„Der Anstand, das rücksichtsvolle Benehmen und die feine Lebensart von Leuten beiderlei Geschlechts geben mir keine schlechte Meinung von dem, was man die gute alte Zeit nennt.“ (Jean de la Bruyère)
September 2023
Nimmt man die gesamte, überaus beachtliche Lebensleistung als Maßstab, so muss Jörg Müller fraglos als der bedeutendste Spitzenkoch Sylts gelten, selbst wenn andere Lokale wie der Söl’ring Hof oder das Bodendorf’s heute höhere Auszeichungen tragen – dessen ungeachtet ist der inzwischen 76-jährige Chef aus mehreren Gründen eine echte Institution auf der Insel.
Der ursprünglich aus dem Badischen stammende Vollblutgastronom blickt auf ein an Erfahrungen ausgesprochen reiches Berufsleben zurück, zumal sein jüngerer Bruder Dieter Müller denselben Berufsweg einschlug und so viele heutige Sterneköche in Deutschland ausbildete wie sonst nur Harald Wohlfahrt, Heinz Winkler oder Eckart Witzigmann. Die drei Sterne, welche Dieter Müller mit dem Schloss Lerbach zu Beginn des Jahrtausends erlangte, waren dem älteren Bruder zwar nie vergönnt, doch beim Gault&Millau fand Jörg Müller im Zenit seines Schaffens dieselbe Anerkennung wie der noch prominentere Spross der Familie.
Nach Ende der Lehrzeit im Markgräflerland kochte Jörg Müller im mondänen St. Moritz, übernahm aber schon bald nach seiner Abwerbung den Posten des Chefkochs in einem Lokal, das nicht zuletzt dank der Verdienste der Müller-Brüder später zu einem der berühmtesten Restaurants der Republik aufsteigen sollte: die seit mehr als zwanzig Jahren geschlossenen Schweizer Stuben in Wertheim-Bettingen. 1982 verließ Jörg Müller diesen Posten und übergab seinem Bruder den Kochlöffel, um sich auf Sylt neu auszurichten – eine Entscheidung, mit der laut Jan-Philipp Berner die Hochküche auf die Insel kam, welche bis heute davon profitiert. Jörg Müller führte schon bald sein neues Restaurant Nösse, welches in exponierter Alleinlage auf dem Morsum-Kliff thronte und heute der Hotelgruppe Severin’s gehört, erneut zu zwei Michelin-Sternen und stellte fortan das Maß aller Dinge auf der Insel dar. Die exponierte Lage führte aber gerade in der dunklen Jahreszeit öfters zu Schäden am Gebäude oder ausbleibenden Gästen, deren Anreise wegen widriger Witterung unmöglich geworden war. Selbst heute noch erzählt mir der Chef am Ende meines Besuches mit leichter Bitterkeit von einer Festivität an Silvester im Nösse, die fast komplett ins Wasser fiel, weil das unterirdische Wetter die Anreise von nur einem Drittel der Gäste möglich gemacht hatte und dem Lokal ein immenser finanzieller Schaden entstand.
All diese Faktoren bewogen den Chef daher schon bald, nach einem günstiger gelegenen Etablissement Ausschau zu halten: das Ergebnis der Suche war das Landhaus samt angeschlossenem Gasthof, das schon bald seinen Namen tragen sollte und welches der leidenschaftliche Gastgeber auch heute noch betreibt. Es liegt keine zehn Gehminuten vom Bahnhof in Westerland entfernt und kann daher auch ohne größere Umwege vom Festland aus erreicht werden. Einen zweiten Michelin-Stern erhielt Jörg Müller hier zwar nicht mehr, aber im Gault&Millau reichte es über viele Jahre hinweg immer noch für die zweit- oder dritthöchste Note. Im Jahre 2014 schließlich wollte der inzwischen zum Mittsechziger avancierte Chef auch seiner Frau zuliebe kürzer treten und gab in einem konsequenten Schritt bekannt, fortan auf alle Auszeichnungen verzichten zu wollen. Heute, knapp zehn Jahre später, ist ihm die Lust an der Gastronomie offenbar trotz allem noch nicht vergangen. So konnte er eine treue Gruppe an langjährigen Stammgästen um sich scharen, die sein Lokal bis zum heutigen Tag regelmäßig frequentieren. Höchste Zeit also für mich, mir ein eigenes Bild von dieser Institution zu verschaffen, deren Glanzzeiten natürlich eine Weile zurückliegen, die aber allem Anschein nach immer noch genügend Gäste generiert, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Von Jörg Müller persönlich wusste ich bis zu meinem Besuch allerdings nicht sehr viel, was fraglos einen weiteren Grund darstellte, eine Stippvisite einzuplanen.
Es ist Anfang September, und die Insel zeigt sich in einem spätsommerlichen Kleid. Einen Tagesausflug auf die Hallig Hooge nach der Rückkehr abends mit einem Besuch im JM zu krönen schien mir eine gute Idee zu sein – jetzt muss diese nur noch halten, was sie verspricht!
Das zur blauen Stunde besonders ansprechend illuminierte Backsteinhaus mit dem Reetdach verströmt innen eine durch und durch, sich am Rande der Überfrachtung bewegende maritime Atmosphäre, die in erster Linie durch weiß-blaue Farben, zahlreiche Bilder und diverse Modellschiffe erzeugt wird – ein auffälliger Kontrast zu dem heute eher beliebten Minimalismus in so vielen Lokalen. Das Treiben im Restaurant ist schon bei meiner Auskunft recht ausgelassen, die Stimmung gut; das Publikum, das beide Gasträume fast komplett ausfüllt, besteht allerdings zu einem guten Teil aus schon etwas betagteren Gästen. Nach meiner Ankunft geleitet man mich ohne Umschweife an meinen Platz und reicht sodann die Speisekarte, die zu meiner nicht geringen Überraschung weder mit der Karte im Aushang am Lokal noch mit der im Internet veröffentlichten Version identisch ist – ein seltsamer Umstand. Außerdem entnehme ich dem Menü, dass hier im September ein Gericht mit grünem Spargel offeriert wird, was für mich angesichts der Jahreszeit überhaupt nicht infrage kommt. Diverse Hauptgerichte kosten hier auch ohne fehlenden Stern zum Teil dennoch über € 70, was mal eine Ansage darstellt! Leider ist auch der bestellte alkoholfreie Apfelsekt „Frizzante“ aus dem Hause Raumland schon ziemlich abgestanden, so dass die ersten Eindrücke in Summe durchaus eindringlicher hätten sein können.
Es wird vorerst nicht nennenswert besser, denn der Service agiert eher unpersönlich und wirkt auf mich auch nicht übermäßig kompetent. Außerdem reicht man keine Amuses, sondern stattdessen eine Auswahl an Gemüsesticks samt Dip, was natürlich gesund gerät, aber reichlich einfallslos und erzkonservativ wirkt – ich komme mir anfangs wie auf einer 80er-Jahre-Party vor. Offenbar ging mit dem Verzicht auf die Auszeichnungen auch der Wunsch einher, neben dem Menü nicht allzu viel an aufwendigen Extras auffahren zu wollen. Natürlich muss Jörg Müller niemandem mehr etwas beweisen, aber anders als damit, dass das Publikum sich mit so etwas zufrieden gibt und man die Erwartungshaltung der konservativen Klientel bedient, kann ich mir einen derart banalen Auftakt in einem solchen Lokal nicht erklären. Ich hoffe auf Besserung im Laufe des dreigängigen Menüs, das ich zum Preis von € 96 bestelle. Bei den Getränken ist zumindest ein gewöhnliches Preis-Leistungs-Verhältnis auszumachen, wobei die umfängliche Weinkarte, die mit allerlei Pretiosen bestückt ist, eine gesonderte Erwähnung verdient und maßgeblichen Anteil am Zustrom der betuchten Gäste hat.
Der erste Gang bringt eine Prüfung mit sich wie sie kaum klassischer sein könnte: Beeftatar mit Reibekuchen und Crème fraîche wird im Prinzip genau so altmeisterlich auf den Teller gebracht wie man es vor mehreren Jahrzehnten schon getan hätte: korrektes Handwerk, mustergültige Produktqualität beim Tatar und klassische Proportionen einerseits, aber andererseits keinerlei Bekenntnis zum Zeitgeist, ohne nennenswertes Risiko in Szene gesetzt und in Summe erwartbar bieder. Vermutlich musste man einfach von vornherein mit einer praktisch überraschungsfreien Variante aus einer anderen Zeit rechnen – wenn man mit dieser bescheidenen Maxime herangeht, dann schneidet dieser Teller auch keineswegs schlecht ab, wenngleich die Rösti ein paar Grad wärmer hätten geraten dürfen. Es ist fraglos Jörg Müllers gutes Recht, so zu kochen wie er es immer getan hat – und dennoch haben Köche wie Josef Bauer (Landgasthof Adler in Rosenberg) oder Jean-Claude Bourgueil (Im Schiffchen, Düsseldorf) auch jenseits der 70 Jahre demonstriert, dass auch in diesem Alter mehr Esprit keineswegs ausgeschlossen sein muss.
Kommen wir zum Hauptgang: nach den bisherigen Eindrücken hatte ich nicht mehr ernsthaft mit einer Wendung der Geschehnisse gerechnet, doch mit diesem unerwarteten Teller vollzog sich in mir ein spürbarer Wandel: dieser Umstand war weniger auf die schon deutlich inspirierter wirkende Begleitung aus Kartoffelstampf mit Zitronen-Kapern-Fond zurückzuführen, sondern auf den geradezu himmlischen weißen Heilbutt im Mittelpunkt des Geschehens. Mit diesem einen Produkt, das ich notfalls auch ganz ohne Begleiter (die Garnitur auf dem Fisch wurde beispielsweise nicht einmal annonciert) verzehrt hätte, spielte Jörg Müller seine Extraklasse nochmals wirklich bravourös aus – ich behaupte, das war einer der drei besten Fische aller Zeiten! Worte wie „saftig“ und „butterzart“ vermögen den Ausnahmerang des Fischs, der schon bei der Annäherung mit der Gabel fast abblättert, kaum würdig zu beschreiben – man muss es einfach selbst erlebt haben. Einem Interview von Jürgen Dollase mit Jörg Müller entnehme ich später, dass dem Chef das meisterhafte Parieren und Zubereiten großer Speisefische wie beispielsweise einem Steinbutt immer noch so viel Freude bereitet, dass die anderen Köche ihn stets bereitwillig fragen, ob er das übernehmen möchte – nun weiß ich auch, weshalb! Diesen unwahrscheinlich gelungenen Fisch verkostet zu haben rechtfertigte allein schon den Besuch hier – wie vom Sylter Sturmwind weggeweht waren die mauen Eindrücke vom Beginn!
Einige Köche aus dieser Generation verstehen sich als Hüter großer kulinarischen Brauchtums: die Tradition der Grosses Pièces, beispielsweise in Form von Filet vom Holsteiner Rind oder gar Tomahawk-Steak vom Galloway Rind, sowie die ganzheitliche Verwertung tierischer Produkte einschließlich Innereien legen beredtes Zeugnis vom Stil Jörg Müllers ab, der die meisten Kritiker gemäß ihm nicht sonderlich zu interessieren scheint, aber den man auch bis zuletzt noch bei Hans Haas im Münchner Tantris fand. Wenn man sich all dies vergegenwärtigt und das Credo von Jörg Müller besser kennt, dann erscheint manche Facette dieses Besuches in einem anderen Licht: die so modische Kleinteiligkeit und variable Texturen sind seine Sache jedenfalls nicht. Für ein gewisses Maß an Fusion war die Küche Jörg Müllers jedoch bekannt, wenn er beispielsweise Maultaschen mit einer Farce von Hummerfleisch füllt oder Nordseekrabben mit Avocado paart.
Schon bei der Lektüre wird offenkundig, dass auch der Ausklang den stilistischen Merkmalen einer vergangenen Zeit huldigt: allein schon Gebackenes und alkoholgeschwängerte Saucen oder Espumas sind bei Desserts heutzutage alles andere als en vogue – und dennoch ist es irgendwie zutiefst wohltuend, zur Abwechslung mal einen süßen Abschluss kennenzulernen, den man in dieser Form heutzutage wohl nur bei den langlebigsten und berühmtesten Adressen vergangener Zeiten erleben darf. Am Ende einer längeren Menüfolge wären gebackene Zwetschgen auf Armagnac-Schaum mit Walnuss-Krokant-Eis wohl in der Tat recht belastend, aber nach nur zwei Vorgängern erfreut man sich an den aromensatten und vollsaftigen Früchten, deren Qualität durch die Nussigkeit und den geschmeidigen Charakter des Weinbrands elegant betont wird. Es ist wahr, dass man nach heutigen Maßstäben ein solches Dessert nur allzu rasch als eher eindimensional und vorsehbar abtun würde, aber mich hat es dank seines gelungenen Handwerks letzltich weitaus mehr überzeugt als erwartet.
Da es zu Beginn keine Amuses gab, rechne ich (zurecht) auch jetzt nicht mit Petits fours und mache mich nach dem Bezahlen gedanklich schon auf den Rückweg. Da erscheint im Speisesaal der Meister höchstpersönlich (ich wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt im Hause war) und erfüllt plötzlich mit seiner Aura den gesamten Raum. Er wirkt deutlich jünger als er tatsächlich ist und übt auf mich eine geradezu sprachlose Faszination aus, als er von Tisch zu Tisch schreitet. Es kommt allerdings nur zu einem kurzen Gespräch an meinem Tisch, weil ich so perplex bin und der Chef mich nicht kennt. Als er nach ein paar Minuten jedoch längere Zeit an einem anderen Tisch mit Stammgästen innehält, sich zu ihnen setzt und ins Plaudern gerät, gebe ich mir einen Ruck und suche ihn nochmals auf – in erster Linie mit der Bitte um ein gemeinsames Foto, die natürlich nicht ausgeschlagen wird. Doch selbst danach kommen wir noch gut und gerne fünf Minuten ins Gespräch (die Stammgäste sehen es mir nach!), ehe ich mich wieder auf den Weg zum Bahnhof begebe, um mein Domizil auf dem Festland zu beziehen. Auf der Bahnfahrt lasse ich die Eindrücke nochmals Revue passieren und komme zu dem Schluss, dass Jörg Müller ein Vollblutgastronom par excellence ist, der trotz all seiner Meriten bodenständig geblieben ist und mit seiner herzlichen, leutseligen Art ein geradezu einnehmendes Wesen hat.
Dass dieser Besuch nach dem mehr als verhaltenen Auftakt sich letztlich noch so entwickeln würde, war fraglos die angenehmste Erkenntnis dieses Abends. Es war beileibe nicht alles Gold, was glänzte, aber allein der Heilbutt und das abschließende Treffen mit der Legende hätten sogar noch weitaus größere Enttäuschungen vollauf kompensiert. Dieser Ausflug in die Historie der Hochküche hat mich ungemein weitergebildet – jedenfalls habe ich es selbst so empfunden. Wer sich im Vorfeld mit den Grundfesten dieser Küche beschäftigt, der sollte letztlich großen Gewinn aus einem Besuch hier ziehen, auch wenn die Glanzzeiten dieser Sylter Institution natürlich schon einige Jahre zurückliegen.
Mein Gesamturteil: 15 von 20 Punkten
Restaurant JM
Süderstraße 8
25980 Westerland (Sylt)
Tel.: 04651/27788
www.jmsylt.de
Guide Michelin 2023: –
Gault&Millau 2023: 2 Toques
GUSTO 2023: 6,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: –
3-gängiges Menü: € 96