„Ei willkommen, ei willkommen,
süßer Mühlengesang!
Und das Haus, wie so traulich!
Und die Fenster, wie blank!“
(Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin)
April 2023
Die Provinz Limburg, der östlichste Teil von Flandern und im Osten angrenzend an die Bundesrepublik Deutschland, ist die grüne Lunge Belgiens und insgesamt recht ländlich geprägt. Ein hohes Touristenaufkommen ist hier nicht zu befürchten, so dass Ruhesuchende mit Sinn für Kultur besonders auf ihre Kosten kommen, liegen doch die nur wenig bekannten, aber durchaus sehenswerte Städte wie Hasselt, Sint-Truiden, Genk und Tongeren (die älteste Stadt Belgiens) in dieser Region. Ein Abstecher in eine oder zwei dieser Städte hätte uns durchaus gereizt (hauptsächlich galt unser Interesse der Narzissenblüte in der Eifel), aber leider empfing uns Limburg an diesem Tag mit wenig einladendem, regnerisch-trübem Wetter, so dass wir uns direkt auf den Weg zu unserem eigentlichen Ziel machten: das Zwei-Sterne-Restaurant Slagmolen. Im Herzen der Region gelegen, haben hier Chefkoch Bert Meewis, seine Ehefrau Karlijn Libbrecht und sein Sohn Giel (der schon längst Verantwortung in der Küche übernimmt) ein familiengeführtes Restaurant samt kleinem Hotel mit vier Zimmern erfolgreich etablieren können. Was das bedeutet, erfahren wir gleich bei unserer Ankunft: das durchaus geräumige Lokal mit Platz für gut und gerne 50 Gäste ist trotz seiner ländlichen Lage an diesem gewöhnlichen Nachmittag unter der Woche restlos ausgebucht, was zudem kein Einzelfall ist – bei der Reservierung um Wochen im Voraus reservierten wir kurzerhand schlicht am einzigen noch freien Termin! In heimischen Landen fallen mir nur drei bis vier Zweisterner ein, die mittags ein vernünftiges Angebot machen und allesamt in Großstädten liegen (Berlin, Saarbrücken und Freiburg). Hier hingegen braucht man sich selbst mitten auf dem Lande keine Sorgen um einen regelmäßigen Zustrom an Gästen zu machen! Das mag an zwei Gründen liegen: zum einen hat sich die Küche über Jahrzehnte hinweg eine Reputation erarbeitet, die weit über die Grenzen der Region hinaus nachhallt, und zum anderen genießt die Esskultur in Benelux (wie wir schon mehrfach erlebt haben) einfach nach wie vor einen spürbar anderen Stellenwert als in der Heimat.
Von der nächsten Großstadt aus – dem niederländischen Maastricht – sind es etwa vierzig Minuten bis zu diesem Zweisterner. Das Restaurant selbst befindet sich auf einem recht großzügigen Areal mitten in einem versteckt gelegenen Waldstück, das ohne entsprechende Hinweisschilder kaum zu finden wäre. Aus der ehemaligen Hammermühle, die immer noch gut als solche zu erkennen ist, haben die Besitzer eine gelungene Synthese aus Tradition und Moderne geschaffen: während man auf dem Weg zum Tisch historische Teile des Gebäudes durchschreitet, ist der Gastraum selbst eine hochmodern gestaltete Räumlichkeit mit enorm hohem Wohlfühlfaktor. Zwei Wände des Gastraums sind vollverglast, wobei die eine Wand, die zum Bach und der Mühle hinter dem Haus zeigt, in ihrer dreieckigen Form fast an das neue Design der Schwarzwaldstube in Baiersbronn erinnert. Moderne Lampen, die von der meterhohen Decke hängen, ein begehbarer gläserner Weinschrank, eine auffallend edel bestückte Bar sowie ein großzügiger Blick in die Küche sind weitere Details, die eine Stippvisite hier sehr angenehm und unverwechselbar machen. Die kreisrunden Tische selbst sind dagegen mit einem weißen Leintuch und einem kleinen Blumenschmuck belegt, was dem hier gepflegten Küchenstil auch durchaus entspricht: klassisch fundiert, aber mit modernen und durchaus farbenfreudigen Akzenten. Bunt geht es auch auf dem Gelände außen herum zu, wo sich allerlei moderne Kunstwerke tummeln, von denen manche fast ironisch auf uns wirken. Höhepunkt dieser Galerie unter freiem Himmel ist eine vom Gastraum aus gut erkennbare Skulptur des überregional bekannten Künstlers Will Beckers mit dem Namen „Becoming“, welche im Einklang mit der Natur steht und einen echten Blickfang darstellt.
Initiator all dieser Errungenschaften ist der Chefkoch Bert Meewis: auch körperlich eine stattliche Erscheinung, wurde er 2020 in der belgischen Ausgabe des Gault&Millau zum „Koch des Jahres“ gekürt und empfängt uns gleich zu Beginn persönlich am Tisch – und das auch noch in fast perfektem Deutsch! Wir erfahren dabei, dass man ein attraktives viergängiges Mittagsmenü zum Preis von € 125 offeriert, welches uns sehr zusagt – aber leider nicht das Signature Dish des Hauses enthält. Dieses bestellen wir daher separat à la carte nach, denn das Rindertatar ist in der Gourmetszene in ganz Belgien bekannt und daher einfach unverzichtbar. Vor dem großen Genuss läuten wir den Mittag mit den Apéros ein, die hier ganz stilecht auf einem schweren Mühlstein drapiert werden: ein Parmesantaco mit Thunfisch und Burrata, dann ein Tapiokachip mit Senf, Kapuzinerkresse und Gurkenrelish, gefolgt von einem Profiterol mit Krokant und Gänseleber. Abgerundet wird die Darbietung mit einer Tartelette von Lauch und Lachs sowie einer Brandade mit Steinbutt, Curry und Granny-Smith-Chutney (von unten im Uhrzeigersinn). Dazu noch ein Glas „Zerozzante“ von Raumland – und der Einstieg ist gelungen! Leider ist meine Urteilskraft durch eine mäßige Erkältung an diesem Tag etwas getrübt, aber absagen wollte ich diesen lange im Voraus geplanten Termin auf keinen Fall – schon der Start verdeutlichte, dass ich dies rasch bereut hätte. Die teils ungewöhnlichen Kombinationen ließen hier schon eine eigene Handschrift erkennen, wenngleich insgesamt eine vergleichsweise milde Aromatik diesen Reigen in seiner Gesamtheit prägte.
Die Brotauswahl vom Tablett ist weitaus üppiger als es das Foto mit meiner persönlichen Selektion vermuten ließe und offeriert eine breite Palette an Klassikern wie Focaccia oder Brioche – dazu gibt es Butter (gesalzen und ungesalzen), Olivenöl, Fleur de Sel und Pfeffer. Eine feine Sache!
Des weiteren serviert man noch auf Eis eine geschmacklich recht rustikal anmutende Interpretation der Gillardeau-Auster mit Apfelstiften und Ossietra-Kaviar unter einem Champagnerschaum, die aus der Reihe konventioneller Inszenierungen gehörig ausschert, aber jederzeit durchdacht wirkt.
Ich lege mich schon jetzt fest: wäre der Wanderer aus Franz Schuberts Liedzyklus Die schöne Müllerin (nach Texten von Wilhelm Müller) im Slagmolen eingekehrt, dann wäre er wahrscheinlich hier geblieben anstatt sich aus Liebeskummer, Verzweiflung und Weltschmerz letztlich im Bach zu ertränken (hoffentlich war das jetzt kein Spoiler?!).
Das Menü wird mit besagtem Signature Dish eingeläutet, das gewisse Assoziationen mit dem berühmten Tortenstück aus dem dreifach besternten Sonnora in der Eifel weckt: Rindertatar vom Angus Aberdeen wird mit klassischen Zutaten wie Schalotten, Kapern, Petersilie, Pfeffer und Salz veredelt, während eine hausgemachte Mayonnaise noch eine eigene Note ins Spiel bringt. Abgerundet mit einem Schuss Worcestershire-Sauce, wird das Türmchen des Tatars mit Ossietra-Kaviar über einer zarten Lage Sauerrahm auf dem Galette von hauchdünnen, frittierten Kartoffelscheiben platziert – so sieht also Belgiens bekanntestes Tatar in der Realität aus! Netterweise offeriert uns der Chef, zwei kleine Portionen aus einer großen zu machen, so dass nur zusätzliche € 40 (anstatt der üblichen € 80) pro Teller aufgerufen werden. Die Menge hat auch so vollkommen ausgereicht, um sich ein Bild zu verschaffen: das Tatar ist trotz allem vergleichsweise elegant und mild, nimmt aber zurecht Klassikerstatus ein – gleichwohl ist besagtes Tortenstück im Sonnora noch raffinierter.
Der erste „reguläre“ Gang huldigt dem Salat, einem in der Sternegastronomie immer noch recht stiefmütterlich behandeltem Thema. Das Herz von Kopfsalat interpretiert die Küche unter anderem als Vinaigrette und versteckt zwischen den Blättern vorzügliches Fleisch von der Königskrabbe. Den frühlingshaft frischen Eindruck verstärken Senfsaat und am Platz darüber geriebene Zesten von Amalfi-Zitrone noch ganz erheblich, so dass wir letztlich zum Urteil gelangen, ein nicht zuletzt dank der Produktqualität des Krustentiers enorm wirkungsvolles Gericht vor uns zu haben, das zudem trotz der ansprechenden Optik mit überschaubarem Aufwand auskommt – was bei zwei weiteren angebotenen Menüs und einer Handvoll Gerichte à la carte auch absolut nachvollziehbar bleibt. Ein starker Beitrag!
Wir wünschten, dasselbe vom nächsten Gang behaupten zu können: es ist keineswegs die reine Kombination von Langustine, roter Bete und Gänselebersauce, die uns nicht zusagt. Im Gegenteil – die Idee hinter dem Gang, zwei recht herbe und für Krustentiere eher ungewöhnliche Komponenten zu integrieren, gefällt uns sogar sehr, aber leider ist es ein handwerklicher Fehler, der sich hier eingeschlichen hat und den insgesamt stimmigen Eindruck ganz erheblich trübt: das zarte Krustentier wurde deutlich übergart und bekommt dadurch eine viel zu weiche und kaum bissfeste Konsistenz, die dem Produkt überhaupt nicht gut zu Gesicht steht. Fehler dieser Art sollten nicht passieren, sind aber nun mal menschlich – schade drum.
Wir hoffen auf einen Ausrutscher als plausibelste Erklärung und sehen uns zum Hauptgang darin bestätigt, dass die Küche inzwischen wieder die volle Leistungsstärke abruft: Poularde aus der Bresse in – wie kaum zu anders zu erwarten – fabelhafter Qualität stimmt uns rasch wieder versöhnlich. Das nicht übermäßig komplexe Arrangement aus knackigem grünen Spargel, Erbsen, Saubohnen und Morcheln ist untadelig zubereitet und gestattet es dem Geflügel, seine Vorzüge voll auszuspielen: saftstrotzend, von vorzüglicher Konsistenz und aromensatt wie man es selten erlebt. Mit diesem Hauptgericht setzt die Küche ein echtes Statement und zaubert ohne großes Brimborium die stärkste Kreation des Tages auf den Teller. Bravo! Erinnerungen an unseren letztjährigen Besuch im Luxemburger Mosconi oder in Belgiens erster Adresse Hof van Cleve (2018) werden wach, als sich auch schon damals zeigte, dass Geflügel der Spitzenklasse generell mit wenigen, klaren Begleitern am besten gelingt.
Beim Dessert bin ich in der Einschätzung dagegen wieder ein wenig hin- und hergerissen: auf einer hauchzarten Schicht von mit Estragon verfeinertem Apfelgelée platziert die Pâtisserie zur rechten Seite ein überdurchschnittliches Sorbet von Rhabarber (ein ziemlicher Exot unter den Sorbets) und zur linken ein Semifreddo (Halbgefrorenes) mit Rhabarber und weiteren Komponenten, die ich aufgrund meiner Erkältung nicht zweifelsfrei identifizieren konnte. Obschon man seinen Prinzipien, nämlich der Betonung der Produktqualität und der Klarheit in der Präsentation auch hier treu geblieben ist, bin ich mir nicht ganz sicher, ob dieses Dessert für die Ansprüche eines mit zwei Sternen dekorierten Hauses nicht grenzwertig niedrig ist – so überragend sind Textur und Produktqualität nicht, dass es nicht zumindest hinterfragt werden dürfte. Drücken wir es mal so aus: hätte es stattdessen zum Dessert das zweite Signature Dish des Hauses gegeben, nämlich Dame Blanche, wäre meine Wahl vermutlich eher darauf gefallen.
Während ich noch sinniere, rückt auch schon der Christofle-Wagen an, der hier allerdings zum Pâtisserie-Wagen umfunktioniert wurde und mit einer Fülle an Friandises, Pralinen und sonstigem Naschwerk aufwartet. Meine Wahl fällt letztlich auf Tarte Limburg mit Vanille, Brownie, Profiterol und zweierlei Mousse (weiße und dunkle Schokolade). Mit diesem sündigen Ausklang ist zumindest der Nachweis erbracht, dass die süße Abteilung auch Komplexeres als das Dessert zuvor beherrscht und einen ansprechenden Nachmittag würdig abzurunden weiß.
Prinzipiell hat uns an dem hier demonstrierten Küchenstil gut gefallen, dass Chef Bert Meewis kurzlebigen Trends nichts abgewinnen kann und lieber konsequent einem mehr oder weniger klassischen Stil huldigt, der keine falsche Scham zeigt, sich auch einiger Anleihen aus der Nouvelle Cuisine zu bedienen. Die Teller wirkten strukturiert und durchdacht, wenn auch nicht jede Nuance bei der Zubereitung konstant auf demselben hohen Niveau umgesetzt war. Manchmal wandelt man (wie beim Dessert) zwar gefährlich nahe an dem schmalen Grat zwischen schlichter Erhabenheit und unangemessener Simplizität, doch die liebevoll und sorgfältig umgesetzten Details verhinderten ein Abdriften in die Niederungen der Banalität. Neuerungen am Puls der Zeit sucht man hier somit vergeblich, aber das dürfte auch nicht den Erwartungen der meisten Gäste in dieser ruralen und wohl eher konservativen Gegend entsprechen. Diese wissen zuverlässig, worauf sie sich bei einem Besuch hier einstellen können: solide Hochküche klassischer Art mit viel Fokus auf wenige auserwählte Produkte, die ohne Experimente auskommt und fast immer mit unverfälschtem Geschmack zu überzeugen vermag. Ein ausgeprägtes Gespür für harmonische Kombinationen kennzeichnet zudem sämtliche Teller, was heutzutage beileibe keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt.
Dass die Küche stellenweise nicht ihren besten Tag erwischt haben mochte, sollte aus der Rezension ersichtlich werden, aber unterm Strich verbrachten wir hier einen angenehmen Nachmittag, zu dem auch das einzigartige Ambiente und die familiäre Atmosphäre maßgeblich beitrugen. Die spürbaren Nebenkosten lassen zudem erahnen, welche Ausgaben im Bezug auf ein solches Anwesen zu stemmen sind: das Bewusstsein dafür, wie viele Energie für den Erhalt dieses Lokals aufzubringen ist und dabei ständig am Herd stehen zu müssen (und das seit dreißig Jahren) lässt mich vor der Lebensleistung dieses Kochs, der erst Mitte Fünfzig ist, durchaus demütig werden. Mit der Einbeziehung von Sohn Giel in die Küche ist der Weg für die Zukunft zudem vorgezeichnet, so dass dem geneigten Gast hier noch etliche genussvolle Stunden in den nächsten Jahren bevorstehen dürften. Da sieht man mal gnädig über kleine Wackler hinweg!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Slagmolen
Molenweg 177
3660 Oudsbergen (Belgien)
Tel.: 0032-8985-4888
www.slagmolen.be
Guide Michelin 2023: **
Gault&Millau 2023: 18 Punkte
4-gängiges Mittagsmenü: € 125