ehefrau des Chefs, funktioniert wie ein Uhrwerk. Trotz einer Vielzahl verschiedener Servicekräfte sind die Abläufe genau einstudiert und geplant, so dass angesichts dieser Präzision sogar noch Zeit für den einen oder anderen Plausch bleibt, zumal die hübschen Damen und eleganten jungen Herren auch durchaus etwas fürs Auge bieten. Als sich kurze Zeit nach dem Beginn unseres Menüs herausstellt, dass eine der Kellnerinnen aus Ludwigsburg stammt, sind auch die letzten sprachlichen Barrieren überwunden – obwohl die meisten Servicekräfte nicht nur Englisch, sondern teils auch ganz ordentlich Deutsch sprechen (jedenfalls weit besser als mein nicht-existentes Niederländisch …).

Wie in diesem Hause üblich, schließt das Serviceteam symbolisch mit dem Gast Freundschaft, indem ein Siegelring an den Finger des Gasts gesteckt wird, auf dem sich Tatar vom Kalb und Heringskaviar befinden – mit Recht so etwas wie ein Signature Dish seit vielen Jahren (wenn es auch nur eine Kleinigkeit darstellt). Schließlich kommt Chef Jonnie Boer höchstpersönlich an den Tisch, erzählt von den regionalen Zutaten seiner Küche und platziert dann aus einem großen, rauchenden Holzkasten geräucherten Zander in einem kleinen Schälchen mit einer salzig-jodigen Crème. Das Amuse, „Süßwasser“ genannt, besteht allerdings noch aus drei weiteren Teilen: eine klare Bouillon mit Hummer, ein goldenes Ei mit Auster, Aal und einer leichten Morchelcrème gefüllt sowie Schwimmkrabbe auf einem kleinen Teigkissen – nicht nur geschmacklich stark, sondern auch apart angerichtet!

Bereits im Vorraum entscheidet man sich übrigens für ein vorgegebenes zehngängiges Menü (für auf diesem Niveau wirklich moderate € 255), ein etwas günstigeres vegetarisches Menü (nur für Vegetarier zu empfehlen, da das Gesamterlebnis sonst einfach nicht dasselbe wäre) sowie ein siebengängiges Menü für € 210. Der Clou besteht hier darin, dass man vier Gerichte aus einer Auswahl von zwölf Gängen selbst aussucht und die Küche die anderen drei nach Gusto ergänzt. Das erhöht die Spannung und sei deshalb ausdrücklich empfohlen im Falle eines Besuches.

Steigen wir also ein mit dem angekündigten Krabbensalat – ein Gang, der aus zwei Tellern besteht. Auf dem großen Teller befindet sich ein exquisites Dressing aus Kohl, Zitronengras, Tintenkappe (ein Speisepilz), Schlehe und Limette, während der kleinere tiefe Teller Gänseleber beinhaltet, die wie eine Krabbenschere geformt wurde (und täuschend echt aussieht) sowie frittierte (echte) Nordseekrabbe. Ein entzückender, hochkomplexer und äußerst launiger Einstieg, der den kulinarischen Horizont gleich um ein paar Meter weitet.

Dazwischen wird noch ein Brot mit einer herzhaften Crème aufgetragen, das zwar ausgezeichnet schmeckt, aber angesichts der kommenden Eindrücke fast entbehrlich wäre.

Es geht weiter mit Langustine und Tomate. Die außerordentlich kunstvoll durchdeklinierte Komposition schwimmt in einer leicht mit Spargel aromatisierten Vinaigrette, während weitere Zutaten wie Parasolpilz, Kombucha und Spitzwegerich dem Gang eine aromatische Vielfalt verleihen, die sich kaum in Worte fassen lässt. Zu zahlreich erschlagen einen die Eindrücke regelrecht …

Seeteufel kombiniert die Küche mit Curry und Pandan (eine südostasiatische Palmenart!). Weitere kleinteilige Elemente tummeln sich hier zuhauf, doch konventionelle Zutaten sucht man hier fast vergeblich – was das Erstaunen über die faszinierende Aromatik dieses Gangs nur nochmals steigert. Ich gestehe, bei der Beschreibung der Gerichte hier einigermaßen an meine Grenzen zu stoßen, da vieles hier mir absolut unbekannt vorkommt. Was jedoch jetzt schon fest steht: dieses Lokal spielt in einer eigenen Liga. Die Fülle an raffinierten und unbekannten Aromen so harmonisch einzubetten ist höchste Kunst – kein Wunder, dass dieser Nachmittag zu einem wahren Adrenalinrausch geraten sollte. Ein exzellenter Gang!

Rochenflügel paart man hier mit Brokkoli, Wicke, Löwenzahn und Knoblauch. Ganz beiläufig wird dem Gericht noch etwas getrocknete Wurst hinzugefügt, ohne dass es jemand wirklich bemerkt! Es gilt wieder das soeben Gesagte: viele der Komponenten sind in winzigen Segmenten oder verfremdeten Texturen so unauffällig eingefügt, dass ihre Wirkung subtiler nicht sein könnte. Das ist dann wohl ein Markenzeichen der Avantgarde! Der Geschmack ist einfach faszinierend, aber klassische Attribute scheitern praktisch bei der Beschreibung dieses Mahls.

Der Hauptgang wird mit einem Anschauungsobjekt vorbereitet: eine Ente im Wachsrock. Nachdem der Vogel zuvor schon längere Zeit im Heu und dann im Reifeschrank verweilen durfte, wird er schließlich gegart, wobei Aromen von Orange, mit denen das Wachs aromatisiert ist, dem Gericht später zugute kommen werden. Auf den Teller gelangt die Bauernente schließlich als eine Art „T-Bone-Steak von der Ente“, da der Schnitt durch die beiden Brüste erfolgt. Das köstliche und saftige, allerdings nicht sehr große Stück Fleisch wird durchaus prominent begleitet von einer äußerst herzhaften Bratensauce, aus der wir allerdings dezente Noten von Holunder herausschmecken. Das klingt exotisch, funktioniert aber prächtig. Dazu gesellen sich noch Saft vom Knollensellerie und etwas Crunch von der Entenhaut. In Summe ein puristischer und einfach anmutender Teller, doch Jonnie de Boer wäre nicht Jonnie de Boer, wenn er nicht auch hier wieder etwas ganz Außergewöhnliches auf den Teller gezaubert hätte! Das zwischenzeitliche Fazit: es schmeckt durchweg hervorragend! Man wünscht sich schon jetzt, der Nachmittag möge nie zu Ende gehen …

Auch der Käsegang ist hier weit mehr als bloße Routine: Blauschimmelkäse und Passionsfrucht sind die Hauptdarsteller in einem höchst ungewöhnlichen Gang. Ein hocharomatischer Sud auf der Basis von Käse mit Noten von Garam Massala bildet die Basis für drei Türmchen mit Texturen der Passionsfrucht auf einem pilzartigen Boden und nochmals etwas hauchdünnem Käse obenauf, der zudem leicht geschmolzen ist. Das ergibt in Kombination einen wunderbar fruchtigen und zugleich erdigen Gang, dessen Herstellung mir allerdings weitgehend ein Rätsel bleibt. Zu den geschmacklichen Eindrücken gesellt sich allmählich die Erkenntnis, dass der Kreativität in diesem Haus offenbar keinerlei Grenzen gesetzt sind – und doch kommt das alles so lässig und zwanglos herüber!

Als kleine Erfrischung vor dem Dessert fährt der bunte Eiswagen vor, bei dem man die Wahl zwischen drei Eissorten hat: ich entscheide mich für eine Kugel Passionsfrucht und bereue meine Entscheidung keine Sekunde.

Das dreiteilige Hauptdessert besteht aus drei Schälchen rund um Zitrusfrüchte: das erste davon ist eine entzückende Komposition rund um Orange, Vanille und Salzkaramell. Variante zwei stellt Grapefruit, Ingwer und Mandeln in einer faszinierend originellen Palette an Texturen zusammen, während der dritte Satellit mit Eis von Kaffir-Limette im Verbund mit Salatgurke den gewagtesten Einfall darstellt. Doch keine Bange, auch wenn ich mich wiederhole: es hat wieder einmal alles großartig geschmeckt.

Wie in den Niederlanden üblich, müssen Petits fours im Verbund mit einer Bestellung von Kaffee oder heißer Schokolade extra bestellt werden. Zum Preis von nicht einmal € 25 extra gibt es also nicht nur zwei Heißgetränke, sondern einen der opluentesten Ausklänge seit langem. Auf einem kreisrunden, hölzernen Brett sind nicht weniger als zwölf Kleinigkeiten platziert (Macarons, Pralinen, Fruchtgummis und was das Herz sonst noch so begehrt). Doch damit nicht genug: in der Mitte des Bretts befindet sich eine hauchdünne Schokoladenscheibe, die mit extrem dünn aufgetragener weißer Schokolade wie eine Uhr aussieht. Dann erklärt die Kellnerin, dass Zeit im De Librije keine große Rolle zu spielen hat und zertrümmert diese essbare Scheibe ohne jede Vorwarnung mit einem Hämmerchen! Darunter versteckt befinden sich dann abermals weitere Goodies in einer verblüffend leichten Crème. Ein rundum gelungener Abschluss!

Dieser Nachmittag geriet zu einer absolut rauschhaften Erfahrung mit Langzeitwirkung. Ein derart légères Lokal ist uns so gut wie noch nie untergekommen, zumal wirklich jeder Gast absolut gleich behandelt wird – ganz gleich, welche Kleidung er trägt oder wo er herkommt. Da auch die Servicekräfte untereinander bestens harmonieren, entsteht bei uns der Eindruck eines ungeheuer demokratischen Restaurants, in dem wirklich jeder jeden respektiert – absolut vorbildlich. Von Steifheit weit und breit keine Spur, keinerlei Alibifragen und Anbiederei durch den Service und auch keine Besserwisserei oder Bevormundung bei der Weinauswahl – all das hat uns sehr beeindruckt, zumal auch der Gang durch die Küche und sonstige Räumlichkeiten wie das Kochstudio hier ein festes Ritual darstellen. Chefkoch Jonnie Boer lässt es sich auch nicht nehmen, die Gäste zu begrüßen, das erste Amuse persönlich an den Tisch zu bringen und zu erläutern. Außerdem ist die vermeintliche Freundschaft zwischen dem Lokal und dem Gast durch den oben erwähnten Siegelring durchaus mehr als nur eine symbolische Geste: angesichts all der oben geschildeten Vorzüge fällt es einem leicht zu verstehen, warum so viele Gäste regelmäßig den Weg hierher einschlagen und tatsächlich eine Art Freundschaft entwickeln. Der hier geforderte Preis für das siebengängige Überraschungsmenü liegt mit € 210 in einem Bereich, den in Deutschland schon so manches Zwei-Sterne-Restaurant betritt – nur mit dem Unterschied, dass man im De Librije sehr viele Extras und durchweg phänomenale Qualität geboten bekommt. Gemessen an den hier gesammelten Eindrücken, die den kulinarischen Horizont erheblich erweitern, ist dieser Preis fast schon als günstig zu bezeichnen und mit Sicherheit jeden Cent davon wert.

Die Küche als wichtigstes Kriterium ist logischerweise auch nicht zu verachten, denn was hier in jahrzehntelang geförderter Präzision zu einem Höchstmaß an Perfektion gewachsen ist, hat absolutes Weltklasseformat. Ein schier unerschöpflicher Quell an atemberaubenden Ideen, die nicht nur optisch, sondern auch geschmacklich praktisch perfekt umgesetzt werden, sowie ein selten abwechslungsreiches Menü voller Überraschungen legen beredtes Zeugnis davon ab, dass hier ein absoluter Großmeister am Werk ist. Dass ich diesen Besuch in meiner Liste „nur“ auf Platz 3 der besten Restaurantbesuche aller Zeiten einordne, hat damit zu tun, dass der ganz große Kracher, der ein Leben lang im Gedächtnis haften bleibt, fehlte – jedenfalls diesmal. Ansonsten kann man dieser Küche nur ein riesiges Kompliment zollen, denn wem das Essen hier keinen Spaß macht, der muss ein absoluter Produktfetischist sein, der seine Freude ausschließlich aus puristischen, reinen Tellern mit Fokussierung auf das Wesentliche bezieht und Showelementen gar nichts abgewinnen kann. Allen anderen sei der Besuch hier zumindest einmal im Leben empfohlen (oder sollte ich gar „befohlen“ sagen?), denn ein solches Lokal lässt sich in Deutschland kaum vorstellen – weder von den Räumlichkeiten noch von der in diesem Restaurant gelebten Attitüde her, die ihresgleichen sucht. Fazit: umwerfend gut und definitiv eine Reise wert – so ein Lokal besucht man nicht alle Tage! Ich kann den nächsten Besuch hier jedenfalls gar nicht erwarten!