Schloss Schauenstein***, Fürstenau

„O, große Kräfte sind’s, weiß man sie recht zu pflegen,
die Pflanzen, Kräuter, Stein‘ in ihrem Innern hegen.“
(William Shakespeare)

März 2023

Das im Herzen des Schweizer Kantons Graubünden gelegene, beschauliche Fürstenau mit seinen ca. 350 Einwohnern würde wie so ziemlich jeder andere Weiler dieser Größenordnung völlig unbemerkt vom Weltgeschehen weiter existieren, wenn da nicht zwei höchst sonderbare Umstände das genaue Gegenteil davon bewirken würden. Zum einen ist Fürstenau die kleinste Stadt der Welt, genießt es doch schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Stadtrechte. Dieser Umstand allein erklärt allerdings noch nicht das stete Eintreffen internationaler Gäste aus allen Winkeln der Welt, denn es ist vielmehr der andere Fakt, welcher den Ort seit mehr als einem Jahrzehnt auf die kulinarische Weltkarte gesetzt hat. Im Herzen des Dorfes thront nämlich das bescheiden anmutende Schloss Schauenstein, welches seit knapp zwei Jahrzehnten die Heimat des Ausnahmekochs Andreas Caminada ist. Zunächst eher klassisch ausgebildet bei Schweizer Kochgrößen und auch Claus-Peter Lumpp aus dem Baiersbronner Bareiss, entdeckt er schnell, dass seine Stärken in einer anderen Stilistik besser zum Tragen kommen sollten. Schon in seinem ersten Jahr als selbständiger Chef auf Schauenstein wird er 2004 vom Schweizer Gault&Millau zur „Entdeckung des Jahres“ und zwei Jahre später zum „Aufsteiger des Jahres“ gekürt. Die Parade an zahlreichen prestigeträchtigen Auszeichnungen reißt übrigens bis zum heutigen Tag nicht ab, doch die Erlangung des dritten Michelin-Sterns im Jahre 2010 markiert sicherlich einen Höhepunkt unter ihnen. Seit gut und gern zehn Jahren gehört das Schloss Schauenstein unangefochten zu den kulinarischen Topadressen dieser Welt, die man als ambitionierter Gourmet einfach besucht haben muss. Außerdem befinden sich mit der Vorderrheinschlucht Ruinaulta und der nicht minder spektakulären Viamala-Hinterrheinschlucht gleich zwei der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Schweiz in der Umgebung, so dass ein Ausflug in diese Region mit Sicherheit lohnt.

Ein Besuch erschien mir daher überfällig, zumal eine zwei Jahre zuvor geplante Stippvisite leider der Pandemie zum Opfer fiel und daher ersatzlos gestrichen werden musste. Beim Eintreffen staunen wir nicht schlecht über das Ausmaß an Aktivitäten, das der geschäftstüchtige Chef hier inzwischen aus dem Boden gestampft hat: die angrenzende Casa Caminada beherbergt eine Kaffeerösterei, eine Holzofenbäckerei und ein einfach besterntes vegetarisches Restaurant namens Oz unter der Leitung von Timo Fritsche, der übrigens auch schon genug Renommée vorweisen konnte, um mit Edip Sigl im Grassauer es:senz ein gemeinsames Four-Hands-Cooking im Jahre 2022 bestreiten zu dürfen. Als eine besonders starke Geste empfinde ich es, dass hier auch Kochbücher namhafter Schweizer Kollegen wie etwa Tanja Grandits oder Stefan Wiesner zum Verkauf angeboten werden – eine tolle und uneitle Geste, die man in dieser Form von solch hochdekorierten Chefs eher weniger erwarten würde. Über weitere Vorhaben des umtriebigen Küchenstars hier zu berichten, würde den Rahmen sprengen, weshalb ich bei Interesse auf die informative Webseite von Andreas Caminada verweise.

Ähnlich wie bei seinem Schüler Sven Wassmer aus dem Memories im nur eine halbe Stunde entfernten Bad Ragaz, welches wir zwei Tage zuvor besuchten und geradezu frenetisch beurteilten (siehe die entsprechende Rezension), geht es auch Mittvierziger Andreas Caminada darum, auf die besten Produkte seiner Heimat, der Region des Domleschg, zurückzugreifen und sie ins beste Licht zu rücken. Wie die folgende Rezension verdeutlicht, gibt es allerdings deutliche Unterschiede in der Stilistik (dazu später noch mehr), so dass der Besuch beider Lokale definitiv eine lohnende Angelegenheit darstellt.

Interessenten sei gleich gesagt, dass ein recht langer Vorlauf von zwei bis drei Monaten bei der Reservierung eingeplant werden sollte, doch Kurzentschlossene finden die nächsten drei freien Termine stets aktuell auf der Homepage des Lokals und können auch auf diese Weise mit etwas Glück schneller einen Platz bekommen. Bei uns in Deutschland noch längst nicht üblich, aber im Ausland schon gang und gäbe ist die Vorauszahlung eines bestimmten Betrags bei Restaurants dieser Kategorie. Bewegt sie sich anderswo üblicherweise im Bereich von € 100 pro Person, beträgt sie hier allerdings stolze CHF 350 – man kann es sich angesichts der Nachfrage eben erlauben, zumal der Chef ganz genau weiß, was seine Kochkunst wert ist.

Beim Betreten des Schlosses wird von man vom Service zunächst in einen bunten Salon ins Obergeschoss geführt, denn einer guten Tradition folgend werden hier die Apéros in einem anderen Saal als später das Menü eingenommen. Was für ein Ausnahmereigen das sein wird, sollten wir schon bald am eigenen Gaumen erleben: nach einem Erfrischungstuch und einem grandiosen Cocktail mit Sanddorn und Limette (von dem ich mir später noch ein zweites Glas gönne) werden die ersten fünf Kleinigkeiten aufgetragen. In einer Mürbteigtartelette mit marinierter Zwiebel befinden sich darunter noch weitere Texturen desselben Produkts – sehr fein und wunderbar austariert, trotz durchaus präsenter Würze. Auch der zweite Beitrag setzt auf ein simples Produkt und stellt eingelegten Kohlrabi in den Mittelpunkt, der mit leichter Säure von Ponzu vorzüglich abgeschmeckt ist – klingt banal, punktet aber mit sagenhafter Balance von Säure und Bitterkeit sowie praktisch perfektem Biss. Ähnlich geht die Küche bei eingelegtem Spargel mit Zitronengel vor und erreicht ein ebenso verblüffendes Ergebnis. Das Millefeuille daneben besteht aus unterschiedlichen Pilzen in variablen Texturen und besticht genauso wie das Airbread mit einer Farce von Linsenpaste. Diese ersten Apéros hängen die Messlatte schon einmal in enorme Höhen, denn das Team von Andreas Caminada erreicht damit schon eine fast beispiellose geschmackliche Tiefe, zumindest gemessen am scheinbar simplen Charakter dieser kleinen Visitenkarten, die es allerdings weitaus mehr in sich haben als einen der bloße Anblick glauben machen möchte. Den Höhepunkt erreicht man mit den letzten zwei Petitessen, die höchste handwerkliche Akkuratesse erkennen lassen: zum einen ein Rindertatar mit rote Bete und Meerrettich, von dem eine ganz leichte, reizende Süße ausgeht sowie das Taco von beispielloser Konsistenz auf Joghurt mit Bündnerfleisch und Pastrami. Über alle sieben Eingebungen lässt sich sagen, dass sie ein Kaleidoskop an unterschiedlichsten Aromen virtuos abdecken und sowohl in aromatischer als auch haptischer Hinsicht voll überzeugen.

Nach dieser ersten, gar nicht so kleinen Heldentat, geleitet man uns nach unten – allerdings nicht ohne zuvor die Bestellung entgegen genommen zu haben. Zur Wahl steht ein bis zu fünfgängiges Menü (zu CHF 305) oder eine Zusammenstellung von Klassikern à la carte. Wir entscheiden uns für die zweite Option, da wir unbedingt erfahren wollen, was die kulinarische Handschrift des Andreas Caminada ausmacht und glauben, dass dies der beste Weg ist, um es in Erfahrung zu bringen. Die dunkle, holzvertäfelte Stube stellt einen ziemlich großen Kontrast zum lichten Salon im Obergeschoss dar, doch auf die Küchenleistung dürfte sich dies kaum auswirken …

Schon im Vorfeld hatten wir gehört, dass manche Appetitanreger hier recht fordernd geraten können – süßliche Aromen trifft man eher selten an, während das virtuose Spiel mit Säure ein besonderes Steckenpferd des Ausnahmechefs zu sein scheint. Wie zum Beweis dieser Theorie schickt die Küche gleich eines der ungewöhnlichsten Amuses der letzten Jahre, welches den Gast umgehend aus seiner Komfortzone holt: Im Mittelpunkt dieser Eingebung steht Radicchio (sowohl als Eis wie auch in eingelegter Form), welcher durchaus herb mit einer forschen Vinaigrette von Topinambur und rote Bete begleitet wird. Mit der Garnitur von Birne als Brunoise bringt die Küche noch eine reizende Komponente ins Spiel – und drückt das Gaspedal endgültig durch, denn das hauptsächlich um bittere und säuerliche Aromen kreisende Gericht wird beim Verzehr zu einer echten Herausforderung, die Anfänger vielleicht überfordern könnte. Dessen ungeachtet ist dies ein grandioses Meisterwerk, das sich praktisch allen Vergleichen entzieht und gleichzeitig belegt, dass sich die Küche voll am Puls der Zeit bewegt und dabei weitgehend auf profane Produkte (von allerbester Qualität und Zubereitung, versteht sich) zurückgreifen kann.

Eine kaum weniger kühne Kombination verkündet Souschef Marcel Skibba (der neuerdings Teilhaber am Lokal ist und damit praktisch gleichberechtigt mit dem Grand Chef) beim nächsten Gaumenkitzler: dehydrierte und fermentierte Karotte paart man hier ohne Scheuklappen mit Mirabelle, Johannisbeere, Schnittlauch und Weinblättern. Es ist mir unbegreiflich, wie man durch geschickte Konsistenzen und Techniken ein derart disparitätisch klingendes Ensemble so stimmig unter einen Hut bringen kann. Was den Reiz dieser Kreation ausmacht, sind die unterschiedlich knackigen Komponenten und die an den Tag gelegte Akribie, die darauf abzielt, alles an Aromen aus den vermeintlich langweiligen Produkten herauszuholen. Bei bewusstem Hinschmecken ist das ist einfach nur grandioser Genuss, der ganz nebenbei den kulinarischen Horizont erweitert.

Geradezu schwebend-leicht gerät dagegen das dritte Amuse, das einmal mehr auf Säure setzt, wenngleich in einer ganz anderen Form als die beiden Vorgänger. Obwohl Fenchel, Safran, Dill und eine vorzügliche Crème fraîche ziemlich viel Aufmerksamkeit zu beanspruchen scheinen, bleibt dem ultrafrischen und saftigen Felchen genügend Raum zur aromatischen Entfaltung. Einmal mehr kommt die Meisterschaft dieser Küche bei der Balance besonders gut zum Tragen, zumal die duftige Säure diesmal weitaus weniger aneckt.

Nach drei säurebetonten Beiträgen schwenkt die Küche schließlich auf erdig-herbe Aromen um, die weitaus gefälliger wirken – fast so, als würde man den Gast, der die bisherigen drei Amuses „überstanden“ hat, zum Abschluss noch belohnen wollen. Unter dem süffigen Nussbutterschaum (qualitativ in einer eigenen Liga angesiedelt) versteckt sich Kalbsmilken (in Deutschland eher als Kalbsbries bekannt) von ungeahnter Cremigkeit, der zudem höchst elegant von Morcheln, welche im Gegensatz zu anderen Pilzen ja bereits im Frühjahr Saison haben, begleitet wird. Diese im bisherigen Vergleich geradezu puristische Inszenierung stimmt zwar versöhnlichere Töne an, überzeugt aber mit sensationeller Harmonie, einem enormen Nachhall am Gaumen und einer geschmacklichen Tiefe, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Schon jetzt, noch vor dem ersten Gang, kann ich feststellen, dass es mir eine besondere Ehre war, diesen Reigen verkosten zu dürfen! Wenn das so weiter geht …

Das hausgemachte Sauerteigbrot wird mit aufgeschlagener Rahmbutter und naturbelassener Butter mit Fleur de Sel serviert, wobei festgehalten werden muss, dass auch dieser Beitrag weit überdurchschnittlich gerät, obwohl natürlich niemand wegen des Brots hierher kommt – falls doch, dann sei die eingangs erwähnte Holzofenbäckerei dringend empfohlen.

Gespannt erwarten wir, ob sich die Küche nach dieser fabelhaften Parade noch weiter steigern kann. Die Messlatte hängt schon beim ersten Gang hoch, denn Languste (CHF 109) in nicht weniger als fünf Varianten geschmackssicher zu präsentieren scheint mir eine besondere Herausforderung darzustellen. Zu unserer nicht geringen Verwunderung stellen wir fest, dass Andreas Caminada mit seinem Team nicht nur avantgardistische Töne anschlägt, sondern gleichermaßen sicher in der großen Klassik agiert. Negativ ausgedrückt: das zarte Krustentier habe ich praktisch schon in allen fünf dargebotenen Varianten mehrmals verzehrt. Positiv ausgedrückt: jeder einzelne Mosaikstein dieses umwerfenden Quintetts ist ein kleiner Geniestreich, der seinen Teil zu einem Gesamtbild von atemberaubender Grandezza beisteuert. Ob nun sanft gedämpft auf einem Krustentierfond mit etwas Limettengel, als Tatar mit Limettenschaum, Kohlrabi und Pfeffersauce oder als herrlich glasiges Carpaccio mit Yuzugel – nicht einen Moment lang zaudern wir, die überragende Darbietung als solche anzuerkennen. Keinen Deut schlechter geraten auch die etwas später gereichten zwei Teile, bestehend aus gekochter Languste in Krustentiernage und als Farce in einem Dim Sum auf einer Krustentierbouillon. Man möchte diesem perfekten Gang eine ganze Ode widmen, denn ein derart homogener Genuss war mir bei einem fünfteiligen Gang noch nie vergönnt. Zu diesem Zeitpunkt ringe ich bereits ehrlich gesagt um Fassung …

Ein weiterer Klassiker ist die Wachtel mit roter Bete (CHF 74) in einem Rote-Bete-Sud, der offenbar noch mit etwas Öl verfeinert wurde. Das Fleisch ist mustergültig gebraten, und doch bleibt dies trotz weiterer Texturen der Bete unterhalb der aufgelegten Scheibe ein Gang der vergleichsweise leisen Töne. Das ist ein stiller Genuss, der im Vergleich zu den intensiven Darbietungen bisher die Dramaturgie etwas zurückfährt, ohne dabei natürlich in irgendeiner Weise zu enttäuschen. Ich stelle nur leicht besorgt fest, dass meine Wahrnehmung offenbar noch von den rauschhaften Eindrücken zuvor etwas getrübt zu sein scheint, da mir bei diesem Gang – offen gestanden – das eine oder andere nennenswerte Detail sicherlich entgangen ist.

Und nun: Vorhang auf für das Lammgericht (CHF 94) meines Lebens! Zu einem separat gereichten Schälchen mit Spinat und Kartoffelschaum (höchstens das Hertog Jan sticht diesen aus) präsentiert die Küche zum Hauptgang zweierlei Lamm: der unbeschreiblich saftige Rücken wird mit Joghurt, Frühlingszwiebel, karamellisierter Zwiebel und fermentiertem Knoblauch begleitet, während der ungleich deftigere und schön mürbe Bauch (in genau richtiger Portionierung) mit einem Kohlblatt umwickelt ist. Optisch sieht das Ganze recht unspektakulär aus, so dass die Frage, worin nun die Größe dieses Gangs bestehen mag, berechtigt ist: es ist die minutiöse Zubereitung jeder einzelnen Komponente. Der fermentierte Knoblauch beispielsweise, der anderswo meist etwas flach schmeckt, schlägt in puncto Cremigkeit und Intensität nahezu alle bisherigen Konkurrenten fast mühelos. Die Konsistenz des Fleischs beider Teile ist derart makellos, dass ich es nicht für möglich gehalten hätte. Jeder noch so unbedeutend scheinenden Komponente wird hier ein Maß an Aufmerksamkeit zuteil, das sich andere Restaurants wegen des horrenden damit verbundenen Aufwands gar nicht erlauben können. Mit einer in dieser Form äußerst selten erlebten Akribie (Christian Bau kommt mir unweigerlich in den Sinn) zaubert die Küche hier eine singuläre Großtat auf den Teller, die durch die Lammjus zudem optimal zusammengehalten wird.

Selbst in einigen Dreisternern habe ich erlebt, dass sich die Desserts nicht immer auf demselben Niveau wie die übrige Menüfolge bewegen, doch schnell wird auch auf diesem Gebiet jedweder Zweifel diesbezüglich zerstreut. Das Tagesdessert mit dem unschuldig anmutenden Namen „Schokolade“ (CHF 45) macht in puncto Niveau genau dort weiter, wo man zuvor aufgehört hatte. Es besteht aus fünf Teilen mit fünf verschiedenen (!) Schokoladen (Maracaibo, Quenelle Bolivia, Madagascar, Rio Huimbi und Centenario); vier der fünf Varianten finden unsere uneingeschränkte Zustimmung, ja tiefste Anerkennung. Lediglich der Limettenschaum mit kaum zu schmeckendem Schokoladenanteil hinten links gerät etwas neutraler als erwartet und fügt sich unserer Auffassung nach nicht sonderlich homogen ein, aber angesichts der übrigen Teile ist diese marginale Enttäuschung rasch vergessen: das altmeisterliche, aber exzellente Soufflé von unvergleichlicher Intensität überzeugt dabei genauso wie die Mousse in einer geeisten Hülle. Das Sauerrahm-Yuzu-Eis ist eine willkommene Erfrischung mit fruchtigeren Akzenten, aber mit hinreichend Körper; mit dem Törtchen von Mousse au Chocolat wird der Regler dagegen nochmals voll aufgedreht. Dass Worte der Einzigartigkeit von Geschmack bisweilen nicht gerecht werden können, erlebe ich hier einmal mehr. Man muss es einfach probiert haben – danach würde ich jedenfalls vorschlagen, dieses Dessert in „Chocoholic’s Paradise“ umzutaufen! Als kleinen Bonus gibt es noch weitere Pralinen (im Hintergrund), die nahtlos an das Dessert anknüpfen. Schokolade mag derzeit bei Desserts „out“ sein, aber wen kümmert das, wenn es so fabelhaft schmeckt wie hier?! Diesen Ausklang würde ich nahezu jedem ach so hippen, grünen Dessert vorziehen ohne mit der Wimper zu zucken. Phänomenal!

Mit drei weiteren Petits fours verabschiedet sich die Küche, die schon in wenigen Stunden wieder zum Abendessen die volle Leistungsstärke abrufen muss – dass irgendwo Kräfte gespart werden müssen, leuchtet ein. Zum Ende verwöhnt werden wir jedenfalls mit einer Kürbiskern-Tarte, einem Macaron von Rosé-Champagner und einem Beignet mit Dulce de Leche. Die relativ knappe und trotzdem beachtliche Parade stört uns nicht weiter, da das Team nach diesem Menü weiß Gott niemandem mehr etwas beweisen muss! Man bedenke zudem, dass nachmittags lediglich einer der beiden Speisesäle belegt ist, während abends der zweite noch hinzukommt und somit noch wesentlich mehr Arbeit ansteht – ein Umstand, der uns noch mehr Respekt abnötigt.

Trotz des starken Bezugs mancher Produkte zur Region ist es gar nicht so leicht zu definieren, was genau den unverwechselbaren Stil des Grand Chefs denn nun ausmacht. Zum einen erlebten wir eine geschmackliche Tiefe bei manchen Gängen, die mir in dieser intensiven Form so noch nie untergekommen ist, zum anderen war es aber auch ein unfassbar sicheres Gespür für sowohl klassische als auch moderne Gerichte, die in ihrer atemberaubenden handwerklichen Präzision kaum zu toppen schienen. Das profunde Wissen um die im hauseigenen Garten angebauten Gemüsesorten und Kräuter spielt dabei sicherlich eine große Rolle, wenn es Andreas Caminada wie kaum einem Zweiten gelingt, eine der fünf Basis-Geschmacksrichtungen (süß, sauer, salzig, bitter, Umami) nahezu monothematisch zu beleuchten, aber dafür innerhalb dieser Grenze sämtliche Facetten bis zu den Extremen hin auszuloten: das in seiner Säuerlichkeit überaus forsche erste Amuse mit dem Radicchio legt beredtes Zeugnis davon ab, wie dank verschiedener Texturen und subtiler Kniffe eine Streuung der Intensitäten erzielt wird, die dieses Gericht keine Sekunde langweilig erscheinen lässt und den Gast zwingt, sich genau darauf einzulassen, wenn er den größtmöglichen Geschmack aus diesem kühnen Beitrag ziehen will. Das würden sich nicht viele Köche in dieser Form trauen, denn bei schwächerer Ausführung würde solch ein Gericht schnell langweilen oder gar vom Gast abgelehnt werden.

Der Service in diesem Haus agiert vergleichsweise förmlich, aber stets korrekt und aufmerksam. Die Gerichte werden bisweilen von Mitgliedern der Küchencrew erklärt, was ihre Authentizität nur noch steigert. Sommelier Marco Franzelin, den ich noch vom Vendôme in Bergisch Gladbach kannte, stieß erst kurz vorm Abendservice dazu, doch auch ohne sein Dirigat erlaubte sich die professionelle und mustergültig geschulte Servicebrigade keine Fehler. Die Nebenkosten sind in einem solchen Etablissement erwartungsgemäß nicht ganz gering, doch die mit der gezeigten Leistung verbundenen Kosten sind fast schon als horrend für die Betreiber einzustufen. Eine solche Hingabe und Aufmerksamkeit bei den Produkten habe ich bislang nur selten erlebt.

Michael Vogel vom Landgasthof Adler in Rosenberg stand hier während seiner Ausbildung auch schon am Herd und erzählte mir bei meinem jüngsten Besuch nicht ganz ohne Neid von den unvergleichlichen Möglichkeiten in dieser Küche und der Akribie, mit der selbst winzigste Details vorbereitet werden: die Zeit, die für aufwendige Arbeitsschritte in anderen Lokalen angesetzt wird, kann man hier in manchen Fällen fast verdoppeln. Anders ließe sich die Tiefe so mancher Sauce oder Consommé auch nicht plausibel erklären. Auch die recht engmaschige Überwachung des Wachstums der später im Lokal eingesetzten Gemüsesorten und Gewürze nimmt natürlich viel Zeit in Anspruch, die sich im geforderten Preis niederschlägt. Nach wenigen Eindrücken war uns zudem bereits klar, dass die Urteile der professionellen Guides vollauf berechtigt sind.

Wer hier einkehrt, der möchte sich ein außergewöhnliches Erlebnis von Weltklasseformat gönnen und sollte daher auf keinen Fall jeden Cent zweimal umdrehen. Ich denke, man kann dieses Lokal guten Gewissens zu den zwanzig besten der Welt zählen, denn in Summe war die Zahl der überirdischen Beiträge während unseres Menüs fast nicht mehr an einer Hand abzuzählen. Weitere Besuche meinerseits sind nicht zuletzt auch wegen des hohen Freizeitwerts der Region durchaus beabsichtigt – in der Hoffnung, den Chef diesmal persönlich anzutreffen, der an diesem Tage leider in einer familiären Angelegenheit unterwegs war. So oder so ist ein Besuch hier ein unvergleichlicher Moment, den man sich zumindest einmal im Leben gönnen sollte.

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

Schloss Schauenstein
Obergass 15
7414 Fürstenau (Schweiz)
Tel.: 0041-81632-1080
www.schauenstein.ch

Guide Michelin 2022: ***
Gault&Millau 2023: 19 Punkte
FEINSCHMECKER 2023: 5 F

4-gängiges Menü à la carte: ca. CHF 320