Sankt Andreas, Aue

Mai 2019

In vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks ist leider noch deutlich zu spüren, dass die Altlasten vergangener Tage auch vor der Hochküche nicht Halt machen: als beispielsweise mit dem Onyx in Budapest das erste Zwei-Sterne-Restaurant Ungarns etabliert werden konnte, so glich dies schon einer echten Sensation. Auch die neuen Bundesländer hinken leider weit hinter den alten Bundesländern zurück, wenn es um die Dichte der Sterneküche in den jeweiligen Bundesländern geht. Hier haben Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern aufgrund ihres touristischen Potentials zwar einen gewissen Vorsprung, doch manche Regionen sind auch hier nahezu verwaist, wenn von Hochküche die Rede ist. Eins der besten Beispiele dafür ist das Erzgebirge, wo traditionell bodenständige und deftige Kost seit jeher das Erscheinungsbild prägen. Dennoch gibt es Ausnahmen: ich schicke gleich vorweg, dass mir völlig schleierhaft ist, weshalb das beste Restaurant weit und breit in dieser Region, das St. Andreas im Hotel Blauer Engel in Aue, noch immer nicht mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet ist. 7 GUSTO-Pfannen und 17 Punkte im Gault&Millau sind schließlich nicht die schlechtesten Auszeichnungen, so dass mir die Zurückhaltung des roten Guides bei diesem Lokal partout nicht einleuchten will. Wer hier nämlich einkehrt und nur 08/15-Kost erwartet, der wird schnell überrascht sein, wenn er im Vorzeigerestaurant des Betriebs landet. Selbstverständlich weiß die Geschäftsleitung auch hier um die vergleichsweise bescheidenen kulinarischen Ansprüche der überwiegenden Klientel und bietet im Zweitrestaurant entsprechend moderat bepreiste Küche mit regionalen Bezügen an. Ergebnis: während an diesem Abend das Standardlokal aus allen Nähten platzt, bleiben wir im Gourmetrestaurant den ganzen Abend alleine!

Das hat der junge Chefkoch Benjamin Unger nun wahrlich nicht verdient: zusammen mit seinem Bruder Clemens, der als kompetenter und sehr präsenter Restaurantleiter auftritt, wurde hier eine engagiert geführte Adresse etabliert, die immer noch so etwas wie Geheimtippstatus genießt. Unübersehbar am Marktplatz der 20.000-Einwohner-Stadt im Herzen des Erzgebirges protzt das Hotel samt Restaurants und lockt Abend für Abend zahlreiche Gäste an, wenngleich offenbar die wenigsten davon sich für das Gourmetrestaurant interessieren. Der Familienbetrieb hat – wie beispielsweise die eingerahmten Zeitungsausschnitte an den Wänden oder auch die Dokumentation in der Getränkekarte erkennen lassen – bereits eine lange Tradition und war auch zu DDR-Zeiten durchgehend geführt worden. Die Eigentümerfamilie Unger hat sich fraglos schon so etwas ein stattliches kleines Denkmal mit dem Hotel gesetzt, ruht sich aber keineswegs auf den Lorbeeren vergangener Tage aus. Seit der junge Filius nun so ambitioniert aufkocht, ist das Etablissement zumindest bei eingeweihten Gourmets überregional bekannt geworden.

Das jüngst renovierte und nun weniger rustikal als zuvor wirkende Lokal punktet nach wie vor mit viel Holz (Tische, Parkettboden), falschem Feuer in den Wänden, sehr bequemen Stühlen und einer reduzierten, schlanken Inneneinrichtung, die zur Stilistik des Erzgebirges wirklich gut passt. Zwei besondere Clous: der einsehbare Schrank mit Spirituosen (Gewöhnliches wie Exotisches gleichermaßen) sowie die Schiebetür mit Sensor, die den Gourmetbereich vom doch recht lärmigen Hauptteil des normalen Restaurants wohltuend abdämpft. Das Ambiente ist fraglos ungewöhnlich, doch in bestem Sinne inspirierend. Dies erhoffen wir uns natürlich auch von dem einzigen Menü, das angeboten wird: 6 Gänge zu € 109 klingt doch erstmal ganz vernünftig. Sollte die Küche nicht gerade auf ganzer Linie enttäuschen (und das tat sie keineswegs), dann kann das ein gelungener Abend werden.

Ein generöser Reigen hochklassiger Petitessen gelingt dabei zu einem Glas PriSecco schon zum Einstieg erstaunlich gut: ein süffiges Sauerkrautsüppchen, eine mit Pistazie ummantelte Gänseleberpraline auf Apfelkompott, eingelegte Haferwurzel mit Sanddorngel sowie Grissini mit eingelegtem Huchen, Crème fraîche und Ceta-Kaviar. Trotz einer gewissen Bodenständigkeit in der Inszenierung wirkt dies geschmacklich keineswegs rustikal, sondern erstaunlich delikat. Dies trifft erst recht auf die weiteren zwei Grüße aus der Küche zu: ein Ochsenschwanz-Raviolo mit Saubohnen, Topinambur (naturbelassen und gekocht) und Sauce Choron ist ein vollmundiges und intensives Amuse von überraschend hoher Qualität. Auch das zweite Amuse, bestehend aus Seeteufel auf einer Safran-Polenta und Fenchel vermag uns dabei ähnlich zu begeistern. Selbst die Brotauswahl (Tandoori, Tomate, Petersilie, Kartoffel und Malz) gerät für unsere Begriffe erstaunlich abwechslungsreich und rundet den ersten, überaus gelungenen Eindruck würdig ab. Diese Parade hatte schon mal definitiv Sterne-Niveau!

Gebeizter Saibling, Sellerie, Walnuss und Apfel stellt sich als federleichter und frischer Einstieg heraus, der zudem mit aparter Optik punktet. Der mit klein gestoßener Walnuss getoppte Fisch badet in einem leichten Apfel-Sellerie-Sud und wird zudem mit etwas Dill veredelt. Optische Spielereien wie der hauchzarte aufgesteckte Apfelring werten das Gericht noch ein wenig auf. Sehr schön!

Steinköhler, Kohlrabi, Zitrone und Kaviar überzeugt uns noch mehr durch eine Vielfalt subtil aufeinander abgestimmter Aromen. Die abwechslungreichen Konsistenzen und Texturen des Kohlrabi drohen fast dem Hauptdarsteller ein wenig die Schau zu stehlen, doch trotz allem bewahrt dieser Gang seinen frischen Charakter mühelos und punktet mit fein dosierter Säure.

Fast schon einem Tellergemälde gleicht Wachtel, Spargel, Schinken und Kartoffel. Nahezu alle Produkte werden hier variiert – der Teller steht kurz davor, aus der Balance geworfen zu werden, doch das stimmige aromatische Gesamtbild bleibt letztlich doch erhalten. Dennoch ist bei diesem Gang nicht ganz klar, wer angesichts Wachtelbrust und -keule, gegrilltem Spargel, Spargelcrème, Kartoffel in diversen Varianten und dem Schinken auf der Brust eigentlich im Mittelpunkt stehen sollte – kein schlechter Gang, aber mit einer Nachjustierung an den Stellschrauben ließe sich die geschmackliche Aussage dieses Gerichts sicherlich noch weiter schärfen.

Kalbshaxe, Bries, Morchel, Erbse und Rübe ist ein hochintensives Gericht, dessen Ästhetik in mir Erinnerungen an die Kalbsbries-Gerichte von Jan Hartwig (aus dem Münchner Atelier) weckt. Das kräftig gebratene Bries wird praktisch mit der Haxe vermengt und begleitet von einem intensiven Morchelsud, den die Erbsen („pur“ und als Püree) und die weniger prominent auftretende Rübe gekonnt abfedern. Im Gegensatz zu den Gängen zuvor ist diese Kreation nicht ausladend auf dem Teller verteilt, sondern kompakt positioniert und ungeheuer dicht – aromatisch wie optisch. Der beste Gang des Abends!

Eine eingeschobene Erfrischung nehmen wir gerne zur Kenntnis: ein Feigen-Essig-Sorbet mit dehydrierter Brombeere obenauf und Grand-Cru-Champagner entspannt die Geschmackspapillen vor dem Hauptgericht nochmals und gelingt ausgezeichnet.

Lamm ist hier ein schmackhaftes Hauptgericht: Zunge und Haxe des Hauptprodukts bekommen Sauce Choron, ein Beet aus Bärlauch-Graupen, eine falsche Tomate und grünen Spargel zur Seite gestellt. Das stimmig und saisonal inszenierte Gericht punktet mit intensiven Röstaromen sowie einer durchaus ungewöhnlichen Begleitung, die zu keiner Zeit vorhersehbar oder langweilig wirkt. Wunderbar!

Rhabarber, Joghurt, weiße Schokolade klingt etwas weniger aufregend, doch auf dem Teller stellt sich heraus, dass die texturelle Vielfalt schier atemberaubend gerät. Dieses Dessert will nicht durch viele Komponenten, sondern durch überbordende Kreativität bei den Konsistenzen punkten. Es gelingt auch ausgezeichnet, zumal als Kontrapunkt à part ein Joghurt-Eis in puristischer Reinheit in einem Rhabarbersud schwimmen darf – weit überdurchschnittlich, allerdings auch von einem hohen Sättigungsgrad. Auch die generöse Auswahl an Petits fours, die diese überraschend positiv verlaufene Soirée abrundet, schlägt voll ein.

Dieser Abend geriet zu einer wirklich angenehmen Überraschung, denn jeder Gang hatte große Ausdruckskraft, wirkte stets durchdacht und ließ zudem eine klare Handschrift erkennen. Die durchaus generösen Extras gerieten besonders beeindruckend, denn gerade das, was auf engsten Raum gepresst wurde, erwies sich als aromatisch besonders dicht und klar herausgearbeitet. Hie und da wirkte manches noch zu gewollt oder betont kreativ, doch ein „Kochen für Instagram“ anstatt für die Gäste ist dies wahrlich nicht. Im Gegenteil: das Potential dieses jungen Chefs ist mit Sicherheit noch nicht ausgereizt, sondern erst jetzt bei der Entfaltung angelangt. Das kann für die Zukunft Großes verheißen …

Die Leistung des Service und auch die Qualität der Cocktails konnte man mit Fug und Recht als absolut überdurchschnittlich bezeichnen – wir fühlten uns gut aufgehoben, kompetent informiert und stets mit angemessenen Getränken versorgt. Eine solche Professionalität hätten wir in dieser Region, in der die meisten Menschen recht direkt sein können, eher nicht erwartet. Aue liegt leider nicht gerade günstig, und doch kann ich mir absolut vorstellen, dass dies nicht der letzte Besuch hier gewesen ist. Im Allgemeinen bevorzuge ich zwar die Urteile des Michelin, aber hier muss ich dem G&M wirklich Dank aussprechen, dass die vergebene Note erst mein Interesse am St. Andreas weckte und diese trotzdem keineswegs übertrieben war. Geheimtipps haben wenigstens den Vorteil, dass man dort leichter einen Tisch bekommt – wer also beim nächsten Urlaub im Erzgebirge diese Adresse auslässt, der ist selbst schuld!