Domaine de Châteauvieux**, Satigny

„Wer in der Jugend einen Weinberg anlegt, hat im Alter Trauben.“ (volkstümliches Sprichwort)

Mai 2023

Im ständigen (und leidigen) Wettbewerb um Aufmerksamkeit lassen sich manche Lokale der Hochküche einiges an PR-Aktivitäten einfallen, während andere wiederum mehr durch Leistung als durch Äußerlichkeiten zu glänzen vermögen. Da die Domaine de Châteauvieux ganz klar der zweiten Kategorie zuzuordnen ist, gestehe ich, dass mir diese Schweizer Adresse bislang nahezu verborgen geblieben war – dennoch gehört sie, glaubt man zumindest den aktuellen Auszeichnungen, definitiv zu den zehn besten Restaurants bei den Eidgenossen.

Wir wissen bei der Anreise soviel, dass das westlich vom Genfer See im südwestlichsten Zipfel der Schweiz gelegene Lokal malerisch zwischen Weinbergen eingebettet ist, doch als wir den kleinen Ort Satigny durchfahren und der eher spärlichen Beschilderung folgen (das Navi ist diesmal auch keine große Hilfe), glauben wir zeitweilig, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Der Weg führt uns mindestens einen Kilometer lang zwischen Feldern und Rebflächen schließlich zum Ziel, das wir glücklicherweise nicht nachts ansteuern mussten – die Suche hatte sich bei Tageslicht schon als schwierig genug erwiesen! Dass die Mühen indes gerechtfertigt sind, erkennen wir schon beim Eintreffen auf dem Parkplatz: das stolze Weingut mit den massiven Steinmauern und dem charmanten Innenhof macht auch einem unbedarften Gast sofort klar, dass dies beileibe keine gewöhnliche Adresse darstellt. Wegen unseres zu frühzeitigen Eintreffens flanieren wir an diesem zunächst noch sonnigen Tag noch ein wenig um das Gut herum und entdecken dabei neben dem hauseigenen Kräutergarten und einem Delikatessenladen auch die rückseitig gelegene Terrasse des Lokals, auf der wir wenig später Platz nehmen sollten. Von hier aus offenbart sich dem Gast über die Weinberge hinweg ein Paradeblick auf das Rhônetal, die französischen Alpen und das Juragebirge, der allenfalls durch den ständigen Fluglärm der vom nahen Flughafen in Genf startenden Maschinen gestört wird.

Chef des Lokals, in dem auf solide französischem Fundament gekocht wird, ist Philippe Chevrier. Der 1960 geborene Entrepreneur unterhält zwar in der Region ein wahres Netzwerk an sichtbar gehobenen Locations, für die er mit seinem Namen wirbt, doch das Flaggschiff seines Imperiums ist fraglos das Weingut, in welchem er seit 1987 das Sagen hat. Unter seinen zahlreichen Ausbildungsstätten war diejenige im legendären L’Hôtel de Ville in Crissier, damals unter Frédy Girardet, sicherlich die renommierteste und prägendste. Auch uns ist bewusst, dass einer Reise an den Genfer See ohne eine Stippvisite in Crissier damals wie heute etwas Entscheidendes fehlen würde, weshalb wir uns schon jetzt auf den Besuch dort am nächsten Tag freuten. Dennoch gab es natürlich keinen Grund für uns anzunehmen, dass die zweifach besternte und mit der Höchstnote des Schweizer Gault&Millau ausgezeichnete Domaine uns auch nur annähernd enttäuschen könnte.

Der korrekt und aufmerksam agierende männliche Service im Anzug nimmt uns sogleich in Empfang und geleitet uns zu unserem Tisch auf der Terrasse, wo ich kurz darauf feststelle, dass trotz old school die Gegenwart durchaus Einzug gehalten hat: ein Einstieg ohne Prozente erfolgt hier nicht etwa mit Klassikern wie Sanbitter Orange, sondern mit alkoholfreien Säften von Alain Millat, die mir bislang nicht geläufig waren. Ich entscheide mich für einen Premiumsaft auf Basis von Chardonnay und denke, damit einen guten Kompromiss gefunden zu haben, denn zum einen verzichte ich damit auf Alkohol, aber zum anderen trage ich der Tatsache, in einem Weingut zu speisen, dennoch Rechnung. Die Lektüre der Speisekarte ist schnell erledigt, denn wir bescheiden uns aus Zeitgründen diesmal mit dem dreigängigen – und bereits bei der Reservierung bestellten – Mittagsmenü zu CHF 115, aber für ein einigermaßen aussagekräftiges Urteil sollte es auch so reichen. Nur wenige Kilometer vom größten See der Schweiz entfernt fühlt man sich hier fernab der quirligen Metropolen Genf und Lausanne gleich wieder wie in einer anderen Welt: entspannt und voll dem bewussten Genuss huldigend. Wie zur Bestätigung der klassischen Linie werden ohne Umschweife drei Apéros präsentiert, die sich in puncto Intensität noch etwas zurückhalten, aber dafür mit delikatem Geschmack punkten: zur linken ein Profiterol mit Hummer-Coulis, dann ein Gougère mit Füllung von Gruyère und einem Klecks Avocadocrème obenauf sowie zu guter Letzt eine Terrine von Truthahn im Teigmantel mit Aprikosengel.

Eine Stufe höher angesiedelt ist dann das Amuse, bestehend aus einer cremigen Mousse von Foie canard, die mit einer dünnen Schicht von pürierten Erdbeeren und einem Getreidecrumble bedeckt wird. Die leicht salzige Note durch das Crumble wird mit dem Grissino noch minimal verstärkt, doch alles in allem ist dies ein voll auf klassische Eleganz ausgerichteter Happen, bei dem die kühle, qualitativ herausragende Mousse schön im Mittelpunkt bleibt und mit angemessen leisen Tönen ansprechend nuanciert wird.

Damit steigen wir ins Menü ein: wunderbar saftiger Rücken von punktgenau gegartem norwegischem Kabeljau bildet die Basis für eine fast verspielt anmutende Sammlung an Texturen von Karotte, die allerdings durch verschiedene Grade an Knackigkeit und eine alles andere als aufdringliche Würzung den Fehler vermeidet, den Hauptdarsteller zuzudecken. Nicht nur die Proportionen ergeben für uns sehr viel Sinn, sondern auch die sorgsame Aromatisierung des Gangs mit Ingwer und einer Emulsion von Kokosmilch verleiht ihm eine eigenständige Note, die fast schon an indische Geschmackswelten anknüpft. Farbenfroh ist dieser Teller fraglos, aber in geschmacklicher Hinsicht erweist er sich als sorgsam durchdachter Beitrag, der eine große Harmonie erkennen lässt und keinesfalls knallig auftritt. Wir sind beeindruckt, zumal ich mich in puncto Konzeption keines vergleichbaren Tellers entsinnen kann. Ein verheißungsvoller Start!

Das Hauptgericht des Tages stellt saftig-herbe Deux-Sèvres-Taubenbrust und -keule in den Mittelpunkt, welche hauptsächlich von Aubergine umspielt werden. Während jedoch der Auberginenkaviar sich mit markigem Geschmack bemerkbar macht, lässt sich das von der geschmorten Variante, die arg blass bleibt, leider nicht behaupten. Abgesehen von diesem kleinen Menetekel sind die weiteren Begleiter jedoch sorgfältig gewählt und in Szene gesetzt: so ist der Kern der Kirschen durch eine Verbenefüllung ersetzt worden, was für einen präsenten Säurekick sorgt. Der fermentierte Knoblauch dagegen steuert recht erdige Würze bei, so dass unterm Strich ein fast schon herbstlich anmutender Gang mit alles andere als gefälligen Aromen steht – jedenfalls bleibt so beim Verzehr die Aufmerksamkeit hoch. Die cremige und absolut vorzeigbare Kartoffelmousseline ist dagegen ein bewährter und recht gefälliger Begleiter des Geflügels, der die Kanten des Gerichts etwas glättet. Alles in allem erweist sich das Täubchen als würdige und edle Komponente in einem Hauptgang, der bis auf den kleinen Ausrutscher unsere anerkennende Zustimmung fand.

Als mutigster Beitrag des Tages entpuppt sich fraglos das Pré-Dessert, in dessen Zentrum ein Himbeersorbet steht. Ungewöhnlich ist dabei natürlich nicht das Sorbet, sondern die begleitende Entourage aus Gurke, Rucola, Yuzu, Sahne und der Zuckerhippe obenauf. Ich gestehe, dass ich in diesem eher konservativen Umfeld eine derart kühne Kombination nicht erwartet hätte, zumal sie – wie sich gleich herausstellen sollte – auch noch besser als gedacht funktionierte. Vor allem die zuckerfreien Komponenten sorgten dabei für die gewünschte Erfrischung, während die leichte Säure der fruchtigen Yuzu den Zuckergehalt der übrigen Komponenten etwas abfederte. Vielleicht hätte dieser Millefeuille-Beitrag auch mit ein oder zwei Zutaten weniger auskommen können, aber das Kalkül der Küche ging jedenfalls auf.

Die üppige Auswahl an Petits fours (u.a. mit diversen Pâtes de fruit, Yuzukugel und Tonkabohnenpraline) wird wohl deshalb vor dem eigentlichen Dessert abgestellt, damit für den Verzehr genügend Zeit bleibt und sich die Angelegenheit nach dem Dessert angesichts dieser Menge nicht ewig hinzieht. Wir erfreuen uns gerade an den ersten süßen Ausklängen, als ein Duft am Tisch aufzieht, der auch aus einer Apotheke herübergeweht sein könnte …

Der Grund dafür ist eine ungewöhnliche Mousse, die einen Teil des Desserts darstellt. Sie wurde mit diversen Wiesenkräutern aromatisiert und riecht schon irgendwie „gesund“. Fluffig leicht und von nur dezenter Süße, kommen die diversen Kräuter bestens zur Geltung – wie wir später noch erfahren, wird eines der verwendeten Kräuter sogar für die Herstellung von Aspirin verwendet! Auf dem Hauptteller tummeln sich drei Türmchen aus einer dünnen Schokoladenhülle, welche jeweils mit Dulcey-Crème gefüllt ist. Des weiteren verstecken sich unter den hauchzarten falschen Blüten Eis von gebrannten Mandeln und Sahne – die einprägsame Wirkung der Mousse wird also nicht von kraftvollen Aromen kaschiert, sondern bleibt noch lange im Gedächtnis haften. Während der Hauptteller eher durch die ungewöhnlichen Texturen punktet, ist es bei der Mousse ganz klar der Geschmack, der diesem eigenwilligen Dessert den Stempel aufdrückt. Dieses Abweichen vom ausgetretenen Pfad würde man sich gerade bei Desserts öfters wünschen, zumal dieser Nachtisch trotz fehlender Vergleiche keineswegs radikal oder gar hypermodern geriet. Die feinen Kräuternoten kamen auf ungewohnte Weise, aber einfach überzeugend zur Geltung und trugen entschieden zum Reiz des Haupttellers bei. Gefällt uns!

Zu unserer nicht geringen Überraschung entdecken wir dann noch auf der Karte ein einmaliges Angebot, das wir uns angesichts meines anstehenden Geburtstages gönnen und uns nicht entgehen lassen wollen: man offeriert hier doch tatsächlich (zum vernünftigen Preis von CHF 56) auch anstatt der allgemein üblichen zwei oder vier Zentiliter auch nur 1 cl zur Verkostung des sündhaft teuren Cognacs Louis XIII von Remy Martin an! Zur Einordnung: für eine 70 cl fassende Flasche dieses klassischen Weinbrands aus der Kategorie „einmal im Leben probieren“ muss man derzeit im Handel mindestens € 3.500 auf den Tisch legen …

Nach diesem unerwarteten Ausklang, den wir natürlich bis zum letzten Tropfen regelrecht aufsaugen, lassen wir das Erlebte nochmals Revue passieren und kommen zu dem Ergebnis, dass wir Zeuge einer auf solide klassischem Fundament ruhenden Küche geworden sind, die indes durchaus mit der Zeit zu gehen weiß und eine gewisse Experimentierfreude bei den Texturen oder seltenen Produkten wie den Wiesenkräutern an den Tag legt.  Unterschwellig hatten wir jedoch das Gefühl, dass Philippe Chevriers Team beim knappen Mittagsmenü nicht unbedingt die volle Leistung abrufen muss, um den Gast nachhaltig zu beeindrucken. Bis auf minimale Mängel hatten wir ja auch nichts auszusetzen, glaubten aber eben, dass das Repertoire durchaus noch mehr derart animierende Gerichte wie die Vorspeise umfasst, die in uns einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterließ. Die Extraklasse eines unvergesslichen Gerichts hatte diese knappe Menüfolge zwar nicht zu bieten, doch einen grundsoliden Nachmittag auf Zwei-Sterne-Niveau erlebten wir allemal.

Was wir in Frankreich und auch in der Suisse Romande wieder feststellen mussten ist, dass Gäste, die des Französischen nicht mächtig sind, mit einem starken Akzent seitens der Servicekräfte rechnen müssen, wenn diese ins Englische ausweichen. Wir haben das Glück, dass wir gegen Ende des Menüs auf einen Kellner treffen, der aus dem Elsass stammt und jedenfalls besser Deutsch spricht als wir Französisch. So klingt dieser Besuch praktisch auf Deutsch aus, was meiner Begleitung eine große Hilfe ist. Die Serviceleistung ist ansonsten als vergleichsweise förmlich, aber stets korrekt und nicht zu steif zu bezeichnen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist gemessen an der sonst üblichen Preispolitik in der Schweiz jedenfalls kein Hinderungsgrund für einen weiteren Besuch. Das große sechsgängige Menü liegt übrigens derzeit bei CHF 320, doch eine stattliche Auswahl à la carte hat man ebenfalls noch in petto. Man merkt Monsieur Chevrier die Erfahrung eines halben Lebens als Chef an, denn eine Karte von solchem Umfang anzubieten trauen sich aktuell derzeit nur wenige große Köche zu: entweder ist der Kostenfaktor zu hoch oder der zeitliche Aufwand einfach zu kräftezehrend. Mit der steigenden Gelassenheit des Alters und etablierter Routinen kann man es sich hier jedoch offenbar erlauben, denn wie der Blick in die Küche verrät, geht es dort scheinbar ohne nennenswerten Stress oder Druck zu.

Nach vollbrachtem Mahl honoriert man übrigens mein Interesse an den Abläufen in der einsehbaren gläsernen Küche mit der Einladung, einzutreten und mit dem Chef ins Gespräch zu kommen. Philippe Chevrier wirkt dabei auf mich sehr vital und deutlich jünger als er tatsächlich ist. Dieser Chef erweist sich als unprätentiöser, aber durchaus redseliger und angenehmer Gesprächspartner, der natürlich schnell erkennt, dass ich ein Gast bin, der die besten Adressen der Schweiz bereits kennt oder unmittelbar vor deren Besuch steht. Ich hole mir für den am nächsten Tag anstehenden Besuch in Crissier noch ein paar Tipps aus erster Hand ab und freue mich am Ende des Gesprächs über weitere neue Einsichten und Fakten, die mir auch noch nicht bekannt waren. Weitere Besuche in der Domaine sind ob der größeren Entfernung von der Heimat natürlich nicht so regelmäßig einzurichten, doch ein volles Menü des erfahrenen Chefs zu erleben wäre sicherlich eine reizvolle Angelegenheit. Jedenfalls kann ich das Lokal meinen Lesern guten Gewissens empfehlen, wenn mal ein Urlaub in der Region anstehen sollte. Wer abends zu tief ins Glas geschaut hat, der kann ja praktischerweise gleich im hauseigenen Hotel übernachten – das nötige Kleingeld vorausgesetzt …

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

Domaine de Châteauvieux
Chemin de Châteauvieux 16, Peney-Dessus
1242 Satigny (Schweiz)
Tel.: 0041-22753-1511
www.chateauvieux.ch/fr/

Guide Michelin 2022 (Schweiz): **
Gault&Millau 2023 (Schweiz): 19 Punkte

3-gängiges Mittagsmenü: CHF 115