„Heute gibt es viele, die das Gute für schlecht, das Minderwertige hingegen für gut halten. Diese Leute helfen nicht, sie hindern vielmehr.“ (Gottfried von Straßburg)
November 2022
Andreas Döllerer bewegt sich – wie ich nach meinem überragenden Premierenbeusch 2020 feststellen durfte – mit seinem Genießerrestaurant (siehe meine beiden Rezensionen dazu) schon längst sicher in Österreichs kochender Elite, doch im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen unterhält er unter ein- und demselben Dach noch ein Zweitlokal, von dem sich andere Gastronomen glücklich schätzen würden, wenn sie in ihrem Stammhaus eine derartige Qualität offerieren könnten. Kennenlernen durften wir das Wirtshaus schon im Jahr zuvor, wo es gewissermaßen als Kompensation für einen ziemlich missratenen Besuch im Gourmetrestaurant tags zuvor herhalten musste. Schon damals überzeugte uns der Besuch im Zweitetablissement über alle Maßen, weshalb die erneute Einkehr hier nun mit einer Rezension honoriert werden soll.
Im Gegensatz zum Gourmetrestaurant gibt es hier noch eine üppige Auswahl à la carte, die Klassikern der österreichischen Küche gleich viel Raum zugesteht wie moderneren Kreationen für aufgeschlossenere Gäste – hier kann wirklich jeder nach seiner Façon glücklich werden. Wir stellen uns ein dreigängiges Menü zusammen, das mit ca. € 60 zu Buche schlägt und ganz klassisch aus Vorspeise, Hauptgericht und Dessert besteht. Wir fragen uns, wie viele Gäste hier wohl zum ersten Mal einkehren mögen und nicht ahnen, welch exzeptionell hohes Niveau für ein Wirtshaus hier offeriert wird – so wird die Stippvisite hier fast zu einer Art normal bepreisten Bildungsreise für all diejenigen, die angesichts der moderaten Kosten möglicherweise unbedarft eine gewöhnliche Darbietung erwarten. Unabhängig von ihrer Wahl der Speisen steht praktisch schon zu Beginn fest, dass sie sich am Ende wundern werden!
Die Brotauswahl selbst und der leider schon leicht abgestandenen Prisecco Nr. 8 von Jörg Geiger (Stachelbeere, unreifer Apfel, Douglasienspitzen) lassen den Adrenalinspiegel noch nicht in die Höhe schnellen, aber wenigstens die Beigaben zum Brot (Hauswurst, Kürbiskernschaum und aufgeschlagene Butter) schwächen diesen Eindruck zum Glück etwas ab.
Nach diesem keineswegs berauschenden Auftakt macht die Küche aber ernst: selbst erfahrenere Gäste wie wir staunen in nicht geringem Maße über die Consommé zum Auftakt. Als Einlage veredeln confiertes Eigelb und ein Rehfleischstrudel diesen Klassiker, doch auch die Qualität der mit Curry, Koriander und Sherry abgeschmeckten Brühe ist überragend: von ungeahnter geschmacklicher Tiefe und durchaus erdig interpretiert, verströmt sie einen Wohlgeschmack, der den Aufwand dahinter mühelos erahnen lässt. Die schlichte Optik täuscht allzu leicht über die Extraklasse dieses Tellers hinweg, doch ist dieses Entrée mindestens als ein kleines Meisterwerk zu bezeichnen. Das bringt mich gleich zur nächsten, berechtigten Frage: welches Gasthaus nimmt heutzutage noch die Mühen auf sich, einen derart aufwendigen und zeitintensiven Beitrag auf die Karte zu setzen?!
Zum Hauptgang lasse ich dasselbe Gericht wie im Jahr zuvor auftragen, denn am verdienten Klassiker-Status des Milchkalbsbries wird sich schon nichts verändert haben! Von der Optik (und selbst vom Geschmack!) her einem Wiener Schnitzel nicht unähnlich, punktet die gebackene Variante der cremig-weißen (und damit klassisch französisch interpretierten) Innerei mit einer auf der Zunge zergehenden Konsistenz. Sicherlich machen Erdäpfelsalat und die vorzügliche Sauce tartare daraus einen rustikalen Beitrag, doch zum einen wertet das den Charme dieses Tellers nur noch weiter auf und zum anderen würde man an einem Ort wie diesem auch nichts anderes erwarten. Das ist ein geschmackliches Erlebnis wie es einem in Wirtshäusern nur alle Jubeljahre mal zuteil wird. Abgesehen davon: ahnungslosen Gästen könnte man diesen Beitrag sicherlich als ein von der Form her dekonstruiertes Wiener Schnitzel anbieten, ohne dass sie merken würden, hier in Wirklichkeit eine Innerei zu verzehren! Hätte ich die Wahl zwischen Schnitzel und Bries, dann hätte ich mich für die letztere Option entschieden – Schnitzel kriegt man ja überall …
Meiner Linie, den Klassikern zu folgen, bleibe ich treu und wähle zum Dessert erneut denselben Beitrag wie vom Vorjahr. Der karamelliserte Kaiserschmarrn könnte nicht typischer und besser geraten: fluffig, mit wohldosierte Süße und nahezu fettfrei. Das sensationelle Vanilleeis betont den Eigengeschmack der Vanille anstatt sie mit einer Überdosis Zucker zu übertünchen, und das fruchtbetonte Zwetschgenkompott fügt sich in puncto Qualität nahtlos ein. Beide sind geschmacklich nicht von dieser Welt und setzen das i-Tüpfelchen auf ein umwerfend gutes Gericht.
Von der Tellerartistik her macht ein Vergleich mit dem Gourmetrestaurant freilich wenig Sinn, da der dort praktizierte Aufwand und die Präzision in einer anderen Liga angesiedelt sind. Maßgeblicher ist da schon der Vergleich mit anderen Wirtshäusern, die größtenteils drei oder vier Klassen unter dieser Darbietung angesiedelt sind. Die größte Überraschung ist die geradezu beiläufig anmutende Selbstverständlichkeit, mit welcher dem Zweitrestaurant ein solches Standing verliehen wird. Angesichts völlig üblicher Kosten (was auch für die Getränke gilt) und einem breiten Angebot an unterschiedlichsten Gerichten kann ich dieses Lokal guten Gewissens zu den drei besten Wirtshäusern zählen, die ich je besucht habe. Der Service versprüht jederzeit den so typisch österreichischen Charme, auch wenn er diesmal nicht ganz das Maß an Herzlichkeit vom vorigen Besuch erreichte.
Nochmals zur Klarstellung: ungeachtet der Tatsache, dass durch die beiden Begriffe „Wirtshaus“ und „Zweitrestaurant“ oftmals etwas Minderwertiges suggeriert wird (und vielleicht genau deshalb manche hier einkehren), beweist Andreas Döllerer, dass weder die eine noch die andere Konnotation hier eine berechtigte Anwendung findet. Wer Berührungsängste vor der Hochküche hat, findet hier auf jeden Fall eine ansprechende Adresse, mit der er behutsam und fast unmerklich an ein höheres Niveau herangeführt wird.
Fazit: wer im Salzburger Land unterwegs ist, sollte einen Besuch hier unbedingt erwägen. Er erweitert den kulinarischen Horizont (welches Wirtshaus kann das schon von sich behaupten?!) und belastet den Geldbeutel nicht in stärkerem Maße als die Einkehr in ein routinemäßiges Etablissement vergleichbarer Art. Worauf warten Sie noch?
Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten
Döllerers Wirtshaus
Markt 56
5440 Golling an der Salzach (Österreich)
Tel.: 0043/6244/42200
www.doellerer.at
Gault&Millau Österreich 2022: 14 Punkte
Falstaff 2022: 91 Punkte
3-gängiges Menü: ca. € 60