UPDATE (April 2019)
Individuelle Restaurantkonzepte erleben derzeit einen regelrechten Boom – keine schlechten Nachrichten für das Délice in Stuttgart, das inzwischen seit mehr als drei Jahrzehnten ein absolut bemerkenswertes und ungewöhnliches Schmuckkästchen darstellt. Teil der Inszenierung ist allerdings nicht nur das fensterlose Gewölbelokal mit der offenen Küche in der Mitte des Raumes selbst, sondern die unvergleichliche Präsenz des Patrons und Sommeliers Evangelos Pattas, der ein selten leidenschaftlicher Gastgeber und Gentleman alter Schule ist. Trotz eines umfangreichen Weinkellers scheint es nicht eine einzige Bouteille in der Sammlung zu geben, über die Herr Pattas nicht etwas erzählen könnte. Treffsicher, wortgewandt und charmant werden die empfohlenen Weine an den Gast gebracht – was auch für die Gerichte gilt, die ausführlich und kompetent erklärt werden. In Zeiten, in denen wenig kompetente Kellner auswendig gelernte Weisheiten vortragen und durch einfachste Nachfragen verunsichert werden können, ist dies eine umso bemerkenswertere Erscheinung. Chefkoch Andreas Hettinger als genuine One-Man-Show erklärt zu Beginn ebenso eloquent seine Menüfolge an jedem Tisch und kann genau einschätzen, was mit nur einem Koch machbar ist.
Die einzige fünfgängige Menüfolge (€ 109) unterliegt einem steten Wechsel und wird erst im Laufe des Abends vollständig enthüllt. Steigen wir also mit zwei mundwässernden Appetizern ein, die zwar schlicht aussehen, aber vorzüglich einschlagen: Ikarimi-Lachs mit Crème fraiche und Hanf sowie ein exzellentes Kalbstatar mit etwas Sojamayonnaise und Basilikum. Das darauf folgende Süppchen von Karotte, Ingwer, Curry und Olivenöl schließt qualitativ nahtlos daran an und verdeutlicht eindrücklich, dass großer Geschmack keine knalligen Inszenierungen braucht – erst recht nicht, wenn man so hervorragende Grundprodukte hat. Will sagen: kein komplizierter, aber ein ungemein schlüssiger und kraftvoller Einstieg, der Lust auf mehr macht. Die Cocktails aus der Bar nebenan (zum Einstieg diesmal Traube, Holunder und Ingwer) sind höchst ansprechend, und auch die Brotauswahl gerät angesichts einer stattlichen Auswahl an verschiedenen Sorten überdurchschnittlich. Es kann losgehen …
Ein erstaunlich komplexes Gericht, wenn man bedenkt, dass nur ein Koch in der Küche hantiert, ist Hummer, Mango, Avocado, Chili, Kerbel und Blutampfer. Was im ersten Moment überladen klingen mag, ist in Wirklichkeit ein stimmiges Arrangement rund um eine mit Hummerfleisch gefüllte Roulade in der Mitte des Tellers. Sorgsame Dosierung der übrigen Komponenten sowie eine große Vielfalt an Texturen machen aus diesem Gang nicht nur einen optischen Genuss, sondern einen kontrastreichen und alles andere als beliebigen Teller. Großartig!
Auch Seeteufel mit Tortellini, Artischocken, Frischkäsecrème und Tomaten vermag zu überzeugen. Der gebratene Hauptdarsteller punktet mit leicht bissfester Konsistenz und schwelgt im Zusammenspiel der feinst abgestimmten Begleiter, die alle zu ihrem Recht kommen und deutlich herauszuschmecken sind. Gekünstelte Verfremdung ist trotz häufig verblüffender Optik nicht die Sache des Chefs – und so entstehen immer wieder Gerichte wie dieses mit einer klaren geschmacklichen Aussage, deutlichen Strukturen und einer überzeugenden, natürlichen Balance.
In der Folge werden die Gerichte eher einfacher, aber dies keineswegs zu deren Nachteil. Brust und Keule von der Wachtel wird hier nur mit Erbsen, Zuckerschoten und einer Rosmarinsauce ausstaffiert. Diesem Gang tut das jedoch keinen Abbruch, denn die vorzügliche Aromatik des perfekt gebratenen Fleischs spricht für sich und braucht nicht viel mehr als eine Handvoll grüner Begleiter, die einen dezenten und stimmigen Rahmen für den Hauptdarsteller bereiten. Die fein austarierten Rosmarin-Aromen schließlich setzen dem stimmigen Gang die Krone auf.
Ein für die Verhältnisse dieses Lokals fast schon auffallend übersichtlich gestalteter Teller (diese Aussage bezieht sich aber keineswegs auf die Menge auf dem Teller!) ist das Hauptgericht: Bruchsaler Spargel mit Kalbsfilet, Kartoffelgratin, Périgord-Trüffel und Trüffel-Hollandaise ist ein luxuriöser und unprätentiöser Gang, der schlichtweg köstlich gerät. Drei Stangen besten Spargels von idealer Konsistenz, ein üppiges Stück besten Fleischs und eine generöse Menge an schwarzem Trüffel – was will man mehr? Bestes Handwerk reicht schon aus, um mit diesem recht einfachen Hauptgericht einen mehr als bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Der üblichen Langeweile mit einer gewöhnlichen Hollandaise weicht Andreas Hettinger zudem mit der getrüffelten Variante aus und schafft so ein Gericht mit einem gewissen Twist, das dennoch jederzeit zugänglich und klar verständlich bleibt. So einfach, so gut – ein echter Volltreffer!
Weitere Cocktails werten zudem das Essvergnügen an diesem Abend weiter auf (zum einen rote Bete und Erdbeere, zum anderen Lavendel und Feige), so dass beim Pré-Dessert schon ein Zustand an Beglückung erreicht ist, der für dieses kleine, aber feine Refugium nicht untypisch ist, zumal sich die Kooperation mit der Bar nebenan schon längst als gewinnbringend erwiesen hat.
Ein wahrhaft köstliches Pré-Dessert leitet zum süßen Teil über: Apfel, Orange, Fenchel, Lorbeer und Espuma von Tahiti-Vanille ist ebenfalls unkompliziert, aber enorm wirkungsvoll. Das eigentliche Dessert ist auch keine Hommage an die Avantgarde, doch gefällt es mit einer Vielfalt an Aromen, die es weit aus der Masse gewöhnlicher Desserts herausragen lassen: Baumkuchen mit Rhabarber-Eis und Erdbeere klingt zunächst banal, wird aber in einer hinreissenden Fülle an Texturen sowie durch den dezenten Einsatz von Olivenöl, Kerbel und Klee spürbar aufgewertet. Kein Highlight, aber ein stimmiger und leichter Ausklang mit Nachhall am Gaumen. Zwei gefüllte Kugeln (Erdbeere und Valrhona-Schokoalde) sowie ein hausgemachtes Mini-Brownie sorgen nochmals für einen letzten kleinen Knalleffekt und runden einen ausgesprochen stimmigen Abend ab.
Wer hier reserviert (von Montag bis Freitag abends geöffnet), der kann sich auf einen unterhaltsamen Abend mit Gerichten freuen, die immer wieder kleine Überraschungen aufweisen, aber dennoch deutlich erkennbar bleiben und mit intensivem Geschmack punkten – und das bei recht moderaten Preisen. Dass dabei nur ein Koch in der Küche steht, erstaunt angesichts der bisweilen recht komplex verzierten Gerichte immer wieder aus Neue. Es sollte klar sein, dass unter solchen Voraussetzungen kein überirdisches Niveau möglich ist, doch das erwartet hier offenkundig auch niemand (zumal ich hier noch nicht einen einzigen enttäuschten Gast erlebt habe). Dennoch bewegt sich die Küchenleistung für meine Begriffe in Schlagdistanz zum zweiten Stern. Dabei sei festgehalten, dass der Guide Michelin nur die Küchenleistung bewertet, doch ohne seinen leidenschaftlichen und einmaligen Patron Evangelos Pattas wäre dieses feine Lokal um vieles ärmer. Trotz allem hat sich diese etwas versteckte Adresse im Herzen der Schwabenmetropole immer noch so etwas wie einen Geheimtipp-Status bewahrt. Höchst empfehlenswert!
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November 2017
Die baden-württembergische Landeshauptstadt geizt nicht mit Sterne-Restaurants, wenngleich der ganz große Knaller im Moment noch nicht vorhanden zu sein scheint. Allemal einen Besuch wert ist aber das putzige, kleine Gewölbelokal, das ziemlich gut versteckt am Österreichischen Platz liegt und nach wie vor so etwas wie Geheimtipp-Status genießt. Der erste lautet übrigens sogleich: niemals mit dem Auto anreisen, da es praktisch keinerlei Parkplätze in der Nähe gibt, die nicht ständig belegt wären.
Es kommt nicht oft vor, dass der Inhaber eines Lokals gleichzeitig der Sommelier des Hauses ist – und Evangelos Pattas ist wirklich einer der allerbesten seiner Zunft. Nicht nur, dass man seiner Kompetenz und Leidenschaft für Wein jederzeit blind vertrauen kann – nein, einen charmanteren und einnehmenderen Gentleman kann man sich kaum vorstellen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das kleine, von Montag- bis Freitagabend geöffnete Etablissement, das nur gut 20 Plätze zu bieten hat, sich ungebrochener Nachfrage erfreut (was für ein Lokal, das derzeit mit einem Michelin-Stern und 16 Punkten im Gault&Millau bewertet ist, beileibe keine Selbstverständlichkeit darstellt). Zudem ist Chefkoch Andreas Hettinger, der seinerzeit von Bernhard Diers, dem legendären ehemaligen Chef der Zirbelstube, ausgebildet wurde, eine genuine One-Man-Show, da die kleine einsehbare Küche allen Ernstes nur genug Platz für einen Koch bietet. Soviel sei bereits vorweg genommen: Hettinger macht enorm viel aus seinen bescheidenen Möglichkeiten und hat maßgeblichen Anteil am Zustrom an Gästen.
Der Räucheraal mit einer würzigen Crème sowie das exzellente Rindertatar überraschen schon zum Einstieg – nicht kompliziert, aber enorm wirkungsvoll. Dazu serviert man mir einen fruchtig-herben Cocktail, der neuerdings – wie alle alkoholfreien Einstimmungen – aus der renommierten Bar vom Gebäude nebenan kommt. Evangelos Pattas hat mit dieser Kooperation einen großen Wurf gelandet, der das Renommee seines Lokals weiter spürbar aufwertet. Ganz bei sich zuhause ist er hingegen bei den Wein- und Sektempfehlungen, deren Eigenschaften er auf unnachahmliche Weise an meine Begleitung zu vermitteln versteht. Vor dem Menü gibt es schließlich noch ein herrlich süffiges Süppchen aus Curry und Koriander.
Ein Menü aus bis zu fünf Gängen zum Preis von absolut angemessenen € 109 wird dem Gast sodann empfohlen. Wir starten also mit Roter Garnele, Kürbis, Avocado, schwarzem Knoblauch und Eiskrautsalat. Chefkoch Hettinger versteht es meisterhaft, den Salat so zu drapieren, dass alle Begleiter in perfekter Harmonie und Balance das Grundprodukt bereichern. Rein optisch ist die Garnele zwar der Hauptdarsteller, da sie auf einem Türmchen aus klein gehacktem Kürbis thront, doch könnte man das bei dieser Leichtigkeit und Ungezwungenheit fast vergessen. Die ganzen Techniken, die hier beim Veredeln zum Tragen kommen, würden jede Gedächtnisleistung hier sprengen, aber sie fügen sich nahtlos in das absolut stimmige Ganze ein. Sagt man Sterneköchen oft nach, dass Salat nicht zu ihren Lieblingen zählen würde, so sieht man sich hier eines Besseren belehrt. Wunderbar!
Noch besser gefällt uns Heilbutt, Wasserkastanien, Quinoa, Blumenkohl und Curry. Das Gericht von wunderbar austarierter Schärfe überzeugt mit durchdachten Texturen von Blumenkohl und einem stimmigen Duett von Kastanien und Quinoa, die keineswegs nur als alibihafte und pseudo-originelle Begleiter eingesetzt werden. Diese Kreation entfaltet so hinreißende Geschmackskonstellationen, dass man fast vergessen könnte, die herausragende Qualität und Zubereitung des Fischs zu erwähnen.
Geschmorte Kalbsbäckchen mit Liebstöckel, Alb-Linsen und Süßkartoffel kommt etwas übersichtlicher daher, gerät aber ebenfalls zu einer eindrucksvollen Visitenkarte. Die Linsen sorgen für angenehmen Biss, und das oft verpönte „Maggi-Kraut“ wird hier dezent, aber präsent und zweckdienlich eingesetzt. Eine echte Schwäche konnten wir auch bei diesem Gericht nicht ausmachen. Chapeau!
Das Hauptgericht ist nochmals ein Volltreffer: Rehrücken mit Petersilienwurzel, Herbsttrompeten und Pflaumenkruste greift zwar auf bewährte Konstellationen zurück, trumpft aber mit großartigem Handwerk und eleganten Aromen auf. Wenn althergebrachte Konstellationen so souverän und zwingend in Szene gesetzt werden, dann stört mich das nicht im Geringsten. Eine große Überraschung ist dieses Gericht schwerlich, aber das Geschmackserlebnis an sich kratzt nahe an der Schwelle zur Perfektion.
Der Einstieg ins Dessert gelingt ganz ausgezeichnet mit kleinen Mango- und Apfelwürfeln unter einem Tonkabohnenespuma – originell, stimmig und überaus geschmacksintensiv.
Valrhona-Trüffelkuchen, Kerbel, Rote Bete, Muskovado und Trauben ist ein ungewöhnliches Dessert, dessen Geschmack nur ein wenig unter dem Kerbel leidet. Bei dem Versuch, zu viel Süße zu umgehen, wurde hier meines Erachtens auf einen zu derben Kontrapunkt gesetzt: der (sicherlich gut gemeinte) Kerbel ist für meine Begriffe zu penetrant und wirkt in diesem Umfeld mit seinen fast schon bitteren Noten fehl am Platze. Vielleicht wäre hier nach dem Motto „weniger ist mehr“ der völlige Verzicht auf dieses Gewürz eine Überlegung wert – das Dessert würde darunter kein bisschen leiden. Offen gestanden sagt es jedoch viel über diesen Besuch aus, wenn die Auswahl eines einzigen Gewürzes schon der größte Kritikpunkt des Abends ist, zumal auch die Petits Fours das Niveau hoch hielten …
Mon Dieu! Dieser Reigen übertraf meine Erwartungshaltung um ein Vielfaches. Waren frühere Besuche eher eine durchschnittliche Erfahrung, so lässt sich das von dieser Visite keinesfalls behaupten. Es hat den Anschein, als habe sich der Chefkoch inzwischen vollendet an die ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen angepasst und sein Profil weiter geschärft. Die Gerichte Hettingers sind oftmals auf subtile Weise verfeinert: da wird eine Zutat schon mal in Olivenöl confiert und ein einziges Produkt in nicht weniger als fünf oder sechs Texturen präsentiert. Trotzdem ist immer eine klare geschmackliche Aussage auszumachen, die zudem auf engem Raum auskommt und dennoch sehr vielschichtig wirkt. Angesichts dieses im positivensten Sinne überraschenden Abends plädiere ich dringend für eine Anhebung auf 17 Punkte im Gault&Millau – mittelfristig würde ich nicht einmal den zweiten Michelin-Stern ausschließen wollen, auf den das Lokal durchaus hinarbeitet. Die Kooperation mit der Bar nebenan ist definitiv ebenfalls gewinnbringend für beide Parteien und für mich ein klarer Beleg dafür, dass an der ohnehin schon formidablen Qualität weiter gefeilt wird. Die delikate Küche mit den bestens abgestimmten Weinen macht dem Namen des Lokals nun wirklich alle Ehre. Dass die Philosophie des Hauses bereits vor dem Eingang erläutert wird, ist eine weitere ungewöhnliche, aber absolut gewinnbringende Maßnahme. Es empfiehlt sich dringend, diesen Geheimtipp im Auge zu behalten, denn eine solche Steigerung gegenüber meinen ersten beiden Besuchen hätte ich nicht für möglich gehalten. Was aber Hingabe und Leidenschaft von gerade einmal zwei Könnern ihres Fachs bewirken, kann man hier auf wunderschöne Weise erleben. Alles in allem ließe sich ein geeigneteres Lokal für den ersten Besuch in einem Sterne-Restaurant kaum mehr vorstellen: tolle Küche, faire Preise, stimmiges Ambiente und ein leidenschaftlicher Gastgeber. Was will man mehr?