Syttende*, Sønderborg

„Es gibt kein höheres Vergnügen als einen Menschen dadurch zu überraschen, dass man ihm mehr gibt als er erwartet.“ (Charles Baudelaire)

Februar 2023

Begonnen hatte alles mit der ernüchternden Erkenntnis, dass fast alle namhaften Etablissements auf Sylt während unseres Aufenthalts in Nordfriesland geschlossen sein würden – was mich veranlasste, neben dem bereits rezensierten KAI3 in Hörnum nach weiteren Alternativen Ausschau zu halten. Auch die zweifach besternte Meierei Dirk Luther in Glücksburg konnte uns keinen freien Tisch anbieten, so dass sich die Suche nach lohnenden Lokalen schon rasch als recht komplizierte Angelegenheit herausstellen sollte. Bei meinen Recherchen wagte ich folglich auch den Blick über den Tellerrand hinaus und erkundigte mich umgehend, wo es in Dänemark überall besternte Restaurants gibt. Schnell musste ich feststellen, dass sich die Mehrzahl der vom Guide Michelin ausgezeichneten Restaurants im Großraum Kopenhagen befindet und für meine Zwecke damit nicht infrage kam. Überhaupt stieß ich nur auf ein einziges Sternerestaurant in Grenznähe – ein gewisses Syttende, das mit einem Stern ausgezeichnet ist und von dem ich bis dato noch nie etwas gehört hatte. Aufgrund seiner Lage in Sønderborg am nördlichen Ufer der Flensburger Förde lag es zumindest in plausibler Reichweite, weshalb ich meine Bemühungen etwas intensivierte. Zu meiner nicht geringen Überraschung stellte ich schnell fest, dass das Lokal praktisch 90 Tage im Voraus ausgebucht war, was für einen Einsterner – zumal in einer eher dünn besiedelten Region –  alles andere als die Regel darstellt. Neidlos musste ich anerkennen, dass die hochprofessionell anmutende Homepage des Lokals sehr ansprechend gestaltet war und die Philosophie des Hauses, von der später noch die Rede sein wird, schön veranschaulicht wurde, auch wenn die Website des Lokals – aus guten Gründen, wie ich später erfahren sollte – keine Speisekarte enthielt. Regelmäßige Besuche auf der Seite ließen in mir die Erkenntnis reifen, dass allenfalls durch kurzfristige Absagen an einen freien Tisch zu denken war, denn hin und wieder wurde doch ein oder zwei Tage vorher unerwartet ein Platz frei. Meine Neugier und mein Ehrgeiz waren fraglos geweckt – in den Tagen vor und während des Urlaubs überprüfte ich geradezu manisch mehrmals am Tag, ob sich an einem der zwei für uns möglichen Termine nicht doch unverhofft eine Gelegenheit bieten würde, das Lokal zu besuchen.

Nach gefühlt zwei Dutzend Anläufen sollte es dann klappen: tags zuvor wurde ein freier Tisch angezeigt, doch ausgerechnet in diesem Moment befanden wir uns auf einer Busfahrt in den Dünen bei List auf Sylt – eine Gegend, die dafür berüchtigt ist, dass man dort eher selten Netzempfang hat. Wie auf glühenden Kohlen sitzend, hoffte ich auf eine möglichst baldige Wiederverfügbarkeit des Netzes, um die Reservierung samt Anzahlung in Höhe von DKK 500 pro Kopf zu entrichten. Es stand zu befürchten, dass mir jemand den Platz wegschnappen würde, aber gerade noch rechtzeitig konnte ich dank des wiederhergestellten Empfangs die so ersehnte Reservierung abschließen – mein inneres Frohlocken ließ sich kaum in Worte fassen!

So führte uns der Weg also am Aschermittwoch nach Sønderborg, einer Stadt mit etwa 27.000 Einwohnern an der Nahtstelle von Flensburger Förde und offener Ostsee. Ein besterntes Restaurant erwartet man in einem solchen Ort nicht notwendigerweise, aber ein Hotel der Steigenberger-Kette erst recht nicht. Und doch stehen wir abends vor dem imposanten Gebäude des achtzehn Stockwerke hohen Alsik-Hotels, dessen Lage am Wasser und zeitgemäße Fassade uns sofort anspricht. Beim Betreten der Lobby verstärkt sich dieser Eindruck noch, denn das hochwertige Interieur aus vornehmlich Glas und Holz hat etwas vollkommen Natürliches und sehr Einladendes zugleich – erst später erfahre ich übrigens, dass die gesamte Uferpromenade der Stadt auf Entwürfen des weltbekannten Architekten Frank O. Gehry basiert. Das Hotel selbst bietet nicht weniger als drei Restaurants (das Zweitrestaurant Freia haben wir tags darauf besucht und können es vorbehaltslos empfehlen), einen (zuschlagspflichtigen) Spabereich mit üppigen 4.500 Quadratmetern und hochmoderne Hotelzimmer, die selbst zur Hochsaison für unter € 200 zu haben sind. Warum haben wir eigentlich nicht dort übernachtet?!

Der Restaurantbesuch im Syttende beginnt quasi mit der Anmeldung in der Lobby, denn im Gegensatz zu anderen hoch gelegenen Hotelrestaurants verweist man uns hier nicht etwa auf den Aufzug, sondern wird in der Lobby per Lift von einem Restaurantmitarbeiter abgeholt, der zudem das erste kleine Häppchen auf einem Tablett mit Haube gleich mitbringt und während der Fahrt mit dem Aufzug zum Verzehr anbietet! Während dieser Fahrt erfahren wir außerdem, dass Syttende die dänische Ordnungszahl für „siebzehn“ ist und damit am besten mit „der, die oder das Siebzehnte“ zu übersetzen ist. Das Lokal mit dem ikonischen doppeldeutigen Logo, das eine Mischung aus dem Hotelturm und der Zahl 17 darstellt (ansehen!), liegt im siebzehnten Stock und bietet seinen Gästen außerdem ein Menü an, das aus siebzehn Teilen besteht – das sind die plausibelsten Erklärungen für den Namen des Lokals. Später wird sich noch eine dritte Deutung anbieten, denn der Lift führt geradewegs in den siebzehnten Himmel …

Geistiger Vater und Mastermind hinter dem Syttende ist der erfahrene Spitzenkoch Jesper Koch (mit dem Namen kann man ja nur ein großer Chef werden …), der hier im Herbst 2019 sein Lokal eröffnete und damit eine Art Liebeserklärung an seine Heimat Südjütland schuf. Auf den Teller gelangen nämlich immer handverlesene Produkte allererster Güte aus der Region, die nur sporadisch mit „eingewanderten“ Zutaten oder Gewürzen veredelt werden, wenn dies Sinn macht. Seien es nun Milch, Honig, Tomaten, Fleisch oder Fisch – Jesper Koch kennt seine Produzenten alle persönlich und kann daher akribisch genau seine Wünsche äußern. Seine Lieferanten lassen sich allzu bereitwillig darauf ein, denn zum einen wissen sie um die angemessenen Preise, die sie für ihre herausragende Arbeit und Produktion bekommen, und zum anderen sind sie selbst von der Idee beflügelt, ein Produkt in der denkbar besten Qualität zu erzeugen. Das Syttende darf nur beliefern, wer die exorbitanten Qualitätsansprüche des Chefs erfüllen kann, doch werden im Gegenzug die Auserkorenen in dem Buch über das Lokal, das jeder Gast zum Abschied bekommt, mit jeweils einer Doppelseite portraitiert und somit in ihrer Arbeit gewürdigt, was gleichzeitig einen schönen Werbeeffekt für die Produzenten bedeutet.

Jesper Koch, das Genie hinter diesem Konzept, verweilt an diesem Abend an anderer Stelle im Hotel, weil er auch für die beiden anderen Restaurants verantwortlich zeichnet und daher bisweilen seinen angestammten Arbeitsplatz im 17. Stock verlassen muss. Der Mann für solche Fälle heißt Peter Rødsgaard, den der Chef nach Wanderjahren in Dänemark in die Heimat zurückholte. Mit ihm als rechte Hand des Spitzenkochs ist das Lokal erstklassig besetzt, denn neben einer unfassbaren Kompetenz und der vollkommenen Verinnerlichung der hauseigenen Philosophie ist es auch seine ruhig-sachliche Art, die den Gast sofort spüren lässt, dass absolut jeder Handgriff sitzt und dieses Lokal höchst zuverlässig von seinem Stellvertreter geleitet werden kann –  mit diesem Traumduo an der Spitze ist das Lokal auch bestens für die Zukunft aufgestellt.

Unser Abend beginnt – wie schon vorhin angedeutet – mit einem ersten Apéro im Lift: auf einem kleinen Mürbteigtartelette komprimiert die Küche gebeiztes Eigelb, fermentierte Senfsaat und Knoblauch zu einer absolut hinreißenden Petitesse von großer aromatischer Finesse und (gerade bei der Würze) vorzüglicher Balance. Ein erstes Ausrufezeichen setzt die Küche somit schon vor der Ankunft im Lokal! Das erlebt man auch nicht alle Tage …

Das absolut zeitgemäß eingerichtete Lokal im siebzehnten Stock besticht mit viel Holz und Glas als Baustoff, hat jedoch auch einige größere Pflanzen (oder gar Bäumchen) und vor allem eine halboffene Schauküche zu bieten, die teilweise durch eine Glaswand abgeschirmt ist. Weitere Bereiche im Restaurant bilden eine großzügige Bar sowie einige separate Sitzecken, die der Einnahme der Petits fours zum Abschluss des Mahls dienen. Großflächige Fenster gestatten außerdem einen Paradeblick auf die Umgebung – wäre es nicht schon dunkel, dann würde unser Blick sicherlich noch mehrmals von den Tellern abschweifen …

Man geleitet uns sehr aufmerksam zu unserem Tisch nahe der Küche und direkt am Fenster, wo sogleich ein Apéritif offeriert wird. In meinem Fall besteht er aus einem Wermut mit Früchten und wird zusätzlich mit einem weiteren Begleiter aufgegossen, den ich angesichts der Vielzahl an zu notierenden Eindrücken leider unterschlage und daher nicht benennen kann – am vorzüglichen Geschmack hat es jedenfalls nichts geändert! Offeriert wird lediglich ein einziges Menü, das sich zumindest in Details von Tag zu Tag ändern kann und somit ständigem Wandel unterworfen ist. Es besteht aus siebzehn Teilen von nahezu identischer Portionsgröße und kostet DKK 1.995 (wobei 500 davon ja bereits angezahlt werden mussten, was angesichts des hier betriebenen Aufwands nur allzu nachvollziehbar ist) oder umgerechnet etwa € 265. Auf eine eigens kredenzte Wein- oder Getränkebegleitung aus alkoholfreien Getränken zum Menü des Abends (1.595 bzw. 850 Kronen) verzichten wir zugunsten einer persönlichen Zusammenstellung aus der Getränkekarte mit zwei großen Flaschen von Van-Nahmen-Säften, die beide nicht einmal jeweils umgerechnet € 20 kosten werden – für dänische Verhältnisse ein mehr als fairer Preis.

Die Karte beinhaltet außerdem die Philosophie des Hauses, die kurz zusammengefasst wie folgt lauten könnte: auf den Teller gelangen nur handverlesene Produkte, die von exquisiter Qualität sind und durch meisterhafte Verarbeitung in der Küche ihre volle Strahlkraft erlangen. Dabei liegt der Fokus bevorzugt auf saisonalen Produkten aus Südjütland, doch kosmopolitischen Einflüssen verschließt man sich nicht generell. Die Messlatte wird damit extrem hoch gehängt – so sehr, dass wir uns fragen, ob die Küche nicht an ihrem selbst gesteckten Anspruch scheitern muss.

Da keine Gerichte zur Auswahl stehen, legen wir die Karte rasch beiseite und harren einfach neugierig der Dinge, die da kommen mögen. Fortgesetzt wird der Reigen an Apéros mit Varianten von Sellerie als Cannelono sowie Crème und etwas Rogen. Was zunächst nicht sonderlich aufregend klingt, wird durch die Beigabe von Basilikum und Ingwer in einem spanischen Olivenöl zu einem leidenschaftlich umgesetzten Happen, dessen Vorzüge man rein optisch betrachtet leicht unterschätzen könnte. Die nahezu monothematische Komposition bezieht ihren Reiz (genau wie alle Nachfolger) auch nicht aus Showeffekten, sondern aus einer geradezu unheimlichen Fokussierung und Konzentration auf die besten aromatischen Eigenschaften des Hauptprodukts. So wird aus einem vermeintlich schlichten Gemüse schnell mal ein Erlebnis ersten Ranges. Beeindruckend!

Etwas auffälliger gebärdet sich Meerrettich-Sahne, die lediglich mit etwas Dill und weiteren Kräutern verfeinert wurde. Durch die ultimative Schlichtheit lenkt im Prinzip nichts vom reinen Geschmack ab, der einfach atemberaubend ist: die geniale Intensität, welche die Schärfe des Meerrettichs gekonnt abfedert, wird mit einer perfekten Balance gepaart und führt zu einem unglaublichen Aromenflash, der ohne Schnickschnack auskommt. Wir sind sprachlos.

Deutlich mehr Umami bringt das nächste Schälchen ins Spiel: recht bescheiden als Sud von karamellisierter Zwiebel mit Kaviar annonciert, wird durch geräucherten Aal und wohldosiertes Chili daraus eine höchst subtil gewürzte, aber säurebetonte Kreation von insgesamt recht kühler Temperatur. Die komplementäre Salinität des Kaviars fasziniert noch zusätzlich, so dass man auch diesem puristisch anmutenden Apéro bedenkenlos das Attribut der unumschränkten Großartigkeit verleihen kann.

Mein absoluter Favorit in dieser praktisch nur aus Geniestreichen bestehenden Parade an Einstiegen ist das Dinkelschälchen mit Shiitake-Crème und indonesischem Pfeffer, den die Küche von einem älteren Pärchen bezieht, das seit längerer Zeit zu den Stammgästen gehört und die von ihren Reisen dem Chef nur allzu bereitwillig das Beste aus fernen Landen mitbringen. Doch auch die aus einer heimischen Zucht stammenden Pilze tragen ihren unübersehbaren Anteil zu diesem überragenden Häppchen bei, das durch eine geradezu rauschhafte Umami-Fülle mit betont erdigen Noten besticht. Überraschenderweise bringt der Pfeffer im Abgang nicht nur eine würzige, sondern auch leicht kräutrige Note ins Spiel, die nicht nur von dem Basilikum obenauf herrührt. Die perfekt abgeschmeckte Pilzcrème ist von perfekter Fluffigkeit und von solch betörender aromatischer Dichte, dass die minutiöse Zubereitung in der Küche mir schon jetzt allerhöchsten Respekt abnötigt.

Flowersprout (eine Kreuzung aus Rosenkohl und Grünkohl, für die es bis heute keine eigene deutsche Bezeichnung gibt) in frittierter Form und reduziertes Sojaöl von unerhörter Komplexität (mit Noten von Shoyu, Ponzu, Yuzu und geklärter Butter) entpuppt sich als die handwerklich wohl komplexeste Eingebung, denn das leicht erwärmte Gericht vereint Purismus und wohltuende Texturen (welch superber Biss!) auf solch faszinierende Weise, dass man nur spekulieren kann, wie viel minutiöse Präzisionsarbeit und Experimente im Vorfeld dafür nötig waren, um insbesondere ein so fabelhaft verarbeitetes Öl zu erzeugen. Phänomenal gut!

Der letzte Einsteiger rückt Jerusalem-Artischocke (besser bekannt unter dem Namen Topinambur) in den Mittelpunkt und platziert diese auf einer braunen Butter. Letztere gerät mir ein wenig zu stark, kaschiert sie doch die geschmacklichen Details des Topinamburs in Texturen eher. Ihre Veredelung mit australischer Fingerlime bringt dagegen eine belebende Säure ins Spiel, die diesem Ausklang unter den Apéros dennoch zu einem ausgezeichneten Eindruck verhilft. Halten wir fest: abgesehen von der marginalen Kritik beim temporären Finale gab es nicht das Geringste zu beanstanden. Im Gegenteil: jegliche Skepsis bezüglich der Erlangung der durch die Küche selbst gesteckten Ziele hatte sich schon zu diesem Zeitpunkt als vollkommen unbegründet erwiesen.

Es verwundert mich in nicht geringem Maße, dass ein derart unprätentiös gestaltetes Menü einen solchen Adrenalinrausch in mir freisetzen konnte. Zwei Gründe dafür drängen sich mir auf: zum einen traut man einem Einsterner eine solch fantastische Leistung in der Regel nicht zu, und zum anderen hat mich bislang noch kein anderes Menü von solch bescheiden anmutendem Habitus derart begeistern können. Erstaunlich, wie gekonnt die Küche vermag, ihre große Kunst hinter einer harmlos anmutenden Fassade regelrecht zu verstecken und doch ein Maximum an Tiefenschärfe, Eleganz und unfassbaren Wohlgeschmack aus bislang jedem Beitrag zu zaubern. Da der Mehrzahl der sensationsgierigen Blogger hier zudem kein schillerndes Design auf den Tellern geboten wird, ist es nur allzu verständlich, welch ein Geheimtipp dieses Lokal bis heute geblieben zu sein scheint (was sich nach dieser Rezension vielleicht ändert!?).

Übrigens steht nach vollbrachter Parade die Stippvisite in der Küche an – neben einem sehr erhellenden und informativen Gespräch mit Peter Rødsgaard (samt Foto) ist es auch eine absolute Wonne, der hochprofessionellen Küchenbrigade bei der konzentrierten Arbeit zuzuschauen, wenngleich in der Schauküche vor allem die Anrichte erfolgt. Ein angebotenes Schlückchen Craft Beer schlage ich aus Gründen der Höflichkeit ebenfalls nicht aus, obwohl ich Bier eigentlich nicht ausstehen kann – soweit hat mich dieses Lokal jetzt schon gebracht! Das kann ja heiter werden …

Nach einem in allen Belangen exzellenten Reigen an Gaumenkitzlern wünscht man sich natürlich eine Fortsetzung dieses Niveaus – und wird nicht enttäuscht: zwar ist der erste Gang von der Menge her kaum größer als die Apéros zuvor, doch angesichts von siebzehn (übrigens absolut sättigenden und tief befriedigenden) Gängen mutet eine klassische Nomenklatur, die Gerichte etwa in Vorspeisen und Zwischengänge einteilt, als ziemlich entbehrlich an. Hier denkt man in anderen Kategorien, denn die Präsentation der allerbesten saisonalen Produkte wirkt hier weitaus wichtiger als steife Konventionen. Dementsprechend ist auch das Gericht aus Kohlrabi und (regionalem) Forellenkaviar auf das absolut Essentielle beschränkt, um ein unverfälschtes und so natürlich wie möglich wirkendes Ergebnis zu erzielen. Das Kalkül geht einmal mehr perfekt auf, denn eine hausgeklärte Butter verleiht dem in Ingwer und Kurkuma gegarten Kohl eine geradezu aristokratische Noblesse. Die ultimative Harmonie steuert allerdings der karamellisierte Kefir bei, der in seiner seidig-leichten Süßlichkeit und süffigen Konsistenz nicht von dieser Welt ist. Nicht zuletzt dank der variablen Texturen und der bedingungslosen Hinwendung zum Hauptprodukt wird daraus einmal mehr ein hervorragender, ja geradezu traumhafter Gang.

Jesper Koch weiß ganz genau um die Stärken seiner Küche und geht kein Risiko ein, indem er etwa auf Techniken oder Stilistiken setzt, die „artfremd“ anmuten würden. So weiß der Gast zwar frühzeitig, dass im Grunde genommen jeder Beitrag von schierer Reduktion und einer sich an der Grenze zur Zauberei bewegenden Verfeinerung lebt, doch bekommt man im Gegenzug die Garantie, dass praktisch jeder einzelne Baustein des 17-gängigen Menüs an der Perfektion kratzt.

Die handgetauchte Jakobsmuschel ist ein Signature Dish des Hauses: das wunderbar glasige, zwei Minuten lang bei 62° Grad gedämpfte Prachtexemplar thront auf einem mit Amalfi-Zitrone verfeinerten Purée und Sauce von Birnenquitte, in welcher auch noch winzige Texturen von Piemonteser Haselnuss versteckt sind. In aromatischer Hinsicht wagt die Küche hier mehr als zuvor, aber angesichts glasklar herausgearbeiteter Aromen und der wunderbar sämigen Sauce wird das makellose Handwerk einmal mehr fast mühelos bestätigt. Biss und nussige Aromen stellen eine unerwartet überzeugende Ergänzung in diesem Gang voller Überraschungen dar – nicht weiter verwunderlich, warum dieses Schälchen als geradezu exemplarisch für den hier zelebrierten Küchenstil angesehen werden darf. Ganz hervorragend!

Fortgesetzt wird die Menüfolge mit einem der optisch auffälligeren Beiträge des Abends: Kartoffeln von halbfester Konsistenz ruhen auf einer geräucherten und mit geklärter Butter verfeinerten Sauce von toskanischem Kopfsalat. Die unendlich komplexe Basis dieses Gerichts weist – wie ich später erfahre – zusätzliche Aromen von Weißkohl auf. Gerade im Verbund mit dem Ossietra-Kaviar scheint hier eine schier unüberbrückbare Diskrepanz zwischen profanen Viktualien und Luxusprodukten vorzuliegen, doch die minutiöse Veredelung führt einmal mehr zu einer spannungsgeladenen Kombination, die einander keinesfalls widerspricht und prächtig funktioniert.

Selbst bei der Brotauswahl wird das Streben nach Perfektion deutlich: neben dem hausgemachten Sauerteigbrot sind es vor allem die Aufstriche, die unsere besondere Aufmerksamkeit bekommen. Deren komplexe Herstellung zu erläutern erweist sich angesichts knapper Notizen als unmöglich, weshalb eine grobe Beschreibung genügen muss. Das hintere Schälchen weist deutliche Noten von Eigelb auf, während der wunderbar verfeinerte körnige Frischkäse davor unsere Vorstellungen davon, was bei so einem Produkt möglich ist, in eine neue Dimension verschiebt. Das vordere Schälchen schließlich beinhaltet ein stark mit Kräutern verfeinertes Olivenöl und rundet dieses Trio würdig ab. Der Inhalt aller drei Schälchen ist so großartig hergestellt, dass wir nichts davon übriglassen und die Behältnisse blitzblank in die Küche zurückwandern.

Danach steht der kostenlose Besuch auf der vollverglasten und rundum begehbaren Empore im 16. Stock des Hotels an, was uns die Gelegenheit gibt, das bisher Erlebte zu reflektieren und nach Erklärungen dafür zu suchen, wie es möglich ist, dass ein solches Lokal nur einen Michelin-Stern vorzuweisen hat. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, denn nach unserer Rückkehr an den Tisch geht es weiter mit Portobello-Pilzen (von derselben Zucht wie schon die Shiitake-Pilze zuvor) in einer Dashi mit Akzenten von Entenleber und Thymian. Der extreme Purismus dieses Gangs treibt die bisher gezeigte Ästhetik auf die Spitze, doch bei genauem Hinschmecken kommt man einmal mehr nicht umhin, ob der geschmacklichen Tiefe und der verblüffend mürben Konsistenz der Pilze ins Schwärmen zu geraten.

Von allen Gängen gibt das nächste Gericht am wenigsten im Vorfeld preis: unter der Haut von Butternut-Kürbis versteckt sich eine recht cremige Farce von Truthahnbrust, die mit nichts weniger als fermentierten Bärlauchkapern, Mandeln und Preiselbeeren hochkomplex, aber höchst stimmig akzentuiert wird. Dank einer reizenden Vielfalt an Texturen wirkt das minimal nussige und ansonsten höchst erdig schmeckende Gericht in sich sehr stimmig. Vielleicht nicht der Höhepunkt der Menüfolge, aber noch immer bewegt sich das im absolut großartigen Rahmen.

In puncto Intensität dreht die Küche den Regler nun voll auf und suggeriert damit indirekt, dass sie trotz allem noch weiß, was ein Hauptgericht ausmacht: Châteaubriand vom heimischen Kalb wird mit Fett bestrichen und einer generösen Portion an schwarzen Trüffeln bedeckt, doch die vom Service angekündigten Noten von Paprika und Thymian schmecken wir bei alledem dennoch deutlich heraus. Die kräftige, mit Noilly Prat verfeinerte Jus korrespondiert prächtig mit den Blaubeeren an der Seite und kleidet so das einfach großartige Fleisch in ein kraftvoll-erdiges Gewand von unerhörter Tiefe. Fraglos ein würdiger Höhepunkt!

Danach wird es Zeit für die Ausklänge: den ersten Teil der süßen Trilogie läutet Apfel ein. Das auf einer Crème von weißer Schokolade platzierte Apfelsorbet mit Pulver von grünem Apfel und einem kleinen Schmetterling aus weißer Schokolade stellt einen spritzigen und prickelnden Kontrast zum Vorgänger dar, der an dieser Stelle in dramaturgischer Hinsicht eine clevere Wahl darstellt. Der Sud von grünem Apfel ist allerdings mit Muskateller vermischt und zusätzlich mit etwas Szechuan-Pfeffer gewürzt, was bei diesem etwas sommerlich anmutenden Dessert unerwartete Schärfe ins Spiel bringt. Trotz des wenig saisonalen Charakters gibt es an dieser zauberhaften Kreation ansonsten nichts weiter auszusetzen.

Das zweite Dessert wartet mit drei Kugeln auf, deren Hülle aus weißer Schokolade, Pfefferminz und Kefir hergestellt wurde. Die drei verschiedenen Füllungen bestehen aus Orange, Pflaume und Kräutern, so dass durch die „falsche“ grüne Füllung ein unerwarteter Effekt eintritt und die Süße gar nicht so dominant erscheint. Das mit herber, dunkler Schokolade aus dem fernen Tansania vermischte Roggenbier-Porridge als Basis treibt dem Gang die Zuckerlastigkeit noch weiter aus und verhindert, dass die Aufmerksamkeit des Gastes angesichts eines vorhersehbaren Geschmacks erlahmt. Das Dessert erinnert mich entfernt an Thomas Yoshida Wolke aus dem Berliner Facil, denn letztlich sind es hier wie dort die überraschenden Füllungen, mit denen Erwartungen gekonnt getäuscht werden.

Das altmodischste Element des Abends dürfte die silberne Etagère zum Abschluss darstellen, doch belegt ist sie durchaus opulent mit eher klassisch anmutenden Petits fours. Auf den drei Ebenen tummeln sich eine Praline von weißer Schokolade mit Mokka und Crunch, ein Yuzu-Macaron, Kokos-Congolais mit Timut-Pfeffer, eine Kiwi-Praline aus dunkler Schokolade und ein Cannelé mit Bora-Bora-Vanille. Des weiteren findet man einen Rumtrüffel, eine dunkle Schokoladenpraline mit Salzkaramell und Calvados, dann ein gewürztes Madeleine, weiterhin Meringue mit Rhabarber und zu guter Letzt getrocknete Mandarine in Calvados eingelegt. Wir haben sichtlich Mühe, all dies noch zu verzehren, aber angesichts des vorzüglichen Geschmacks wollen wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, vorzeitig kapituliert zu haben. Wer etwa bei der Verdauung noch etwas Hilfe benötigt, kann an der Bar noch einen passenden Absacker bestellen oder dem Prunkstück des Hauses, einer exorbitanten Auswahl an Rochelt-Bränden, zusprechen.

Was für ein rauschhaftes Mahl! So bemerkenswert dieses Essen in vielerlei Hinsicht war, so schwer fiel es mir später, das Erlebte auch nur annähernd vollständig und würdig in Worte zu fassen. Der Versuch, sämtliche Facetten dieser Darbietung zu berücksichtigen, muss fast zwangsläufig scheitern, obwohl ich in diesen Bericht so viel Energie und Enthusiasmus wie in noch keinen anderen bisher gesteckt habe. Ein längeres Fazit genehmige ich mir trotzdem.

Siebzehn Gänge von nahezu identischen Portionsgrößen – was im Vorfeld abschreckend klingen mag, ist in Wirklichkeit so virtuos umgesetzt, dass nicht einmal das leiseste Anzeichen von Langeweile Einzug hält. Die gewaltige Bandbreite der hier abgebildeten Produkte, die geradezu pedantische Suche nach dem bestmöglichen Geschmack und der vollständige Verzicht auf Showeffekte verdeutlichen jederzeit, dass der Gast einen Ausnahmekoch auf seinem Weg begleiten darf, dessen Ziel nichts Geringeres als geschmackliche Perfektion ist. Ob es so etwas überhaupt geben kann, will ich hier nicht näher erörtern, sondern vielmehr feststellen, dass sich die Küche bereits verdammt nahe an diesem Ziel bewegt und voll überzeugt, selbst wenn natürlich bei siebzehn Beiträgen nicht jedes einzelne Häppchen gleich viel Anklang bei jedem Gast finden kann. Tatsache ist, dass sich die Küche jedenfalls keinen Ausrutscher in Form eines deutlich abfallenden Gerichts gestattete oder in ihrer Intensität vorzeitig nachgelassen hätte. Welch große Kunst stellt es dar, über vier Stunden hinweg einen derartigen Spannungsbogen aufzubauen, dass man auch noch nach dem sechzehnten Schälchen sehnsüchtig und ohne jede Ermüdung den finalen Ausklang erwartet! Wahrscheinlich kann man nur durch ganz genaues und konzentriertes Verkosten die Expertise der Küche würdigen, doch durch den Verzicht auf optische Ablenkung erschließt sich letztlich auch unerfahreneren Gästen, dass die unerhörte Reduktion auf das wirklich Wesentliche erst die volle Entfaltung des Eigengeschmacks der Viktualien ermöglicht. Die eingesetzten Techniken zur Verfeinerung wirken dabei stets organisch und sind immer der klaren Forderung nach größtmöglichem Wohlgeschmack ohne jede Verfälschung untergeordnet. Die Menüfolge kann übrigens von Tag zu Tag schwanken, da sie hochgradig von der Verfügbarkeit bestimmter Produkte abhängt – weshalb sie auch nicht auf der Homepage veröffentlicht wird.

Der Service unter Lasse Wietz verdient sich ebenfalls allerhöchstes Lob: die Brigade zeigt sich polyglott und kommuniziert sicher mit Gästen in Englisch und größtenteils auch Deutsch, was bereits auf die internationale Ausrichtung des Lokals und die entsprechende Klientel hindeutet. Weit mehr als Standard stellt die Tatsache dar, dass die Gläser selbst für einen gewöhnlichen Saft von Van Nahmen im Voraus geschwenkt werden und der Saft aus der Flasche in eine optisch ansprechendere Karaffe umgefüllt und auf Eis gekühlt wird. Alle Getränke werden ausführlich erklärt, alle Gerichte sekundengenau und stets synchron vom Tablett vor den Gast gestellt – auch das Maß an Erklärungen zum jeweiligen Gericht ist trefflich dosiert. Ein Plausch in der Küche mit den top motivierten Mitarbeitern (allen voran Peter Rødsgaard) samt einem Gläschen hausgemachtem Craft Beer sowie der obligatorische Besuch der atemberaubenden und vollverglasten Plattform im 16. Stock sind feste Rituale eines Besuches hier. Außerdem bekommen wir am Ende den gläsernen, begehbaren Weinschrank gezeigt, der in erstaunlicher Breite und Jahrgangstiefe bestückt ist. Für Gäste mit einem besonders erlesenen Weingeschmack hat man auch etwas zu bieten: ich werde auf ein ausziehbares Regal mit den sieben kostbarsten Flaschen der Sammlung aufmerksam gemacht. Darauf befinden sich etliche Pretiosen aus Bordeaux und Burgund, wie zum Beispiel vom Château Pétrus oder der aberwitzig teuren Domaine de la Romanée-Conti. Der Wert dieser sieben exzeptionellen Flaschen beläuft sich übrigens auf gerade mal schlappe € 100.000! Welcher Einsterner gönnt sich sonst solche Weine? Außer dem ehemaligen Königshof und dem Tantris DNA in München fällt mir trotz längeren angestrengten Nachdenkens kein weiteres Beispiel ein …

Ob der Ästhetik der zahlreichen kleinen Schälchen die Zukunft gehört, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Manche mögen vielleicht der Tradition eines opulenten und überaus raffiniert zusammengesetzten Hauptgerichts nachtrauern, aber für Anhänger einer solchen Stilistik gibt es ja immer noch genügend Alternativen. Hier hingegen gibt es eine fast kaleidoskopartige Palette an unterschiedlichsten Produkten allerbester Qualität aus Südjütland zu bestaunen, die ins beste Licht gerückt wird und ein klares Bekenntnis zur Heimat darstellt. Das Konzept des Syttende ist zweifellos tragfähig und mag unser Verständnis davon, wie gehobenes Dinieren in Zukunft aussehen soll, bereichern, wobei Skandinavien im Allgemeinen ja derzeit als die Region in Europa gilt, die am meisten zur Erneuerung überkommener Konzepte und Entwicklung neuer Ideen beiträgt. Jedenfalls muss sich dieses Lokal keinesfalls hinter den namhafteren dänischen Konkurrenten in Kopenhagen wie dem Geranium oder dem Jordnær verstecken. Noch radikaler geht sicherlich das überaus gehypte Alchemist vor, aber die unaufgeregte, ja geradezu bescheidene Art, mit der sich das Syttende inszeniert, empfinde ich als wohltuend, auch wenn sie der maßlosen Unterschätzung der hier gezeigten Arbeit fast schon Vorschub leistet. So motiviert das gesamte Team den ganzen Abend wirkte, so sehr wird hier ein fast schon verlegen anmutendes Understatement praktiziert, das ich in dieser Form auch noch selten erlebt habe: man gewinnt den Eindruck, Jesper Koch möchte suggerieren, dass man hier eigentlich gar nichts Besonderes leistet – nichts könnte jedoch weiter von der Wahrheit entfernt sein!

Ich schätze mich einfach nur sehr, sehr glücklich, dieses Restaurant überhaupt entdeckt zu haben. Es war die Umstände auf jeden Fall wert, denn noch niemals zuvor habe ich in einem Einsterner eine vergleichbare Weltklasseleistung erleben dürfen: das wunderbare Credo des Hauses, der unvergleichlich konzentrierte Geschmack auf den Tellern, die atemberaubende Lage und Architektur, der perfekteste Service aller Zeiten und die minutiöse, hochprofessionelle Vorbereitung aller Details machten aus diesem Besuch ein Erlebnis solch außergewöhnlicher Art, dass ich fürchte, es nie wieder in einem anderen Einsterner nochmals erleben zu dürfen. Ich sage das in aller Deutlichkeit: für mich müsste dieses Lokal fraglos drei Sterne haben. Die Tatsache, dass ich diesen Besuch derzeit auf Rang 8 meiner besten Restaurant-Erlebnisse überhaupt einordne, möge meine tiefe Bewunderung und Anerkennung für diese Leistung würdig zum Ausdruck bringen.

Ein Besuch hier verschiebt kulinarische Horizonte und wird nur schwerlich mit einer Enttäuschung enden – sichern Sie sich am besten rasch einen Tisch, bevor es sich endgültig herumspricht, was für ein kulinarisches Juwel Jesper Koch hier aus dem Boden gestampft hat! Das Syttende ist ein bedingungsloses Bekenntnis zu seiner Heimat – und meine Rezension eine unumschränkte Liebeserklärung an sein herausragendes Restaurant.

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

Syttende
Nørre Havnegade 23
6400 Sønderborg (Dänemark)
Tel.: 0045-7420-3000
www.syttende.dk

Guide Michelin 2022: *

17-gängiges Menü: DKK 1.995