Anmerkung: das Pop-up im Schloss Nymphenburg ist Geschichte, denn Jan Hartwig hat inzwischen sein neues Stammlokal in der Münchner City eröffnet.
„Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ (volkstümliches Sprichwort)
Februar 2022
Kaum eine andere Nachricht hatte die deutsche Gourmetwelt in den letzten Monaten so erschüttert wie Jan Hartwigs Ankündigung, das Atelier verlassen und sich selbständig machen zu wollen. Stand dabei der Wunsch im Raum, es gut 40 Jahre später Eckart Witzigmann nachzumachen?! Damals verließ der österreichische Jahrhundertkoch ja auch 1978 überraschend das Tantris, welches zu seinem kometenhaften Aufstieg beigetragen hatte, und eröffnete anschließend die Aubergine – der Rest der Geschichte ist Legende. Natürlich würde jeder Jan Hartwig dasselbe Maß an Erfolg für die Zukunft wünschen.
Jan Hartwigs Pläne für die nähere Zukunft sehen jedenfalls wie folgt aus: für den Sommer dieses Jahres ist im Rhaetenhaus die Eröffnung des neuen Restaurants JAN geplant, während zur Überbrückung bis dahin erfolgreich ein Pop-up mit demselben Namen auf dem Gelände der bekannten Porzellanmanufaktur im Nymphenburger Schloss initiiert werden konnte. Eben dieses Ziel führt mich vor die Tore Münchens an einem extrem windigen Wintertag, denn überhaupt einen Platz zu bekommen, war schon schwer genug – dass es dann gleich am ersten offiziellen Tag der Eröffnung klappen sollte, machte die ganze Angelegenheit natürlich noch attraktiver.
Meine verfrühte Ankunft bringt mir noch eine Art Privataudienz durch die Verkaufsräume der Manufaktur ein, bei der ich allerhand Wissenswertes über die Tradition der Herstellung und die Historie des Hauses erfahre – all den Glücklichen, die einen Platz ergattern konnten, sei dies durchaus nahegelegt, sich die Geschäftsräume genauer anzusehen. Um 17.30 Uhr (wegen der Corona-Regeln musste damals um 22 Uhr Feierabend sein) ist es dann soweit: eine Servicekraft holt mich ab und geleitet mich einige Meter über das Gelände in das Lokal, das innen relativ schlicht in Weiß, Grau und Petrolgrün gehalten ist. Vieles erinnert in puncto Konzeption an Kevin Fehlings Lokal The Table in der Hamburger Hafencity, wo die Gäste an einem einzigen länglichen, geschwungenen Tisch sitzen und Einblick in die offene Küche genießen. Sieht man einmal davon ab, dass die Besucher hier an separaten Tischen mit geringem Abstand zur offenen Küche sitzen, ist die Ähnlichkeit ziemlich frappierend. Als erfreulichen Umstand nehme ich sofort zur Kenntnis, dass ich von Sommelier Jochen Benz, der mir natürlich noch vom Atelier her bekannt ist, in Empfang genommen werde, während die damalige Servicechefin Barbara Englbrecht ihrem ehemaligen Chef dagegen wohl nicht mehr folgen wird – weder ins Pop-up noch in sein neues Lokal.
Während die letzten Gäste noch eintrudeln, erarbeite ich mir quasi einen kleinen Vorsprung und bekommen recht zügig die ersten zwei Amuses vorgesetzt: zu einem Glas PriSecco Nr. 23 von Jörg Geiger (Rhabarber, Apfel, Blüten) gibt es zunächst Perlgraupen, Kalbskopf, Wachtelei und Schnittlauch. Das ist in Summe ein ganz netter Einstieg mit einigen für Jan Hartwig typischen Produkten, der aber recht harmlos gerät und angesichts der wohl originell gemeinten, aber beim Verzehr eher hinderlichen Schneckenform kein reiner Genuss ist. Außerdem wundere ich mich über die relative Schlichtheit dieser Petitesse, wo doch Jan Hartwig sonst immer für elaborierte und hochkomplexe Konstruktionen bekannt war.
Das nächste Amuse wird vom Service als „Seelenwärmer“ angepriesen, was angesichts des lausigen Wetters tatsächlich angebracht scheint. Insgesamt überzeugt 36 Monate gereifter Gruyère mit Trüffel, Pilzessenz, Marcona Mandeln und Zwiebelhonig mehr als sein Vorgänger. da der schöne Schmelz des Gerichts mit den luxuriösen Pilzen durch die knackigen Mandeln kontrastiert wird. Das hat geschmackliche Tiefe, aber den Erfordernissen eines Dreisterners würden die bisherigen Einstiege wohl nur bedingt gerecht werden. Trotz aller handwerklichen Akkuratesse wirkt auch dieser Gang nicht allzu anspruchsvoll und passt mit meinen bisherigen Eindrücken bei Jan Hartwig im Atelier nicht so recht zusammen. Pflegt man hier neuerdings eine Einfachheit, die stärker auf Produkte fokussiert?!
Die Brotauswahl setzt nahtlos da an, wo man zuvor aufgehört hatte. Von der Opulenz früherer Tage keine Spur – fraglos ist das hausgemachte Sauerteigbrot und die Butter dazu erstklassig. Dennoch ist die Präsentation derart profan, dass ich mir bewusst das Foto spare und wehmütig an die Zeiten zurückdenke, als selbst die Brotauswahl mit ihren grandiosen Aufstrichen immer regelrecht zelebriert wurde. Stattdessen setzt man jetzt beim Brot eher auf eine Stilistik à la Tantris, wo der kargen Selektion ebenfalls keine besondere Bedeutung beigemessen wird.
Fraglos fehlt es dem umtriebigen Chef durchaus nicht an Enthusiasmus, zumal er nicht selten persönlich am Tisch aufkreuzt und die Gerichte teils selbst erläutert. Dessen ungeachtet drängt sich mir schon frühzeitig an diesem Abend der Eindruck auf, dass sich in Jan Hartwigs Pause seit Juli 2021 einiges getan zu haben scheint – fragwürdig allerdings, ob zum Besseren hin. Nun ja, als nächstes sollte auf mich ein Highlight des Abends warten: die kurz geflämmte Makrele verströmt einen salzigen, doch zugleich ungemein buttrigen Geschmack und hat so gar nichts von dem bisweilen aufdringlichen Aroma dieses Fischs. Die großzügige Nocke an N25-Kaviar obenauf nimmt man natürlich gerne zur Kenntnis, zumal sie die Dramaturgie des Gerichts ausgezeichnet unterstreicht, doch der eigentliche Clou ist die mit Schnittlauch verfeinerte Dashi Beurre Blanc, die angesichts ihrer aromatischen und für Hartwig höchst typischen Wucht den meisten Arbeitsaufwand verursacht haben dürfte. Alles in allem ein exzellentes Gericht, nur recht untypisch für genau diesen Koch.
Das neue Logo des Lokals wird im nächsten Gang gar wie ein Stempel dem Hauptdarsteller aufgedrückt: eine ausgesprochen cremige und sehr komplexe Tellersülze von Räucheraal und anderen Salzwasserfischen erfährt eine abermalige Verfeinerung durch etwas Wurzelgemüse, während sie gekonnt von Gelée von roter Bete, säuerlicher Meerrettich-Molke und etwas Dill umspielt wird. Es ist durchaus faszinierend zu erleben, wie gekonnt hier eine bemerkenswerte Balance zwischen rustikalen und hocheleganten Elementen geschaffen wird, doch trotz aller Großartigkeit bei der Umsetzung wundere ich mich abermals, ausgerechnet von Jan Hartwig einen derart puristischen Teller vorgesetzt zu bekommen.
Die größte Ähnlichkeit mit der gewohnten und liebgewonnenen Stilistik früherer Jahre gibt es im dritten Gang zu erleben, der stark auf den kühnen Sud fokussiert ist. Freilich gelingt die mit Rettich ummantelte soufflierte Lachsforelle mit Hechtfarce obenauf ganz hervorragend, zumal die mürbe Konsistenz und der buttrige Geschmack voll zu überzeugen wissen und auch heimischen Produkten scheinbar mühelos eine Bühne von großer Ausdruckskraft entlockt wird. Dennoch wäre dieser Gang ungleich ärmer ohne den Algensud, der unglaublich komplex und körperbetont gerät, aber dabei sehr transparent umgesetzt wird. Mit etwas Saiblingsrogen, Bergamotte und Fingerlimes veredelt die Küche diesen Sud zu einem wahren Meisterwerk. Trotz eines hohen Maßes an Salinität bei den bisherigen Gängen vermag auch dieser Beitrag zu beglücken – wenn auch auf eine eher stille und damit ungewohnte Weise. Ganz klar der Höhepunkt des Abends!
Taube an der Karkasse gegrillt mit schwarzem Trüffel, Erdartischocke und Chicorée entpuppt sich letztlich als ein Wohlfühlgericht, dem eine eher simpel gestrickte Konzeption zugrunde liegt. Eine ordentliche Trüffeljus bildet das Fundament für ein Gericht, das seinen Reiz hauptsächlich aus der geschmacklichen Tiefe und der sorgsamen Detailarbeit bei den Begleitern bezieht. Dennoch würde ich Klaus Erforts Beitrag vom Sommer des letzten Jahres zum Vergleich heranziehen wollen und dann feststellen, dass dem vorliegenden Teller die ganz große Raffinesse dann doch ein wenig fehlt. Für Neulinge der Szene toppt dieser Teller selbstverständlich locker immer noch alles Bisherige in ihrem Erfahrungsschatz, doch gemessen an den eigenen Ansprüchen des Chefs wurde die Intensität hier etwas zurückgenommen, so dass sich höchste Meisterschaft diesmal zwar nicht als absolut notwendig erwies, aber von Stammgästen wohl dennoch vermisst wurde. Von den bis ins kleinste Detail durchdachten Aromenwunder früherer Tage entfernte sich dieser Teller dann doch spürbar – sicherlich eine bewusste, aber dennoch fragwürdige Entscheidung. Die Handschrift des Jan Hartwig empfand ich bislang als besonders ausgeprägt unter den aktuellen Drei-Sterne-Chefs in Deutschland, doch allzu viel war an diesem Abend nicht davon übrig geblieben – und es sollte noch krasser kommen …
Natürlich stellte die bis hier dargebotene Küchenleistung eine mehr als vorzeigbare Visitenkarte dar, doch wirkte sie eben recht konform im Alltag der Hochküche, während der Verzicht auf Hartwig’sche Klassiker wie beispielsweise Kalbsbries in absurd anmutenden Kombinationen fast ein wenig Wehmut im mir aufkommen ließ. Wie zur Bestätigung kommt als nächstes ein Käsegang, der in dieser Form für mich zu Zeiten des Atelier einfach undenkbar gewesen wäre. Mit blumigen Worten zelebriert der Service den Hauptdarsteller des nächsten Gangs: den im Allgäu produzierten Käse Chiriboga, der von dem Ecuadorianer Arturo Chiriboga in Eberbach hergestellt wird. Dabei wird der edle Blauschimmelkäse auf dünnen Scheiben von Birne platziert und mit einem Gelée von Beerenauslese und marinierten Birnen bedeckt. Dieser auf die Spitze getriebene, asketische Purismus steht der gewohnten Ästhetik diametral gegenüber – so sehr, dass es mir schwer fällt, die ganz große Kunst dahinter zu erkennen. Trotz der fraglos überragenden Produktqualität gerät der Gang rasch eindimensional und wirkt auf mich so, dass ein ambitionierter Amateur durchaus in der Lage sein sollte, ein vergleichbares Ergebnis abzuliefern. Ich kann mich täuschen, aber spätestens mit diesem Gang wurde der ausgetretene Pfad zugunsten eines Irrwegs verlassen, der mich fast schon entsetzte. So ein Käsegang entspricht ganz einfach nicht meiner Erwartungshaltung, wenn ich bei Jan Hartwig einkehre.
Auch das Dessert hat mit der filigranen Komplexität früherer Beiträge praktisch nichts mehr gemeinsam. Bio Honduras Schokolade 74% mit Salzkaramell und Crème Chantilly Eis ist in puncto Präsentation derart schlicht, dass die eingesetzten Produkte schon eine überaus große Klasse aufweisen müssen, um dieses Menetekel aufzufangen. Das ist zwar der Fall, aber dennoch macht mich der niedrige Anspruch dieses simplen Desserts ziemlich ratlos. Was genau wollte der Chef mit diesem Ausklang genau beweisen – und hätten andere, weniger talentierte Chefs wirklich so große Mühe gehabt, ein gleichwertiges Ergebnis abzuliefern?!
Auch die launigen Ausklänge früherer Tage gehören offenbar der Vergangenheit an: Crème brûlée aus Madagaskar-Vanille, Pâte de fruit und Bailey’s Trüffel schmecken natürlich ausgezeichnet, entbehren aber komplett der ausgelassenen Vielfalt früherer Darbietungen, als die Pâtisserie des öfteren zu den besten von ganz Deutschland gezählt wurde.
Zwei Dinge beschäftigten mich noch lange nach diesem Besuch: da wäre zum einen der aufgerufene Preis von € 289 für diese Menüfolge, der (bei moderaten Nebenkosten) schon fragwürdig hoch geriet. Dass die subventionierende Finanzkraft des Bayrischen Hofs nicht mehr unterstützend im Hintergrund agiert und dass sich die Betreiber der Manufaktur die Bereitstellung dieser temporären Location entsprechend löhnen lassen, ist vollkommen logisch. Dass die überwiegende Mehrzahl der Gäste diesen Betrag auch ohne mit der Wimper zu zucken stemmen kann, überrascht ebenfalls nicht sonderlich. Dennoch war der Inhalt dieser Menüfolge gerade im Vergleich zu früheren, weitaus opulenteren Zeiten teils fast schon als karg zu bezeichnen.
Eng damit verbunden ist auch die zweite, weitaus größere Sorge: die Frage nach dem für meine Begriffe dubiosen Weg, der hier eingeschlagen wurde. Zweifellos hatte ich ein streckenweise ausgezeichnetes Menü vorgesetzt bekommen, doch hätte ich bei einer Blindverkostung sicherlich so ziemlich als letztes auf Jan Hartwig als Koch getippt. Die starke Fokussierung auf die Produkte und deren teils recht puristische Präsentation irritieren mich insofern, da Jan Hartwigs bisheriger (und unverwechselbarer) Stil eigentlich immer dadurch gekennzeichnet war, dass er auf unnachahmliche Weise hochkomplexe Gerichte mit ausgeklügelter und dichter Aromatik schuf. Natürlich beherrscht ein so talentierter Koch wie Jan Hartwig fraglos auch die leiseren Töne, doch die derzeitige, offenkundige Abkehr von der früheren Stilistik empfinde ich nicht nur als herben Verlust für die Gourmetwelt, sondern als regelrechten Fehltritt. Noch hege ich die Hoffnung, dass dies möglicherweise auf die konkreten äußeren Umstände im aktuellen Pop-up zurückzuführen ist, denn in dieser für Jan Hartwig doch eher artfremden Stilistik haben andere derzeit deutlicher die Nase vorn. Jedenfalls habe ich früher regelmäßig bei Jan Hartwig vorbeigeschaut und mich stets auf die hochkomplexen und kompakten Aromenwunder gefreut, die seinen Stil so unverwechselbar hatten erscheinen lassen. Davon war diesmal leider nicht viel übrig geblieben – hoffentlich kommt die Einsicht wieder zurück, wenn das Lokal im Sommer dann im Rhaetenhaus eröffnet.
Da dieses Pop-up bis Ostern wahrscheinlich schon wieder Geschichte ist und Plätze ohnehin nur noch über die Warteliste zu haben sind, ist der Wert der aktuellen Rezension hauptsächlich darin zu sehen, wie sich Jan Hartwig weiter entwickelt (oder eben nicht …). Die derzeitige Abkehr von dem, was seine Hochküche stets ausgezeichnet hat, ist hoffentlich nur temporärer Natur, da es schwer vorstellbar ist, dass das gesamte Potential auf diesem Gebiet schon ausgeschöpft gewesen wäre. Wer das Risiko einer Reservierung auf der Warteliste in Kauf nehmen möchte, darf dies natürlich gerne tun und sich selbst ein Bild machen. Erwartbarerweise würde es vermutlich dieselbe oder eine sehr ähnliche Menüfolge geben, da eine Öffnungsdauer von gerade einmal zehn Wochen keine großen Sprünge zulässt.
Natürlich werde ich auch der neuen Location im Rhaetenhaus, wenn es dann soweit ist, eine Stippvisite abstatten. Eng damit verbunden ist der Wunsch, dass die offensichtliche Findungsphase des Chefs bis dahin abgeschlossen sein möge und die Erkenntnis obsiegt, dass nicht alle Neuerungen notwendigerweise mit echten Verbesserungen einhergehen müssen. Ich hoffe jedenfalls das Beste und würde mich über kaum etwas mehr freuen als den „alten“ Jan Hartwig wieder in vollen Zügen genießen zu dürfen!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
JAN (Pop-up im Schloss Nymphenburg)
Nördliches Schlossrondell 6
80638 München
Tel.: 089/17919766
www.nymphenburg.com/pages/restaurant-jan
Guide Michelin 2021: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: –
FEINSCHMECKER 2021: –
10-gängiges Menü: € 289