August 2018
Quer durch Maisfelder führt uns eine holprige Straße außerhalb des Örtchens Kruishoutem im östlichen Flandern zum mutmaßlich besten Restaurant Belgiens: das Hof van Cleve, das seit 2005 durchgängig mit drei Michelin-Sternen und 19,5 Punkten im Gault&Millau ausgezeichnet wird. Aufgrund der großen Vorschusslorbeeren ist unsere Erwartungshaltung an Chefkoch Peter Goossens und sein Team natürlich hoch, soll dies doch eines der weltbesten Restaurants sein.
Das unscheinbare kleine Lokal, das allerdings durch Hecken und ein vergittertes Tor von der Umgebung abgeschirmt wird, könnte kaum entlegener liegen – wenigstens weisen ein paar blassgelbe Schilder den Weg entlang der letzten Kilometer. Trotzdem ist die internationale Gästeklientel an diesem Nachmittag vollzählig eingetroffen, denn freie Plätze gibt es trotz Kapazitäten für bis zu 35 Gäste keine mehr. Das Lokal selbst ist in hellen Tönen gehalten und irritiert dennoch ein wenig mit etwas zu lauter Lounge-Musik sowie avantgardistischer Kunst an den Wänden (die aktuelle Ausstellung wirkt, als ob die weiße Wand von leeren Rahmen verziert würde, da jedes „Bild“ des Künstlers jeweils nur einen unscheinbaren schwarzen Punkt auf weißem Grund aufweist …), die zu diesem Ambiente unseres Erachtens nicht sonderlich gut passt – zudem ist der Boden aus Stein und die Tische sind ganz klassisch eingedeckt. Nun gut: wir lassen uns von diesem Experiment nicht ablenken und widmen unsere ganze Aufmerksamkeit den Tellern und nicht den Wänden, zumal auch der Ausblick durch die Fenster keinerlei Inspiration bietet.
Die bereits Wochen zuvor bei der Reservierung anzugebende Menüwahl sowie die Anzahlung in Höhe von € 200 (!) machten uns schnell zwei Dinge klar: erstens, dass hier immer wieder Gäste offenbar nicht erscheinen und Anzahlungen leider unverzichtbar sind und zweitens, dass der Aufwand in Küche und Service angesichts des Betrages immens sein muss, wenn selbst das günstigste Mittagsmenü mit sage und schreibe € 185 zu Buche schlägt. Wir sind wirklich gespannt, ob dieser Preis gerechtfertigt werden kann …
Am Eingang wird man von Lieve Goossens, der Frau des Chefs per Handschlag in Empfang genommen und zum Tisch geleitet. Der erste Eindruck des Service ist jedenfalls hervorragend: eine quirlige Truppe aus jungen und überaus korrekt gekleideten Kräften geht umsichtig, aber beherzt zu Werke und sorgt jederzeit für das Wohl der Gäste. Es sei bereits hier verraten, dass dem Service im Laufe des gesamten Nachmittags an keinem einzigen der uns einsehbaren Tische irgendein Patzer unterlief.
Zu einem wenig eindringlichen Limette-Gurken-Aperitif serviert man dann die ersten zwei Einstimmungen: ein hauchdünner Brotchip mit kleinen Shrimps, Tomate und Rucola sowie eine mit Shrimps aromatisierte Crème, die mit etwas Sommerweizen obenauf und Meerrettich verfeinert ist. Es folgt eine superbe Gelbschwanzmakrele, die äußerst stimmig mit etwas Erbsencrème und Miso (japanische Sojapaste) begleitet wird. Noch stimmiger finden wir die Linsen, die im Umfeld mit Ziegenkäse, Chorizo und mediterranen Gewürzen bestens gelingen. Ganz am Ende dieser vortrefflichen Parade gibt es noch eine marinierte Hühnerleber mit Langustine und Mango, womit Chefkoch Peter Goossens spätestens die Dienstflughöhe erreicht hat. Nach der Präsentation und Auswahl der Brotsorten kann das Menü jetzt losgehen!
Fangfrischer Seebarsch mit Tomate, Koriander und Quinoa läutet den Reigen absolut würdig ein: die halbe Tomatenscheibe, die mit diversen Kräutern und Gewürzen dekoriert ist, harmoniert prächtig mit dem ultrafrischen Fisch, der auf einem Bett aus Quinoa thront. Als alkoholfreie Begleitung reicht der Service einen eiskalten reduzierten Tomatensaft, der mit Kräutern und etwas Basilikumöl verfeinert ist – gewöhnungsbedürftig, aber eine stimmige Ergänzung. Hier ist alles bestens austariert und sinnvoll ins Gericht integriert, denn trotz einer recht großen Bandbreite an Produkten wirkt alles durchdacht und sinngebend – alberne Spielereien ohne Sinn und Verstand sind nicht die Sache dieses Grand Chefs. Ein superber Einstieg …
… obwohl uns Variante 2 des Seebarschs mit Lauch, Pilzschaum und Bouchot-Muschel noch mehr imponiert. Diese erheblich kräftigere Version wartet mit großer Kreativität auf (so ist die Muschel beispielsweise in winzigen Zwiebelschälchen platziert) und offeriert eine riesige Bandbreite an Aromen: so wird etwa der erdige Geschmack durch ein winziges Sake-Sorbet abgefedert und der Lauch durch verschiedene Texturen virtuos eingebunden. Das alles ergibt unterm Strich ein Geschmacksbild, das absolut hinreißend gerät und zeitgemäß wirkt. Als flüssige Ergänzung offeriert man mir einen mit Tonic aufgegossenen Cocktail aus klein geschnittenen Karotten und einem Granité von Grapefruit – einem Campari Orange nicht ganz unähnlich im Geschmack, aber erheblich subtiler.
Der Höhepunkt der Menüfolge sollte das Hauptgericht werden: selbst ein so rustikales Produkt wie Hühnchen wird mit Kopfsalat, einem hauchdünn gehobelten belgischen Käse und Erbsencrème so virtuos wie selten in Szene gesetzt: zusammen mit etwas Kichererbsen und Balsamico-Essig wird der Hauptdarsteller mit der krossen Haut auf einmal zu einem Edelprodukt ersten Ranges. Neben der geschmacklichen Fülle beeindruckt auch die optische Präsentation, die trotz aller Komponenten geordnet und absolut durchdacht wirkt. In Verbund mit dem Drink aus Bitterorangen, der mit Blüten von afrikanischen Zitrusfrüchten veredelt ist, ergibt dies nichts weniger als das beste Hähnchengericht seit Äonen.
Das Käsegericht schließlich besteht aus geeistem Pas de Bleu, grünem Apfel, Quitte und Verjus. Schon das Wagnis, den Käse auf so riskante Weise zu präsentieren, verdient Anerkennung, doch die Begleitung mit zahlreichen Kräutern und eher säuerliche Noten rechtfertigt diesen Schritt. Hier setzt Goosssns eher auf subtile, aber vielseitige Aromen, die wunderbar am Gaumen aufgehen und mit dem à part gereichten Saft von grünem Apfel, Minze, Zitronengras und Ingwer perfekt harmonieren.
Das Ende diese denkwürdigen Menüs wird mit einem luftigen Schokoladenkuchen und einer Handvoll Krapfen versüßt, wobei wir wie schon in Kruiningen (Inter Scaldes) auch hier feststellten, dass das große Angebot der Patisserie auf dem Wagen möglicherweise nur denjenigen zusteht, die zum Ausklang einen Kaffee oder dergleichen bestellen und somit den Mehraufwand in finanzieller Hinsicht mit zusätzlichen € 20 pro Kopf auffangen müssen (was uns nicht abschreckte). Darüber mag man angesichts der Tatsache, dass diese Praxis in Deutschland vollkommen unüblich ist, die Nase rümpfen, doch der dreistöckige Wagen mit Törtchen, Pralinen, Macarons und allen nur denkbaren Verlockungen ist das Geld wahrlich wert. Mit einem Yuzu-Macaron, einem Stück Blaubeertorte, einer Schokoladenpraline und einem Millefeuille aus Butterkeks und Crème fällt das Ende dann doch etwas angemessener aus als ohne all dies …
Machen wir uns nichts vor: das Hof van Cleve bildet fraglos mit maximal zwei, drei weiteren Kandidaten die kulinarische Spitze Belgiens und ist vollkommen zurecht mit all diesen Lorbeeren dekoriert. Auch wenn dieses Menü nicht ganz den Sprung in meine ewige Top-Ten-Liste schaffte, so hatte es doch alles, was man von einer zeitgemäßen und qualitativ hochwertigen Visitenkarte eines Grand Chefs erwarten würde: neben Grundtugenden wie exzellenter Produktqualität und sicherem Handwerk waren dies vor allem farbenfrohe und originelle Kreationen, Ausgewogenheit, überbordende Phantasie und traumwandlerische Sicherheit beim Einsatz von Kräutern und Gewürzen.
Wie bereits eingangs erwähnt war auch die Leistung der Servicebrigade hochprofessionell und makellos. Sauberkeit am Tisch und im gesamten Lokal (auch in den edlen Toiletten) prägte das Bild durchweg. Dem Gast fehlte es an absolut nichts, und die sprachliche Vielseitigkeit der Servicekräfte, die an diesem Nachmittag durchaus in mehreren Sprachen agierten, erwies sich als weiterer Trumpf. Auch Peter Goossens erschien kurz an jedem Tisch und ließ sich sogar bereitwillig mit mir ablichten. Alles in allem wäre dies ein nahezu perfekter Nachmittag gewesen, wenn da eben nicht der letzte Wermutstropfen in Form der Rechnung noch gewesen wäre. Die aufgerufenen Preise sind durchweg an der Obergrenze des Üblichen und belasten das Portemonnaie leider ganz erheblich. Allein die Preise für die viergängige alkoholfreie Begleitung (€ 60) oder die Flasche Wasser (€ 15) machen meinen Standpunkt da wohl mehr als deutlich. Selbstverständlich entstehen diesem Lokal durch die zahlreichen Mitarbeiter in Küche und Service horrende Kosten, die zudem von keinem Sponsor oder Mäzen abgefedert werden, doch auf fast genauso exzellentem Niveau lässt es sich anderswo eben erheblich günstiger in Belgien (siehe meine übrigen Restaurantbesuche) dinieren. An guten Adressen mangelt es dem Königreich jedenfalls nicht, so dass trotz der superben hier gebotenen Qualität ein Besuch leider nicht allzu oft mit einem gewöhnlichen Budget vereinbar ist.
Fazit: außergewöhnlich gut, aber leider auch außergewöhnlich teuer! Dies war jedenfalls das kostspieligste Mittagessen meines Lebens!