„Der Maler malt eigentlich mit dem Auge: seine Kunst ist die Kunst, regelmäßig und schön zu sehen.“ (Novalis)
April 2022
Dass sich eine Reise ins Elsass gerade für Gourmets jederzeit lohnt, sollte kein großes Geheimnis darstellen. Für die Perle der Region schlechthin, die Stadt Colmar, mit ihren bezaubernden, alten Fachwerkhäuschen, den verwinkelten Gassen und dem malerischen Klein-Venedig gilt dies erst recht. Die kulinarische Vielfalt links des Rheins muss für den Besucher vom rechtsrheinischen Ufer geradezu überwältigend anmuten: wo gibt es in Deutschland auf solch verhältnismäßig kleiner Fläche eine solch hohe Dichte an Feinkostgeschäften, von denen mehr oder weniger jedes auf ein einziges Gebiet spezialisiert ist? Seien es Öl und Essig, Weine, Spirituosen, Schokolade, Wurstwaren oder Fisch – all das gibt es hier in einer unvergleichlichen Fülle und Qualität.
Doch damit nicht genug: während man in teutonischen Landen spätestens seit der neuen Arbeitszeitenregelung aus dem Jahre 2015 mittags geöffnete Sternerestaurants fast gezielt mit der Lupe auf der Landkarte suchen muss, existieren sie in Frankreich oder etwa den Benelux-Staaten nicht nur zuhauf, sondern offerieren auch noch eine vorzügliche Qualität zu Preisen, die in der Heimat undenkbar wären. Ein solches Exemplar ist auch das L’Atelier du Peintre („das Atelier des Malers“), welches in einer engen und schattigen Gasse mitten in der Altstadt zu finden ist. Bis einen Tag vor diesem Ausflug ins Elsass war mir das einfach besternte Lokal kein Begriff gewesen, doch angesichts solch attraktiver Kosten wäre es eine Sünde gewesen, diesem Restaurant die kalte Schulter zu zeigen. Ein kurzer Blick auf die Homepage überzeugte mich zudem sofort davon, dass das außergewöhnliche Intérieur des Etablissements ebenfalls auf eine Spitzenadresse hindeutete, deren Besuch unbedingt lohnenswert sein sollte – selbst wenn der G&M in seiner Frankreich-Ausgabe nur vergleichsweise kümmerliche 15 Punkte vergibt.
Schnell ist das in fußläufiger Entfernung zum Münster gelegene Lokal erreicht, wo uns das bemerkenswerte Ambiente mit hochwertigen Materialien und vielen Kontrasten aus Gold, Weiß und Schwarz rasch in seinen Bann zieht. Die Tische sind knapp, aber ausreichend bemessen und werden zudem rasch mit den ersten Apéros eingedeckt. Die drei Häppchen bestehen aus Kartoffelbällchen mit Knoblauch, Basilikum und Kapuzinerkresse, dann ein Tofu mit Curry und Noisette sowie schließlich einem falschen Pilz aus Baiser und Pilzcrème – augenzwinkernde Einstiege, die die Messlatte noch nicht in astronomische Höhen hängen, aber eine Kreativität an den Tag legen, die herzlich wenig mit Konventionen zu tun hat. Dazu gibt es noch einen fast zuckerfreien Birnensaft aus der Region, der mit ungewohnt herben Noten überrascht. Ein solider Auftakt!
Nach diesem ordentlichen Einstieg mit einer selten ausgeprägten Thematik rund um heimische, fleischlose Produkte fällt unsere Wahl auf das dreigängige Mittagsmenü zu € 45, das interessanterweise zu jedem Gang zwei Alternativen offeriert, von denen keine einzige zuschlagspflichtig ist. Die Brotauswahl besteht aus Baguette in Form von Brötchen und einer Knoblauchbutter, der wir gerne zusprechen, zumal beide Produkte eine Qualität offerieren wie sie in Deutschland leider eher selten ist.
Bereits die visuell ungemein befriedigende Vorspeise lässt uns endgültig erahnen, welchen Zufallstreffer wir hier gelandet haben könnten – natürlich hätte ich schon im Vorfeld die üppig bebilderte Galerie auf der Homepage des Lokals studieren können, habe aber ganz bewusst darauf verzichtet und dies erst im Nachhinein getan (unbedingt zur Nachahmung empfohlen!). So ist die erste Impression noch eindringlicher, doch erfreulicherweise muss man beim Geschmack keinerlei Abstriche verzeichnen: die dünnen Scheiben von roter Bete werden in roh marinierter Form zu einer Rose drapiert und thronen auf einem edlen Räucherfischsud, der zudem mit etwas Kaviar veredelt wurde. Durch verschiedene weitere Texturen der Bete, die kunstvoll in bzw. unter der Blume versteckt wurden, kommt dieses Entrée praktisch mit ganz wenigen Produkten aus und gerät dabei doch keine Sekunde langweilig. Neben der hinreissenden Optik prägt sich auch der ausgezeichnete Geschmack ein, denn die verschiedenen Intensitäten der Bete durch diverse Techniken bei der Verarbeitung verhindern gekonnt einen zu eindimensionalen Eindruck. Kunstvoll arrangiert und durch den Kaviar opulent aufgewertet – wirklich höchst befriedigend.
Auf den Punkt gebracht ist auch das Hauptgericht, welches Heilbutt in den Mittelpunkt stellt: dank der saftigen Konsistenz und der krossen Haut hätte man diese hervorragende Tranche notfalls auch ohne Begleiter durchgehen lassen können, doch eine ausgesprochen markige Oliventapinade, eine geradezu göttliche Mousseline von weißen Bohnen und ein Topping aus Radieschen und Gurke hieven diesen Gang auf ein Niveau, welches die durch die Optik hervorgerufenen Erwartungen locker übertrifft. Ein wirklich großartiger Teller, der ganz mühelos schiere Größe ausstrahlt!
Nicht ganz so filigran wie seine beiden Vorgänger wirkt das Dessert, das Valrhona-Schokolade in verschiedenen Texturen durchdekliniert und mit Apfelgel, -eis sowie -essig paart. Die ohnehin nur dezent süße Ganache erweist sich keinesfalls als zu mächtig und bindet die säurebetonten Komponenten gebührend mit ein. Insgesamt ist dieses Dessert wohl kaum so komplex wie seine Vorgänger, aber die aparte Optik und die gelungene Beschränkung auf im Grunde genommen zwei Produkte tragen zum Gelingen eines typischen Gute-Laune-Desserts ohne große Komplexität bei. Das hat Stil und überfordert doch niemanden, was erheblich zum Erfolg des Lokals beitragen dürfte.
Die Ausklänge bestehen aus einem Marshmallow mit nussigen Aromen, einer falschen Erdnuss aus Erdnusscrème mit Ummantelung von Karamell, dann einer Schoko-Passionsfrucht-Praline und schließlich kandierten Mandeln und Walnüssen – ein angemessenes Finale eines launigen Menüs.
Da gibt es nichts um den heißen Brei herumzureden: für das bißchen Geld, das wir hier unterm Strich ausgegeben haben, erhielten wir im Gegenzug ein Mittagessen, das in dieser Preisklasse kaum besser hätte ausfallen können. Dass in einem Restaurant dieses Namens eine auffällige Optik bei den Gerichten zu erwarten war, sahen wir bestätigt, doch hatte der Geschmack keine Probleme, mit dem ästhetischen Niveau mitzuhalten. Im Gegenteil: die Kreationen auf den Tellern kamen meist mit eher einfachen Viktualien aus und wurden in großer Vielfalt dargeboten. Trotz eines großen Abwechslungsreichtums wirkten alle Gerichte durchdacht und stets ausgewogen, so dass ich mich mehrmals zu einem ungläubigen Staunen durchringen musste. Was dem (keinesfalls schlechten) Dessert vielleicht ein wenig an Komplexität gefehlt haben mag, wurde durch das ansprechende Arrangement auf dem Teller mehr als aufgewogen; so blieb der süße Ausklang trotz allem längere Zeit im Gedächtnis haften, selbst wenn es nicht der stärkste Gang war. Vorspeise und Plat principal überzeugten dagegen auch aromatisch auf ganzer Linie und verstärkten in mir den Wunsch, im Falle eines weiteren Trips ins Elsass unbedingt wieder hier einkehren zu wollen. Dies ist nicht nur den Fähigkeiten der Küche geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass man je nach Gusto auch mittags zwischen drei unterschiedlichen, aber höchst preiswerten Menüs auswählen kann (von € 45 bis € 115, wobei das große Menü sieben Gänge umfasst).
Chefkoch Loïc Lefèbvre scheint sein Handwerk offenbar durchaus im Sinne eines Künstlers zu interpretieren, der allerdings ohne extreme Kleinteiligkeit à la Pinzette auskommen kann und dennoch außergewöhnliche optische Eindrücke erzielt. Gerade im Falle der bildschön drapierten roten Bete hätte man glatt vergessen können, dass es im Grunde genommen nur aus recht gewöhnlichen Produkten ersonnen worden war und dennoch voll einschlug. Das gezeigte Handwerk ruhte zudem durchweg auf sehr solidem Fundament und hinterließ trotz nur dreier Gänge bereits gehörigen Eindruck. Selten habe ich einen Koch erlebt, dem Optik derart wichtig war, dem es aber gleichzeitig gelingt, Geschmack und Visuelles so miteinander zu kombinieren, dass sich beide auf Augenhöhe begegnen und schlussendlich ein höchst ästhetisch anmutendes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Faktoren eintritt. Gut möglich, dass ich bei einem weiteren Besuch dann das volle Menü nehme und auslote, ob auch 18 Punkte drin wären: die vom G&M gewährten 15 Punkte halte ich – gelinde gesagt – für einen schlechten Scherz.
Zwar agiert der Service einigermaßen förmlich, doch jeder in der Brigade spricht neben Französisch zumindest entweder Englisch oder Deutsch – für mich selbst nicht strikt notwendig, aber für meine Begleitung eine große Hilfe. Die leichte Anspannung im Service zu Beginn weicht rasch einer größeren Lockerheit; durch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit gelingt es der Brigade, uns ebenfalls zu überzeugen, zumal Madame Lefèbvre, die Ehefrau des Chefs, auch noch an den Tisch kommt und uns doch gut und gerne fünf Minuten widmet. Die während des gesamten Nachmittags sehr präsent wirkende Gastgeberin ist eine elegant gekleidete, echte Dame, die ihr Metier sehr professionell auffasst und die Gäste mit ihrer charmanten Art schnell für sich gewinnt. Alles in allem besticht das Gesamtpaket an Service und Essen mit durchgehend hohem Niveau, viel elsässischem Charme und ungemein ästhetischen Kreationen. Schlemmen wie Gott in Frankreich – das L’Atelier du Peintre muss die sympathischste Adresse seit Ewigkeiten sein!
Auch unter der Woche füllt sich das Lokal unglaublich rasch, was wir als sicheren Beleg für große Konstanz und faire Preise auslegen. Das Publikum umfasst an diesem Nachmittag wirklich alle Altersschichten vom Säugling bis zum Greis und belegt, dass auch Spitzenrestaurants sehr wohl demokratische Orte sein können. Ängste um den Fortbestand solcher Restaurants in der Post-Corona-Zeit scheinen in der Grande Nation weitgehend unbegründet: natürlich sind die Vorbehalte unserer französischen Nachbarn bezüglich der Haute Cuisine wesentlich geringer, doch trotz allem möchte ich diesen Umstand nicht unerwähnt lassen. So geht ein wirklich wunderbarer Nachmittag zu Ende, der mich rätseln lässt, warum solch attraktive Angebote in Deutschland so spärlich gesät sein müssen. Da haben wir in Sachen Esskultur offenbar immer noch signifikant aufzuholen! Zum Glück ist Frankreich nicht aus der Welt …
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
L’Atelier du Peintre
Rue Schongauer 1
68000 Colmar (Frankreich)
Tel.: 033-3892-95157
www.atelier-peintre.fr
Guide Michelin (Frankreich) 2022: *
Gault&Millau (Frankreich) 2022: 15 Punkte
3-gängiges Mittagsmenü: € 45