JAN***, München (UPDATE)

„Das Genie entzieht sich den Konventionen und sieht die Dinge selbst an.“ (Sully Prudhomme)

UPDATE (Dezember 2023)

Als Jan Hartwig 2021 seinen Abschied vom Atelier im Bayerischen Hof verkündete – jener Ardesse, die ihm über Jahre als Sprungbrett zu den begehrten drei Sternen diente – schlug die Nachricht in München so hohe Wellen wie sonst nur der damalige Abgang von Eckart Witzigmann aus dem Tantris im Jahre 1978. Der gewachsene Wunsch nach Selbständigkeit nahm schon bald konkrete Formen an, doch die wenig vorhersehbaren Zustände im Zusammenhang mit der leidigen Pandemie verzögerten die Umsetzung seiner ambitionierten Pläne etwas. Jedenfalls überbrückte der Ausnahmechef die Zeit bis zur sich verzögernden Eröffnung seines neuen Lokals mit einem Pop-up in der Porzellanmanufaktur des Schlosses Nymphenburg, das ich gleich am Eröffnungstag vor zwei Jahren besuchen durfte – siehe den untenstehenden Bericht. Aufgrund der ungewohnten Räumlichkeiten und fehlender Routinen konnte dieser Besuch nicht vollständig an das zuvor gezeigte exorbitante Niveau anknüpfen, doch deutete sich zumindest hier schon an, dass eine leichte Modifikation des Hartwig’schen Stils bevorstehen könnte.

Eine Anreise mit dem Taxi oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur neuen Location ist unbedingt anzuraten, denn der akute, drängende Parkplatzmangel hat wohl schon so manchen Gast vor dem Mahl verzweifeln lassen. Die endgültige Fertigstellung des neuen Lokals im Rhaetenhaus auf halbem Weg zwischen Hauptbahnhof und Königsplatz, vorbei an zahllosen Baustellen, erfolgte dann im Oktober 2022. Das blassgraue und ziemlich unscheinbare Gebäude lässt Ahnungslose kaum vermuten, dass sich in diesen Räumen eines der weltbesten Restaurants befindet, aber so verhält es sich tatsächlich! Natürlich sicherte ich mir umgehend einen Termin, doch musste ich diesen letztlich krankheitsbedingt absagen und schob so die ganze Angelegenheit ein weiteres volles Jahr vor mir her, bis es dann letztlich einen Tag vor Heiligabend endlich klappen sollte! Das lange Warten hatte zumindest den Vorteil, dass zu jenem Zeitpunkt alle professionellen Guides ihre ersten Urteile bereits hatten fällen können: viel einhelliger hätte die Meinung, dass sich Jan Hartwig auf absolutem Weltklasseniveau bewegt, nicht ausfallen können! Der Guide Michelin verlieh dem Lokal wieder ohne Umschweife die drei Sterne, die Jan Hartwig zuletzt im Atelier errungen hatte, doch auch alle anderen Guides zückten unumwunden mindestens die zweithöchste Note. Die Vorschusslorbeeren versprachen natürlich einiges, zumal der Chef inzwischen sein erstes Kochbuch veröffentlicht hatte und Deutschlands derzeit wohl prominentester Restaurantkritiker Jürgen Dollase sich in Lobeshymnen erging, die kaum euphorischer hätten ausfallen können. Da mutet der Umstand, dass sich das neue Etablissement mit dem schlichten Namen JAN im Erdgeschoss eines Studentenwohnheims befindet, einigermaßen skurril an, denn diese Klientel wird angesichts eines Menüpreises von über € 300 für das volle Programm mehrheitlich eher nicht zu den Stammgästen des Hauses zählen …

Das schlichte, fast nüchterne Intérieur des Lokals impliziert bereits vorab einen Eindruck von der Zwanglosigkeit und Leichtigkeit, die hier herrschen: blanke Holztische sowie eine (selbst von der Straße her) teils einsehbare Küche verdeutlichen, dass man der Ernsthaftigkeit und sterilen Atmosphäre von Spitzenrestaurants früherer Jahre endgültig entsagt hat. Passend dazu tönt aus den Lautsprechern Barry Manilows Copacabana, die angesichts des Schmuddelwetters durchaus auch etwas Einladendes hätte, aber ob das Essen dort mithalten könnte?! Nun gut: komfortabel ist es im JAN auch, und was genau die Aufschrift Labor der Liebe über dem Eingang zur Küche zu bedeuten hat, möge der Phantasie des Gastes überlassen bleiben. Jedenfalls bietet diese Perspektive all jenen interessierten Gästen einen transparenten Einblick in das rege, aber konzentrierte und doch vergleichsweise entspannte Treiben in der Küche. Aufgrund des immensen Aufwands verwundert es nicht weiter, dass das Lokal dem weithin zu beobachtenden Trend der Ein-Menü-Politik folgt, doch erfreulicherweise verrät ein erster Blick in die Karte, dass eine Handvoll Gerichte von klassisch bis modern zusätzlich bestellt werden können. Dazu später noch mehr.

Den Auftakt meines Besuchs bildet ein Quintett aus konsekutiv aufgetragenen Apéros, die in Summe zu den komplexesten, aber auch animierendsten Beiträgen seit langer Zeit gezählt werden müssen. Die Gänseleber mit einer vorzüglich leichten Crème Chantilly gewinnt durch Krokant-Kaper, Pekannuss, Fingerlimes und geräucherten Ahornsirup derart an Charakter, dass man sich schon zu diesem Zeitpunkt unwillkürlich fragt, wie man solch filigranen Geschmack auf solch dichten Raum drängen kann ohne dabei im Mindesten an Transparenz einzubüßen. Das Resultat ist ein unerhört cremiges, doch zugleich knuspriges Wunderwerk von schwebender Leichtigkeit – einfach wunderbar! Diese Petitesse hat schon Signature-Dish-Charakter …

Von etwas plakativerer Optik, aber kaum weniger beeindruckend ist die nachfolgende Sardine von der Algarve in einem kühnen Pairing mit Limonenbaiser, Aioli und Jalapeño. Das, woran andere weniger talentierte Chefs krachend scheitern würden, funktioniert beim Meister bestens: die Buttrigkeit des gebeizten Fischs wird durch die säuerlich-würzigen Elemente kongenial akzentuiert und in perfekter Balance umgesetzt. Hier scheint jemand ganz offenkundig gleich zu Beginn zeigen zu wollen, was er auf dem Kasten hat …

Die Buchweizen-Croustade belegt die Küche mit einem japanischen Touch, wenngleich der bemerkenswerteste Begleiter der Gamba Roja fraglos die rote Bete ist. Zusammen mit Kimizu (eine Art japanische Hollandaise), Uni (Seeigel), Myoga (japanischer Ingwer) und Wasabi entwickelt sich die Rübe zu einer unerhörten spannungsgeladenen Kammersinfonie: es lässt sich kaum in Worte fassen, wie akkurat und minutiös dieser Happen ersonnen wurde. Perfektes Handwerk in jeder einzelnen Komponente, eine vorzügliche Balance und ein beispiellos delikater Pinselstrich kennzeichnen dieses Apéro, dessen Qualität an Zauberei grenzt. Das strapazierte Wort „Geschmacksexplosion“ benutze ich äußerst selten, aber diesmal ist es wohl angebracht!

Dezidiert Nippon ist auch ein weiterer Einschub, bevor man sanft ins Menü hinübergeleitet: unter Umami versteht Jan Hartwig eine Bouillon auf Basis von Dashi mit Steinpilzöl und einer Vielzahl an genau ausgeloteten Gewürzen. Das zaubert einen enormen Nachhall von unerhörter Tiefe an den Gaumen und beeindruckt mit puristischer Reinheit. Geradezu genüßlich schlürft man auch den letzten Tropfen noch aus dem Glas, so grandios ist das!

Beim Finale unter den Apéros zeigt die Küche eine lohnende Alternative zur strapazierten Gillardeau-Auster auf: die als Geheimtipp gehandelte Irish Mór Auster, die etwas cremiger und weniger jodig als ihre berühmte Schwester daherkommt. Ein Arrangement aus Chawanmuschi (japanischer Eierstich), Forellenrogen, rotem Pfeffer und Granatapfel entpuppt sich als höchst individuelle und doch höchst stimmige Begleitung, doch das alles verbindende Element ist ein Earl-Grey-Tee, dessen Bergamotte-Aromen für den letzten Feinschliff sorgen. Selbst eine noch so beängstigend klingende Komplexität schreckt einen Jan Hartwig nicht ab, die Herausforderung anzunehmen und etwas höchst Animierendes und Gelungenes daraus zu zaubern!

Das bedeutet natürlich keineswegs, dass ein solcher Ausnahmekönner nicht auch die sanften und leisen Töne beherrschen würde. Quasi als Beweis für diese Theorie bestelle ich separat zum Preis von € 18 à la carte noch eine Kastaniensuppe mit Alba-Trüffel (€ 15 pro Gramm). Stand die hochkomplexe Auster am einen Ende des Spektrums, so positioniert sich diese Suppe diametral gegenüber: ich wäre nicht überrascht, wenn noch ein Schuss Sherry für eine harmonische Abrundung sorgt, doch so oder so ist dieser beispielhaft reine Beitrag eine wundervolle Hommage an erdige Töne, deren aristokratische Tiefe mir sehr imponiert. Spätestens jetzt kann es keinen Zweifel mehr geben, dass dieser Chef mit zunehmender Reife alle Intensitäten sicher beherrscht und sie ganz nach Bedarf ins Menü einbauen kann – von zart bis wuchtig. Früher ritt man dagegen nicht selten mit einem hohen Anteil an Vollgas durch die Menüs im Atelier, was auch Spaß machte, aber auf Dauer ganz schön fordernd geraten konnte …

Angesichts all der bisherigen lukullischen Kunstwerke kann ich der Versuchung nicht widerstehen, noch mehrmals dem Treiben in der Küche zuzusehen, wobei mir ein Schild ins Auge sticht: „Bitte nicht vor 20.30 Uhr auf den Tischen oder Stühlen tanzen!“. Der Chef beweist offenbar reichlich Humor, denn dieses Souvenir von der Wiesn suggeriert mir, dass die Küchenbrigade nach getaner Arbeit den Bär von der Kette lassen darf – es wäre jedenfalls hochverdient!

Das Publikum ist von der Zusammensetzung her recht international, doch gerade vor diesem Hintergrund und trotz einiger Anleihen aus aller Welt (mit einem klaren Schwerpunkt auf Japan) verblüfft es zu sehen, wie häufig Jan Hartwig heimische Produkte ohne jede Forciertheit in seine kosmopolitisch geprägte Küche einbaut. Als bestes Beispiel dafür erweist sich der Auftakt ins Menü, in dessen Mittelpunkt Saibling vom Schliersee steht. Das Saucenduett könnte von der Nouvelle Cuisine inspiriert sein, doch einen größeren Kontrast zueinander könnten die Dashi Beurre blanc mit etwas gebranntem Rahm einerseits und die Vinaigrette mit Combava (Kaffirlimette), Zwiebel und Fingerlimes kaum eingehen. Der Schmelz des im Grunde recht profanen, in Öl gargezogenen Fischs mit Saiblingskaviar obenauf dient als Beleg für Jan Hartwigs unnachahmliche Kunst, selbst einfachste Produkte wie luxuriöse Viktualien erscheinen zu lassen. In dem spannungsgeladenen Umfeld kommen die Vorzüge des Süßwasserfischs bestens zur Geltung – sensorisch wie aromatisch höchst befriedigend, da dieser Teller ähnlich starke Gefühle in mir wie Sven Wassmers berühmter Saibling in gebrannter Rahmsauce evoziert.

Die Rückbesinnung auf Klassiker, um sie dann zeitgemäß zu inszenieren, hat neuerdings ganz klar ihren festen Platz im Credo des Chefs: so kombiniert er die klassischen Hechtnockerl, welche er sicherlich schon mal in einer ikonischen Variante von Hans Haas im Tantris serviert bekam, kurzerhand mit Jakobsmuschel und Butter von getrocknetem Kaviar. Gebettet wird die wunderbar fluffige Masse auf einer Sauce von weißem Vermouth mit einer Schnittlauchvinaigrette. Die gänzlich ohne überkomplexe Komponenten auskommende Kreation erlangt auch so schon eine extreme Ausdruckskraft, doch dank der generösen Nocke an N25-Kaviar wird diese voll auf Produkte aus dem Wasser setzende Eingebung perfekt abgerundet: die variable Salinität des Gangs ist bei aller Präzision das vielleicht bewundernswerteste Element. Nicht verschwiegen sei bei dieser Gelegenheit, dass der Einfluss des Grand Chefs schon längst ausreicht, um eine eigene Selektion des Kaviars mit seinem Namen in Auftrag zu geben – was sich schon deshalb anbietet, weil die produzierende Manufaktur in Olching, einem Vorort von München, liegt und damit regelmäßige Stippvisiten ohne Weiteres möglich sind, zumal heutige Chefs mehr denn je die Wichtigkeit persönlicher Beziehungen zu den Produzenten betonen.

Das hausgebackene Brot aus Weizensauerteig wird vor allem durch den Aufstrich enorm aufgewertet: ganz so üppig wie zu Zeiten im Atelier ist die Beigabe zwar nicht, aber dafür hochqualitativ: neben der Allgäuer Bio Sauerrahmbutter imponiert mir insbesondere der vor allem aus Österreich und Ungarn stammende Aufstrich Liptauer mit Sauerkraut, Radieschen, Spitzpaprika und Grammeln, der entfernt an den bayrischen Klassiker Obazter erinnert.

Dicht gedrängt, aber mit genügend Platz zur Entfaltung, drängen sich auf dem nächsten Teller handgetauchte, geflämmte Sankt Jakobsmuschel und Maultaschen mit einer Farce von Entenklein und Blattspinat. Winzige Croûtons und Würfel von Lardo di Colonnata entfalten trotz ihrer Größe eine überraschende Wirkung, doch das aromensatte Fundament des Gerichts bildet fraglos die einfach köstliche, mit Zitronenthymian verfeinerte Entenessenz. Die glasklare Trennschärfe der Aromen und die überaus feine Säure zaubern auch aus diesem Beitrag ein kleines Wunder.

Wie gut, dass Jan Hartwig bei aller Gelassenheit dennoch nicht ganz der Versuchung widerstehen kann und das Gaspedal bisweilen doch noch ganz durchdrückt: aus meiner Sicht ist es stets ein Feiertag, wenn man von ihm Kalbsbries vorgesetzt bekommt! Sein neuester Streich ist eine Variante von glasiertem und kräftig gebratenem Kalbsbries, das zusätzlich in grüner Pfeffersauce und der Gewürzmischung XO geschwenkt wurde. Die in einer eigenen Liga angesiedelte Innerei von unerhört cremiger Textur innen und wunderbar krosser Konsistenz außen (ein sensorisches Ausnahmeerlebnis) thront auf einer Sauce von Petersilienwurzel, welche noch mit einem am Platz aufgegossenen Sud von mit Armagnac verfeinerter Pistazie kongenial veredelt wird. Obenauf wird das Bries auf geradezu vollendete Weise einerseits mit den Bitterstoffen von Frisée, andererseits mit den wunderbar deftigen Aromen von geschmolzenem Kalbskopf belegt, doch der letzte Säurekick, den diese Kreation der Beigabe von Senf- und Gewürzgurke verdankt, hievt diese Eingebung endgültig in den kulinarischen Olymp. Schon an alter Wirkungsstätte waren die Gänge mit Kalbsbries bei Jan Hartwig stets in einer eigenen Liga angesiedelt, doch inzwischen haben seine Meisterschaft und sein Gespür bei diesem Produkt geradezu göttliche Ausmaße erreicht – absolute Weltklasse! Wäre mein Kopf nicht an den Rumpf angeschraubt, so wäre er spätestens jetzt vor lauter fassungslosem Kopfschütteln abgefallen …

Kraftvoll gebratenes Hirschkalb aus Polting wird „à la Façon Rossini“ mit einem luxuriösen Türmchen von Foie gras, Pancetta und hocharomatischem Selleriestroh abwechslungsreich und handwerklich tadellos getoppt. Den großen Wurf bildet allerdings die mit Karotte und Sanddorn verfeinerte Wildsauce mit Noten von Guinness – eine tolle Alternative zum bayrischen Dunkelbier und zur ähnlich herben, aber deutlich klassischeren Sauce Rouennaise, die ein kraftvolles Statement setzt. Ganz so eindringlich wie andere Gerichte des Tages ist dieses Plat principal zwar nicht, aber außerordentlich gut gelungen ist es dennoch.

Allein schon die duftige Inszenierung des nun folgenden Käsegangs macht Hoffnung, da der ultrapuristische Beitrag vom Pop-up knapp zwei Jahre zuvor für meine Begriffe dem Anspruch des Hauses nur bedingt gerecht wurde. Der Schweizer Bergkäse „Schöpfer“ aus dem Kanton Luzern reift 20 Monate lang bei Jamei Laibspeis in Kempten, bevor er hier auf den Teller gelangt. Drapiert wird die Scheibe auf Bittersalaten an French Dressing, Feigenblattöl und knuspriger Hühnerhaut. Als durchdachte Maßnahme sorgt noch Pâte Brisée (Mürbteig) für angenehmen Biss, so dass dieser Käsegang jedenfalls deutlich besser als sein Vorgänger im Pop-up abschneidet. Man traut sich fast nicht auszusprechen, dass dieser Käsegang nicht unbedingt maßstabsetzend ist, sondern „nur“ ausgezeichnet gelingt.

Im Mittelpunkt des Desserts steht Bio Honduras Schokolade von Eberhard Schell. So wird als zentrales Element die Schokolade zu einer Mousse mit Bananenbrot verarbeitet und anschließend mit Salzkaramell ummantelt. Bananensorbet, Kokoschips und Vanillechantilly in dezenter Dosierung umspielen den Hauptdarsteller, der durch den Ananassud und eine Erdnussganache weiter an Kontur gewinnt. Kreative Optik und wohldosierte Süße gehen hier einträchtig Hand in Hand, zumal die ausgleichende Säure des Suds die bitteren Aromen der Schokolade schön auffängt. Im Hinblick auf die angenehme Mundfülle und die vielfältigen Texturen erlangt auch dieser Ausklang mühelos den Status der Extraklasse, zumal einmal mehr mit Alkohol – diesmal ein Schuss Rum – eine aristokratische Eleganz evoziert wird. Oder gab es gar einen Zusammenhang zwischen Manilows Copacabana zu Beginn und diesem Dessert?!

Die fulminanten Eindrücke vom Premierenbesuch gerieten so eindringlich, dass selbst die missratensten Petits fours meine Laune nun nicht mehr ruinieren könnten – wer Jan Hartwig kennt, der weiß allerdings genau, dass ein Nachlassen erst nach dem finalen Akt infrage kommt! Also zieht die Pâtisserie nochmals sämtliche Register ihres Könnens und trägt ein Quintett an süßen Ausklängen auf, das es in sich hat und zudem weihnachtlich gestaltet ist: so sind der fluffige Zimt-Donut und der Milchschokoladen Konfekt „Madagaskar 50%“ natürlich eher schlichte Beiträge, deren Handwerk allerdings so fulminant gelingt, dass selbst so profane Beiträge zu einem besonderen Erlebnis werden. Dies trifft auf die übrigen Häppchen erst recht zu, denn das Spekulatiusprofiterol von superber Konsistenz mit geeister Mandarine und Yuzu sowie der klassische, nussige Mont Blanc (sehr weihnachtlich mit Lebkuchen verfeinert) lassen die Extraklasse der süßen Abteilung mühelos erahnen. Die Krönung der Kollektion ist jedoch der ungeheuer filigrane und fruchtbetonte Passionsfruchtsandwich mit Chantilly, der allerhöchste Kunst darstellt.

Das Maß an Faszination, das Jan Hartwig mit seiner überragenden Küche in mir (und vermutlich auch bei der überwiegenden Mehrzahl der Gäste) erweckt, kennt kaum Grenzen – kein Wunder, denn seine Fähigkeiten sind die vielleicht vielseitigsten und kreativsten, die es derzeit in der Republik zu bestaunen gibt. Das Menü bewegt sich ohne Schwächen konstant auf extrem hohem Niveau und wirkt so als wäre nichts für diesen Chef unmöglich. Das stilsichere Wandeln zwischen unterschiedlichsten ästhetischen Ansätzen und das enzyklopädische Wissen der Küche rund um unterschiedlichste Viktualien eröffnet dem Gast die Möglichkeit, ein Essen zu erleben, das in seiner Variabilität, Ausgelassenheit und Heiterkeit praktisch beispiellos ist. Der unfassbar talentierte Chef hat sich voll und ganz in seine Passion versenkt und tüftelt unablässig auf mikroskopischer Ebene noch weiter um minutiöse Verbesserungen. Bei alledem wirkt seine Menüfolge aber nirgends verkopft und nur um des Effekts willen auf Show ausgerichtet, denn solche Sperenzchen hat dieser Ausnahmekoch wahrlich nicht mehr nötig. Mit größter Souveränität und Akkuratesse werden eigene neue Gerichte und Klassiker anderer Granden vergangener Tage gleichermaßen mit derselben Verständlichkeit der Gegenwart so angepasst, dass die moderne Adaption bisweilen noch schlüssiger als das Original wirkt! Unbändige Neugier, nie versiegende Ideen und schiere Präzision gehören dazu, doch all dies ist Jan Hartwig bereit auf sich zu nehmen. In einem seiner letzten Interviews als Chef des Atelier antwortete er auf eine Frage des Reporters, ob auch eine Portion Wahnsinn dazu gehöre, sinngemäß, dass es nicht einer Portion, sondern 100% bedarf, um den Job auf diesem Niveau zu erfüllen. Ich konstatiere mit gutem Gewissen, dass er seine „Drohung“ wahrgemacht hat und uns mit unvergleichlichen Kreationen beglückt, die noch viele Jahre lang internationale Maßstäbe setzen werden. Als eines der wenigen deutschen Spitzenrestaurants gelingt es dem JAN zudem, ein überdurchschnittlich großes Interesse im Ausland zu wecken – und das ohne das ganz große mediale Tamtam wie etwa bei so manchem Lokal in Kopenhagen oder Lima.

Bei aller Raffinesse und zeitgemäßer Modernität der Küche wirkt der Umstand, dass ein so zeitintensiver und aufwendiger Klassiker wie der angeblich auf den Sonnenkönig zurückgehende Lièvre à la royale (Wildhase auf königliche Art) als Zusatzoption angeboten wird, umso bemerkenswerter – auch Pâté en croûte fand sich schon auf seiner Speisekarte. Damit folgt das JAN einem Trend, den ich auch andernorts häufiger beobachten konnte: die Rückbesinnung auf große Klassiker im zeitgemäßen Gewand steht offenbar besonders hoch im Kurs und bietet gerade etwas jüngeren Gourmets, die solche Gerichte im Original nie kennenlernen durften, die Möglichkeit, mittelfristig Eckpfeiler des klassischen Repertoires wie Witzigmanns ikonisches Kalbsbries Rumohr oder Winklers Hummercarpaccio an Zitronengrassauce kennenzulernen.

Die Leitung des jungen und engagierten, doch zugleich tiefenentspannten Service übernahm kurz nach meinem Besuch Julia Kolbeck, die vom nahen Tohru zum Team stieß. Doch auch ohne ihr Dirigat wirkte die Darbietung kompetent, herzlich und hochprofessionell: alle Nachfragen meinerseits wurden zufriedenstellend beantwortet, und auch der Chef wurde auf mein Bitten hin am Ende meines Besuches nochmals kurz aus seinem Büro hergebeten. Beim abschließenden Gespräch gewann ich den Eindruck, dass Jan Hartwig seine innere Mitte endgültig gefunden hat und einen vollkommen glücklichen Eindruck macht, zumal jetzt auch sein erstes eigenes Kochbuch fertig ist. Mit Zuversicht dürfen Gäste und Küche gleichermaßen den Blick auf die Zukunft richten, denn es bedarf keines Propheten, um festzustellen, dass hier noch lange auf Weltklasseniveau gekocht werden wird. Es gab praktisch keinerlei Schwächen zu beanstanden, sondern nur maßlose Bewunderung zu erleben. Das bringt diesem Besuch vollkommen verdient derzeit Rang 4 auf meiner ewigen Bestenliste ein – mit der ausdrücklichen Perspektive, bei der nächsten Stippvisite noch weiter nach oben vorzudringen!

Die derzeit ausgesprochen quirlige Gastroszene der bayrischen Landeshauptstadt lohnt sowieso immer einen Besuch – von der Strahlkraft der unangefochtenen Nummer Eins profitieren natürlich auch andere Zweisterner, doch wäre ein kulinarischer Trip in die Isarmetropole ohne eine Einkehr hier einfach unvollständig – ja nicht verpassen!

======================================================================

„Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ (volkstümliches Sprichwort)

Februar 2022

Kaum eine andere Nachricht hatte die deutsche Gourmetwelt in den letzten Monaten so erschüttert wie Jan Hartwigs Ankündigung, das Atelier verlassen und sich selbständig machen zu wollen. Stand dabei der Wunsch im Raum, es gut 40 Jahre später Eckart Witzigmann nachzumachen?! Damals verließ der österreichische Jahrhundertkoch ja auch 1978 überraschend das Tantris, welches zu seinem kometenhaften Aufstieg beigetragen hatte, und eröffnete anschließend die Aubergine – der Rest der Geschichte ist Legende. Natürlich würde jeder Jan Hartwig dasselbe Maß an Erfolg für die Zukunft wünschen.

Jan Hartwigs Pläne für die nähere Zukunft sehen jedenfalls wie folgt aus: für den Sommer dieses Jahres ist im Rhaetenhaus die Eröffnung des neuen Restaurants JAN geplant, während zur Überbrückung bis dahin erfolgreich ein Pop-up mit demselben Namen auf dem Gelände der bekannten Porzellanmanufaktur im Nymphenburger Schloss initiiert werden konnte. Eben dieses Ziel führt mich vor die Tore Münchens an einem extrem windigen Wintertag, denn überhaupt einen Platz zu bekommen, war schon schwer genug – dass es dann gleich am ersten offiziellen Tag der Eröffnung klappen sollte, machte die ganze Angelegenheit natürlich noch attraktiver.

Meine verfrühte Ankunft bringt mir noch eine Art Privataudienz durch die Verkaufsräume der Manufaktur ein, bei der ich allerhand Wissenswertes über die Tradition der Herstellung und die Historie des Hauses erfahre – all den Glücklichen, die einen Platz ergattern konnten, sei dies durchaus nahegelegt, sich die Geschäftsräume genauer anzusehen. Um 17.30 Uhr (wegen der Corona-Regeln musste damals um 22 Uhr Feierabend sein) ist es dann soweit: eine Servicekraft holt mich ab und geleitet mich einige Meter über das Gelände in das Lokal, das innen relativ schlicht in Weiß, Grau und Petrolgrün gehalten ist. Vieles erinnert in puncto Konzeption an Kevin Fehlings Lokal The Table in der Hamburger Hafencity, wo die Gäste an einem einzigen länglichen, geschwungenen Tisch sitzen und Einblick in die offene Küche genießen. Sieht man einmal davon ab, dass die Besucher hier an separaten Tischen mit geringem Abstand zur offenen Küche sitzen, ist die Ähnlichkeit ziemlich frappierend. Als erfreulichen Umstand nehme ich sofort zur Kenntnis, dass ich von Sommelier Jochen Benz, der mir natürlich noch vom Atelier her bekannt ist, in Empfang genommen werde, während die damalige Servicechefin Barbara Englbrecht ihrem ehemaligen Chef dagegen wohl nicht mehr folgen wird – weder ins Pop-up noch in sein neues Lokal.

Während die letzten Gäste noch eintrudeln, erarbeite ich mir quasi einen kleinen Vorsprung und bekommen recht zügig die ersten zwei Amuses vorgesetzt: zu einem Glas PriSecco Nr. 23 von Jörg Geiger (Rhabarber, Apfel, Blüten) gibt es zunächst Perlgraupen, Kalbskopf, Wachtelei und Schnittlauch. Das ist in Summe ein ganz netter Einstieg mit einigen für Jan Hartwig typischen Produkten, der aber recht harmlos gerät und angesichts der wohl originell gemeinten, aber beim Verzehr eher hinderlichen Schneckenform kein reiner Genuss ist. Außerdem wundere ich mich über die relative Schlichtheit dieser Petitesse, wo doch Jan Hartwig sonst immer für elaborierte und hochkomplexe Konstruktionen bekannt war.

Das nächste Amuse wird vom Service als „Seelenwärmer“ angepriesen, was angesichts des lausigen Wetters tatsächlich angebracht scheint. Insgesamt überzeugt 36 Monate gereifter Gruyère mit Trüffel, Pilzessenz, Marcona Mandeln und Zwiebelhonig mehr als sein Vorgänger. da der schöne Schmelz des Gerichts mit den luxuriösen Pilzen durch die knackigen Mandeln kontrastiert wird. Das hat geschmackliche Tiefe, aber den Erfordernissen eines Dreisterners würden die bisherigen Einstiege wohl nur bedingt gerecht werden. Trotz aller handwerklichen Akkuratesse wirkt auch dieser Gang nicht allzu anspruchsvoll und passt mit meinen bisherigen Eindrücken bei Jan Hartwig im Atelier nicht so recht zusammen. Pflegt man hier neuerdings eine Einfachheit, die stärker auf Produkte fokussiert?!

Die Brotauswahl setzt nahtlos da an, wo man zuvor aufgehört hatte. Von der Opulenz früherer Tage keine Spur – fraglos ist das hausgemachte Sauerteigbrot und die Butter dazu erstklassig. Dennoch ist die Präsentation derart profan, dass ich mir bewusst das Foto spare und wehmütig an die Zeiten zurückdenke, als selbst die Brotauswahl mit ihren grandiosen Aufstrichen immer regelrecht zelebriert wurde. Stattdessen setzt man jetzt beim Brot eher auf eine Stilistik à la Tantris, wo der kargen Selektion ebenfalls keine besondere Bedeutung beigemessen wird.

Fraglos fehlt es dem umtriebigen Chef durchaus nicht an Enthusiasmus, zumal er nicht selten persönlich am Tisch aufkreuzt und die Gerichte teils selbst erläutert. Dessen ungeachtet drängt sich mir schon frühzeitig an diesem Abend der Eindruck auf, dass sich in Jan Hartwigs Pause seit Juli 2021 einiges getan zu haben scheint – fragwürdig allerdings, ob zum Besseren hin. Nun ja, als nächstes sollte auf mich ein Highlight des Abends warten: die kurz geflämmte Makrele verströmt einen salzigen, doch zugleich ungemein buttrigen Geschmack und hat so gar nichts von dem bisweilen aufdringlichen Aroma dieses Fischs. Die großzügige Nocke an N25-Kaviar obenauf nimmt man natürlich gerne zur Kenntnis, zumal sie die Dramaturgie des Gerichts ausgezeichnet unterstreicht, doch der eigentliche Clou ist die mit Schnittlauch verfeinerte Dashi Beurre Blanc, die angesichts ihrer aromatischen und für Hartwig höchst typischen Wucht den meisten Arbeitsaufwand verursacht haben dürfte. Alles in allem ein exzellentes Gericht, nur recht untypisch für genau diesen Koch.

Das neue Logo des Lokals wird im nächsten Gang gar wie ein Stempel dem Hauptdarsteller aufgedrückt: eine ausgesprochen cremige und sehr komplexe Tellersülze von Räucheraal und anderen Salzwasserfischen erfährt eine abermalige Verfeinerung durch etwas Wurzelgemüse, während sie gekonnt von Gelée von roter Bete, säuerlicher Meerrettich-Molke und etwas Dill umspielt wird. Es ist durchaus faszinierend zu erleben, wie gekonnt hier eine bemerkenswerte Balance zwischen rustikalen und hocheleganten Elementen geschaffen wird, doch trotz aller Großartigkeit bei der Umsetzung wundere ich mich abermals, ausgerechnet von Jan Hartwig einen derart puristischen Teller vorgesetzt zu bekommen.

Die größte Ähnlichkeit mit der gewohnten und liebgewonnenen Stilistik früherer Jahre gibt es im dritten Gang zu erleben, der stark auf den kühnen Sud fokussiert ist. Freilich gelingt die mit Rettich ummantelte soufflierte Lachsforelle mit Hechtfarce obenauf ganz hervorragend, zumal die mürbe Konsistenz und der buttrige Geschmack voll zu überzeugen wissen und auch heimischen Produkten scheinbar mühelos eine Bühne von großer Ausdruckskraft entlockt wird. Dennoch wäre dieser Gang ungleich ärmer ohne den Algensud, der unglaublich komplex und körperbetont gerät, aber dabei sehr transparent umgesetzt wird. Mit etwas Saiblingsrogen, Bergamotte und Fingerlimes veredelt die Küche diesen Sud zu einem wahren Meisterwerk. Trotz eines hohen Maßes an Salinität bei den bisherigen Gängen vermag auch dieser Beitrag zu beglücken – wenn auch auf eine eher stille und damit ungewohnte Weise. Ganz klar der Höhepunkt des Abends!

Taube an der Karkasse gegrillt mit schwarzem Trüffel, Erdartischocke und Chicorée entpuppt sich letztlich als ein Wohlfühlgericht, dem eine eher simpel gestrickte Konzeption zugrunde liegt. Eine ordentliche Trüffeljus bildet das Fundament für ein Gericht, das seinen Reiz hauptsächlich aus der geschmacklichen Tiefe und der sorgsamen Detailarbeit bei den Begleitern bezieht. Dennoch würde ich Klaus Erforts Beitrag vom Sommer des letzten Jahres zum Vergleich heranziehen wollen und dann feststellen, dass dem vorliegenden Teller die ganz große Raffinesse dann doch ein wenig fehlt. Für Neulinge der Szene toppt dieser Teller selbstverständlich locker immer noch alles Bisherige in ihrem Erfahrungsschatz, doch gemessen an den eigenen Ansprüchen des Chefs wurde die Intensität hier etwas zurückgenommen, so dass sich höchste Meisterschaft diesmal zwar nicht als absolut notwendig erwies, aber von Stammgästen wohl dennoch vermisst wurde. Von den bis ins kleinste Detail durchdachten Aromenwunder früherer Tage entfernte sich dieser Teller dann doch spürbar – sicherlich eine bewusste, aber dennoch fragwürdige Entscheidung. Die Handschrift des Jan Hartwig empfand ich bislang als besonders ausgeprägt unter den aktuellen Drei-Sterne-Chefs in Deutschland, doch allzu viel war an diesem Abend nicht davon übrig geblieben – und es sollte noch krasser kommen …

Natürlich stellte die bis hier dargebotene Küchenleistung eine mehr als vorzeigbare Visitenkarte dar, doch wirkte sie eben recht konform im Alltag der Hochküche, während der Verzicht auf Hartwig’sche Klassiker wie beispielsweise Kalbsbries in absurd anmutenden Kombinationen fast ein wenig Wehmut im mir aufkommen ließ. Wie zur Bestätigung kommt als nächstes ein Käsegang, der in dieser Form für mich zu Zeiten des Atelier einfach undenkbar gewesen wäre. Mit blumigen Worten zelebriert der Service den Hauptdarsteller des nächsten Gangs: den im Allgäu produzierten Käse Chiriboga, der von dem Ecuadorianer Arturo Chiriboga in Eberbach hergestellt wird. Dabei wird der edle Blauschimmelkäse auf dünnen Scheiben von Birne platziert und mit einem Gelée von Beerenauslese und marinierten Birnen bedeckt. Dieser auf die Spitze getriebene, asketische Purismus steht der gewohnten Ästhetik diametral gegenüber – so sehr, dass es mir schwer fällt, die ganz große Kunst dahinter zu erkennen. Trotz der fraglos überragenden Produktqualität gerät der Gang rasch eindimensional und wirkt auf mich so, dass ein ambitionierter Amateur durchaus in der Lage sein sollte, ein vergleichbares Ergebnis abzuliefern. Ich kann mich täuschen, aber spätestens mit diesem Gang wurde der ausgetretene Pfad zugunsten eines Irrwegs verlassen, der mich fast schon entsetzte. So ein Käsegang entspricht ganz einfach nicht meiner Erwartungshaltung, wenn ich bei Jan Hartwig einkehre.

Auch das Dessert hat mit der filigranen Komplexität früherer Beiträge praktisch nichts mehr gemeinsam. Bio Honduras Schokolade 74% mit Salzkaramell und Crème Chantilly Eis ist in puncto Präsentation derart schlicht, dass die eingesetzten Produkte schon eine überaus große Klasse aufweisen müssen, um dieses Menetekel aufzufangen. Das ist zwar der Fall, aber dennoch macht mich der niedrige Anspruch dieses simplen Desserts ziemlich ratlos. Was genau wollte der Chef mit diesem Ausklang genau beweisen – und hätten andere, weniger talentierte Chefs wirklich so große Mühe gehabt, ein gleichwertiges Ergebnis abzuliefern?!

Auch die launigen Ausklänge früherer Tage gehören offenbar der Vergangenheit an: Crème brûlée aus Madagaskar-Vanille, Pâte de fruit und Bailey’s Trüffel schmecken natürlich ausgezeichnet, entbehren aber komplett der ausgelassenen Vielfalt früherer Darbietungen, als die Pâtisserie des öfteren zu den besten von ganz Deutschland gezählt wurde.

Zwei Dinge beschäftigten mich noch lange nach diesem Besuch: da wäre zum einen der aufgerufene Preis von € 289 für diese Menüfolge, der (bei moderaten Nebenkosten) schon fragwürdig hoch geriet. Dass die subventionierende Finanzkraft des Bayrischen Hofs nicht mehr unterstützend im Hintergrund agiert und dass sich die Betreiber der Manufaktur die Bereitstellung dieser temporären Location entsprechend löhnen lassen, ist vollkommen logisch. Dass die überwiegende Mehrzahl der Gäste diesen Betrag auch ohne mit der Wimper zu zucken stemmen kann, überrascht ebenfalls nicht sonderlich. Dennoch war der Inhalt dieser Menüfolge gerade im Vergleich zu früheren, weitaus opulenteren Zeiten teils fast schon als karg zu bezeichnen.

Eng damit verbunden ist auch die zweite, weitaus größere Sorge: die Frage nach dem für meine Begriffe dubiosen Weg, der hier eingeschlagen wurde. Zweifellos hatte ich ein streckenweise ausgezeichnetes Menü vorgesetzt bekommen, doch hätte ich bei einer Blindverkostung sicherlich so ziemlich als letztes auf Jan Hartwig als Koch getippt. Die starke Fokussierung auf die Produkte und deren teils recht puristische Präsentation irritieren mich insofern, da Jan Hartwigs bisheriger (und unverwechselbarer) Stil eigentlich immer dadurch gekennzeichnet war, dass er auf unnachahmliche Weise hochkomplexe Gerichte mit ausgeklügelter und dichter Aromatik schuf. Natürlich beherrscht ein so talentierter Koch wie Jan Hartwig fraglos auch die leiseren Töne, doch die derzeitige, offenkundige Abkehr von der früheren Stilistik empfinde ich nicht nur als herben Verlust für die Gourmetwelt, sondern als regelrechten Fehltritt. Noch hege ich die Hoffnung, dass dies möglicherweise auf die konkreten äußeren Umstände im aktuellen Pop-up zurückzuführen ist, denn in dieser für Jan Hartwig doch eher artfremden Stilistik haben andere derzeit deutlicher die Nase vorn. Jedenfalls habe ich früher regelmäßig bei Jan Hartwig vorbeigeschaut und mich stets auf die hochkomplexen und kompakten Aromenwunder gefreut, die seinen Stil so unverwechselbar hatten erscheinen lassen. Davon war diesmal leider nicht viel übrig geblieben – hoffentlich kommt die Einsicht wieder zurück, wenn das Lokal im Sommer dann im Rhaetenhaus eröffnet.

Da dieses Pop-up bis Ostern wahrscheinlich schon wieder Geschichte ist und Plätze ohnehin nur noch über die Warteliste zu haben sind, ist der Wert der aktuellen Rezension hauptsächlich darin zu sehen, wie sich Jan Hartwig weiter entwickelt (oder eben nicht …). Die derzeitige Abkehr von dem, was seine Hochküche stets ausgezeichnet hat, ist hoffentlich nur temporärer Natur, da es schwer vorstellbar ist, dass das gesamte Potential auf diesem Gebiet schon ausgeschöpft gewesen wäre. Wer das Risiko einer Reservierung auf der Warteliste in Kauf nehmen möchte, darf dies natürlich gerne tun und sich selbst ein Bild machen. Erwartbarerweise würde es vermutlich dieselbe oder eine sehr ähnliche Menüfolge geben, da eine Öffnungsdauer von gerade einmal zehn Wochen keine großen Sprünge zulässt.

Natürlich werde ich auch der neuen Location im Rhaetenhaus, wenn es dann soweit ist, eine Stippvisite abstatten. Eng damit verbunden ist der Wunsch, dass die offensichtliche Findungsphase des Chefs bis dahin abgeschlossen sein möge und die Erkenntnis obsiegt, dass nicht alle Neuerungen notwendigerweise mit echten Verbesserungen einhergehen müssen. Ich hoffe jedenfalls das Beste und würde mich über kaum etwas mehr freuen als den „alten“ Jan Hartwig wieder in vollen Zügen genießen zu dürfen!

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

JAN (Pop-up im Schloss Nymphenburg)
Nördliches Schlossrondell 6
80638 München
Tel.: 089/17919766
www.nymphenburg.com/pages/restaurant-jan

Guide Michelin 2021: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: –
FEINSCHMECKER 2021: –

10-gängiges Menü: € 289