Schach: 400 weitere berühmte Züge (Teil 1: 1858 – 1927)

Das Einstiegsdiagramm entstammt der Partie Capablanca – Bernstein, Sankt Petersburg 1914. Was der am Zug befindliche kubanische Meister hier auspackte, können Sie selbst ausknobeln oder unter Beitrag Nr. 27 nachlesen.

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Nachdem nun einige Zeit seit der Vollendung meiner Serie mit jeweils 100 berühmten Zügen einer bestimmten Figur verstrichen ist und ich seither über jede Menge bemerkenswerter Beiträge gestolpert bin, habe ich mich nun entschieden, die Serie in weiteren zehn Teilen à 40 Beiträge auszubauen, so dass unterm Strich 1000 berühmte Züge (oder solche, die es wert wären, berühmter zu sein) stehen werden.

Diesmal werden die Beiträge allerdings chronologisch geordnet sein. Zum einen war es nicht möglich, auch nur annähernd gleich viele Königszüge wie Bauernzüge aufzutreiben. Zum anderen ist der Lerneffekt sicherlich auch größer, wenn man nicht im Voraus weiß, welche Figur als nächstes ziehen wird.

Ansonsten wird sich nicht viel ändern gegenüber der Serie, die ich vor einem Jahr begonnen habe. Ich wünsche kurzweilige und anspruchsvolle Unterhaltung mit dem ersten Teil der insgesamt zehn Beiträge umfassenden Serie.

 

1. Morphy – Herzog Karl und Graf Isouard, Paris 1858
Stellung nach dem 9. Zug von Schwarz

Waren das noch Zeiten, als in den Pausen von Opernbesuchen Schachpartien in Logen gespielt wurden! Für Paul Morphy waren solche Anlässe nicht nur Gelegenheiten, sein Einkommen aufzubessern, sondern auch Kontakte mit der hohen Gesellschaft zu knüpfen. Dass die adligen Gegner (hier Herzog Karl und Graf Isouard) selbst dann meist nicht den Hauch einer Chance hatten, wenn sie sich berieten, war dabei der Regelfall. Mit seiner überragenden Spielstärke zertrümmerte der Amerikaner seine Gegner praktisch nach Belieben, doch diesen beiden Herren war wenigstens die Ehre vergönnt, in die Schachgeschichte einzugehen. Mit schnörkellosem Spiel schuf Morphy eine immergrüne Partie, die aufgrund ihres berühmten Schlusses für immer im Gedächtnis aller Schachspieler bleiben dürfte. Als größter Glücksfall ist dabei wohl die Tatsache anzusehen, dass irgendein hellsichtiger Kiebitz diese Partie notierte und dem Vergessen entriss.

Morphy zog an dieser Stelle bekanntlich 10. Sc3xb5! c6xb5 11. Lc4xb5+ Sb8-d7 12. 0-0-0 Ta8-d8 13. Td1xd7! Td8xd7 14. Th1-d1 De7-e6 15. Lb5xd7+ Sf6xd7 16. Db3-b8+!! Sd7xb8 17. Td1-d8# und verblüffte damit sicherlich nicht nur seine verdutzten Gegner, sondern auch die Kiebitze.

 

2. Morphy – NN, Blindsimultanvorstellung, New Orleans 1858
Stellung nach dem 20. Zug von Schwarz

Quasi als Freizeitbeschäftigung hielt sich Morphy selbst bei Laune, indem er immer wieder gegen Bezahlung dem staunenden Publikum seine überragenden Fähigkeiten demonstrierte. Hier entkorkte er die Zugfolge 21. Te1-e8!! Df8xe8 22. Dc3xf6! De8-e7 23. Df6xg7+!! De7xg7 24. f5-f6!. Selbst in klar gewonnenen Stellungen suchte Morphy stets nach dem zwingendsten Gewinnweg und fand ihn meistens auch noch – als ob es nichts Leichteres gäbe, das ohne Ansicht des Bretts gegen mehrere Gegner gleichzeitig zu finden! Nach drei weiteren Zügen gab Morphys Gegner auf. Übrigens hätte auch 22… Sc6-e5 wegen des prosaischen 23. Df6-g5 nichts geändert, so dass wir uns glücklich schätzen sollten, dass Morphys Kontrahent die Partiefolge zuließ.

 

3. Morphy – Maurian, New Orleans 1863
Stellung nach dem 33. Zug von Schwarz

Nach allem, was wir heute zu wissen glauben, war Charles Maurian ein Verwandter Morphys, der durch das ständige Spielen gegen ihn eine für die damalige Zeit beachtliche Spielstärke entwickeln und seinen berühmten Gegner hin und wieder bezwingen konnte. In dieser Partie hatte Morphy (wie meistens) einen Springer vorgegeben und trotzdem eine vielversprechende Stellung erlangt. Der Zug, den er hier folgen ließ, grenzt für mich an ein Wunder …

Paul Morphy spielte hier den Zug 34. a2-a4!!, der zwar nicht zwingend gewinnt, aber aus vielerlei Gründen einer Offenbarung gleichkommt. In einer Zeit, in der selbst einfachste positionelle Prinzipien noch nicht einmal formuliert waren (es dauerte noch gute zwanzig Jahre, bis Wilhelm Steinitz als Begründer des positionellen Spiels und erster Weltmeister in die Schachgeschichte eingehen sollte), war die Bedeutung positioneller Faktoren, die Nimzowitsch später entdeckte, noch gänzlich unbekannt. Das Niveau der Verteidigung war gemessen an heutigen Maßstäben erbärmlich, und Gambits mit großzügiger Preisgabe und Akzeptanz von geopfertem Material standen an der Tagesordnung.

Mit seinem Zug betritt Morphy praktisch eine neue Ebene, denn Maurian antwortete erwartungsgemäß 34… b4xa3? und wurde nach 35. Td7-g7+ Kg8-h8 36. Sh7-f8!! mattgesetzt. Nun kann man spekulieren, ob Maurian diese Pointe übersehen hatte oder stattdessen glaubte, dass es ohnehin keinen Ausweg für ihn gäbe. Mit seinem letzten Zug hatte Morphy nämlich Turmschachs auf der a-Linie verhindert, welche die Kombination, die er einen Zug später vom Stapel ließ, ruiniert hätten: nach sofortigem 34. Td7-g7+ Kg8-h8 35. Sh7-f8 mündet die Partie nach dem offensichtlichen 35… Te6-e1+ 36. Kg1-f2 (nicht 36. Kg1-g2?? wegen 36… Ta8xa2+ mit raschem Matt) 36… Te1-e2+ in ein Dauerschach, da 37. Kf2-f3?? Ta8-a3+ zum Matt führt.

Maurian hätte stattdessen auf 34. a2-a4!! mit dem akkuraten 34… f5-f4! fortsetzen können, um auf 35. Td7-g7+ Kg8-h8 36. Sh7-f8 mit 36… Te6-e1+ 37. Kg1-f2 Te1-f1+ 38. Kf2-g2 f4-f3+ zu antworten und die Stellung mit 39. Kg2-h3 Lc4-d3 im Gleichgewicht zu halten.

Dennoch relativiert dies Morphys Idee, mit einem En-passant-Zug ein lästiges Schachgebot des Gegners unmöglich zu machen, kein bißchen – speziell im Jahre 1863.

 

4. Hewitt – Steinitz, London 1866
Stellung nach dem 20. Zug von Weiß

An seinen freischwebenden Turm gegen von Bardeleben (Hastings 1895) reicht natürlich keine andere Kombination von Steinitz heran, aber verstecken muss sich der 1. Weltmeister hinter der nun folgenden Abwicklung auch nicht: 20… Tf2xg2+!! 21. Kg1xg2 Dh5-h3+!! 22. Kg2xh3 Sg4-e3+ 23. Kh3-h4 Se3-g2+ 24. Kh4-g5 Tf8-f5+ 25. Kg5-g4 h7-h5+ 26. Kg4-h3 Tf5-f2#!
Das Damenopfer abzulehnen hätte nach 22. Kg2-g1 Tf8-f2 23. Db3-f3 Tf2xf3 24. Sd2xf3 Sg4xh2! auch nichts geändert. Eine grandiose Kombination!

 

5. Hamppe – Meitner, Wien 1872
Stellung nach dem 9. Zug von Weiß

Diese als die Unsterbliche Remispartie bezeichnete Begegnung begann mit einem scharfen Abspiel der Wiener Partie – Schwarz opferte eine Figur, um den weißen König übers Brett zu jagen. Da Weiß nun nach Sa4-c3 droht, mit dem König zu entwischen, müssen radikale Maßnahmen her. Schwarz zog daher 9… De4xa4+!? und zerrte damit den gegnerischen Monarchen weiter ins Freie, obwohl 9… d5-d4!? gar keine so schlechte Kompensation geboten hätte. Die Partie endete darauf nach 10. Kb3xa4 Sa6-c5+ 11. Ka4-b4 a7-a5+ 12. Kb4xc5 Sg8-e7 13. Lf1-b5+ Ke8-d8 14. Lb5-c6! remis, denn auf 14… b7-b6+ 15. Kc5-b5 Se7xc6! hat Weiß nichts Besseres als den Springer mit 16. Kb5xc6 zu nehmen. Daraufhin folgt aber 16… Lc8-b7+!!, denn den Läufer nehmen darf Weiß wegen 17… Kd8-d7!! 18. Dd1-g4+ Kd7-d6! nicht. Also ist die Remisschaukel 17. Kc6-b5 Lb7-a6+ 18. Kb5-c6 La6-b7+! erzwungen, denn 18. Kb5-a4?? darf sich Weiß wegen 18… La6-c4! nicht erlauben. Was für ein Finale mit gerechter Punkteteilung!  

 

6. Knorre – Chigorin, Sankt Petersburg 1874
Stellung nach dem 10. Zug von Weiß

Mikhail Chigorin spielte in dieser Stellung zwar ein fraglos spektakuläres und starkes Opfer mit 10… h4xg3!!, aber zwingend gewinnen müssen hätte das Opfer nicht. Victor Knorre setzte zunächst korrekterweise mit 11. Sf7xd8! fort, denn 11. Sf7xh8? ist nach 11… Lc5xf2+ klar schwächer: 12. Kg1-h1 Dd8-e7! 13. Sh8-f7 Sf6-g4! gibt Schwarz auch starken Angriff, da 14. Dd1-f3 nun wegen des verstopften Feldes f7 harmlos ist und 14… Sc6-d4 gewinnt. In der Partie folgte auf das Schlagen der Dame 11… Lc8-g4 12. Dd1-d2 Sc6-d4, womit die kritische Stellung erreicht war. Weiß zog hier 13. Sb1-c3?? und musste nach 13… Sd4-f3+ im nächsten Zug wegen des unabwendbaren Matts aufgeben – dagegen hätte der einzige Zug 13. h2-h3! nach 13… Sd4-e2+ 14. Dd2xe2! eine weiterhin spielbare Stellung ergeben. Schwarz kann nicht analog zur obigen Variante 13… Sd4-f3+?? spielen, da sein Angriff nach 14. g2xf3 Lg4xf3 15. Dd2-g5! zu spät käme.

Ungeachtet der verteidigungsfähigen weißen Stellung machen Chigorins Weitsicht und seine genaue Berechnung gehörig Eindruck, da er wohl kaum alle Abspiele bis ins letzte Detail erfasste.

 

7. Hvistendahl – Pollock, London 1885
Stellung nach dem 27. Zug von Weiß

Mit einer der grandiosesten Kombinationen, die ich je gesehen habe, ging diese Kaffeehauspartie spektakulär zu Ende. Über den Weißspieler ist nichts weiter bekannt, aber William Pollock war immerhin ein Teilnehmer am berühmten Turnier in Hastings 1895. Anhand seiner einmaligen Abwicklung in dieser Stellung wird schnell deutlich, dass der Nachziehende alles andere als ein Durchschnittsspieler jener Zeit war: Pollock gab hier mit 27… Lf5xb1!! seine Dame preis und musste dabei lange im Voraus erkennen, dass Weiß nach 28. g3xh4 Tf8xf3! 29. Tf1xf3 Sh3-f2+! 30. Tf3xf2 Lb1-e4+ 31. Tf2-g2 Tg4xg2 auf Verlust steht, obwohl er am Zug ist und ein gewaltiges materielles Übergewicht hat. Eine phantastische Stellung! Schwarz droht nun durch ein Abzugsschach wahlweise mattzusetzen oder die weiße Dame zu erobern – dagegen ist Weiß tatsächlich ohne Verteidigung! Nach dem relativ besten Zug 32. Dd2-f4 erlangt Schwarz nach 32… Tg2-g4+ 33. Df4xe4 Tg4xe4 34. Se2-g1 (traurige Notwendigkeit) 32… Te4xh4 ein gewonnenes Endspiel. Anton Hvistendahl spielte stattdessen 32. Se2-c3?, musste aber logischerweise nach 32… Tg2xd2+ aufgeben, da ihn 33. Sc3xe4 Td2-d1+ den Läufer kostet.   

 

8. Chigorin – Steinitz, Telegraphenmatch 1890, 1. Partie
Stellung nach dem 16. Zug von Schwarz

In diesem Duell zwischen zwei der stärksten Spieler des 19. Jahrhunderts kam ein Zug aufs Brett, der einen geradezu fassungslos macht, wenn man bedenkt, in welchem Jahr er gespielt wurde. Selbst viele moderne Spieler würden Chigorins Zug wahrscheinlich nicht finden, aber selbst stärkste Engines heutiger Tage zollen seiner Entscheidung höchsten Respekt und würden genauso fortsetzen wie es einst Mikhail Chigorin hier tat!

Mit sicherem Gespür erkannte Chigorin den entscheidenden Defekt in der bereits suspekt anmutenden schwarzen Stellung. Steinitz‘ zweimaliger Herausforderer um den Thron des Weltmeisters spielte hier den spektakulären Rückzug 17. Lg5-c1!!, dessen Idee darin besteht, im nächsten Zug den Läufer nach a3 zu ziehen und so den Verteidiger des schwarzen Turms auf b8 zu überlasten. Steinitz verteidigte sich mit 17… Sh6-g8 18. Lc1-a3! c6-c5 (es drohte 19. Da7xb8!). Damit verhinderte er zwar Materialverlust, aber in positioneller Hinsicht kommt sein letzter Zug natürlich einer positionellen Bankrotterklärung gleich. Das tödlich geschwächte Feld d5 und der rückständige Bauer auf der d-Linie geben Weiß eine klare Gewinnstellung, auch wenn Chigorin für die Verwertung noch zwanzig Züge benötigte, dabei aber niemals den Gewinn aus der Hand gab. Der Fairness halber sei allerdings hinzugefügt, dass selbst die Engines nach Chigorins extrem kraftvollem Rückzug nichts Besseres als 17… Ld6-c7 18. Lc1-a3 Lc7xb6 19. Da7xb8 Df8xa3 20. Db8xc8+ mit mittelfristig verlorener Stellung anbieten. Rückzüge als entscheidende Verstärkung des Angriffs wurden damals kaum in Erwägung gezogen – und selbst heute sind sie immer noch sehr leicht zu übersehen.

 

9. Charousek – Wollner, Kosice 1893
Stellung nach dem 16. Zug von Schwarz

Der jung verstorbene tschechische Meister Rudolf Charousek spielte hier die Kombination seines Lebens – nicht sehr kompliziert, aber spritzig wie Champagner und einmalig schön!

Weiß setzte forciert matt: 17. De2-e8+!! Ta8xe8 18. f7xe8=D+ Ld7xe8 19. Lf4xd6#!
Offenbar gab Schwarz wohl auf, bevor Weiß den letzten Zug ausführen konnte – welch ein Frevel!

 

10. Tarrasch – Romberg, Nürnberg 1893
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz

Dr. Siegbert Tarrasch hatte in dieser Partie seinen Turm auf a1 vorgegeben und wies nun auf selten schöne Weise nach, dass sein Gegner in dieser Stellung dennoch forciert verliert. Er opferte hier nämlich die Dame mit 15. Dh5xh6+!! Kg7xh6 16. Sg5-e6+ Kh6-h5 17. Sd5-f4+ Kh5-h6 18. Sf4-e2+ Kh6-g6 19. Tf1-f6+!! Kg6xf6 20. Lc1-g5+ Kf6-g6 und setzte seinen Gegner sehenswert mit 21. Se2-f4#! matt. Zwei Schwerfiguren so attraktiv zu opfern macht einfach Spaß!
Was für ein phantastisches Mattbild nur mit Leichtfiguren auf dem vollen Brett!

Stattdessen hätte auch die offensichtliche Alternative 18… Kh6-h5 im 18. Zug wegen des Clous 19. Tf1-f5+!! Lg4xf5 (oder 19… Kh5-g6 20. Tf5-f6+!! analog zur Partie) 20. Se2-g3+ Kh5-h4 (oder 20… Kh5-g6 21. e4xf5+ Kg6-f6 22. Lc1-g5#) 21. Lc1-g5+ Kh4-g4 22. Lc4-e2+ und Matt im nächsten Zug verloren. Eine traumhafte Kombination!

 

11. Pillsbury – Gunsberg, Hastings 1895
Stellung nach dem 28. Zug von Schwarz

Dies ist mutmaßlich das berühmteste Springerendspiel der Schachgeschichte, auch wenn nach einer Transformation letztlich ein Bauernendspiel daraus wurde.

Nach dem Rückzug des angegriffenen weißen Springers würde Gunsberg seinen Springer auf c6 plombieren und eine vollkommen sichere Stellung haben. Pillsbury hatte jedoch andere Pläne und berechnete eine tiefe Kombination exakt. Er zog hier 29. c5-c6!! und musste dabei nicht nur etliche Nebenvarianten beachten, sondern auch die spätere Schlüsselstellung in der Partie richtig einschätzen. Nach 29… Ke7-d6 30. f5xe6! hat Schwarz wegen 31. e6-e7 keine Zeit, den weißen Springer zu schlagen. Ergo ging die Partie mit 30… Sb8xc6 31. Sb4xc6 Kd6xc6 weiter. Pillsbury musste hier den Zug 32. e3-e4! unbedingt vorausahnen, denn ohne diese Option wäre seine Stellung nun sogar verloren! Mit seinem Kraftzug stellt Pillsbury dagegen sicher, dass der kostbare Freibauer auf e6 am Leben bleibt. Nach 32… d5xe4 33. d4-d5+ gewann Weiß das anschließende Bauernendspiel sicher.

 

12. Sobernheim – Langleben, New York 1895
Stellung nach dem 17. Zug von Weiß

Es gibt wohl kaum einen Schachfreund, der nicht die berühmte freie Partie zwischen Edward Lasker und George Thomas (London 1912) kennt: mit Hilfe eines Damenopfers auf h7 wird der schwarze König in einem Magnetmatt übers ganze Brett gescheucht und schließlich auf der gegnerischen Grundreihe mattgesetzt.

Dieser wenig bekannte Vorläufer sollte eigentlich gleichberechtigt neben der eingangs erwähnten Partie stehen, denn die Ähnlichkeit ist frappierend. Mit dem Damenopfer 17… Db4-a3+!! zerrte Schwarz den gegnerischen König ins Freie – Weiß kann das Opfer nicht gut ablehnen, da Schwarz sonst in Kamikaze-Manier Springer und Turm auf b3 mit Gewinnstellung opfert. Weiß setzte also fort mit 18. Kb2xa3 Sc5xd3+ 19. b3-b4!, was noch Widerstand leistet (der Königszug nach a4 hätte dagegen ein zweizügiges Matt gestattet). Nach 19… Tb8xb4 war der kritische Punkt der Partie erreicht. Mit 20. Dh3-h4!! hätte Weiß hier den dämonischen Läufer auf e7 loswerden können und um den Preis einer etwas schlechteren Stellung nach 20… Le7xh4 21. Sf3xh4 Tb4xf4 noch gut weiterkämpfen können. Vielleicht sah Eugen Sobernheim das Ablenkungsopfer sogar, glaubte aber, dass Schwarz kein Gewinn zur Verfügung stünde. Was auch immer der Grund war – Weiß wählte hier jedenfalls (dankenswerterweise) 20. Td1xd3? und wurde nach dem sehr sehenswerten Finale 20… Tb4-b1+ 21. Ka3-a4 Lc8-d7+ 22. Ka4-a5 Le7-d8+ 23. Ka5-a6 Ld7-c8+ 24. Ka6-a7 Ld8-b6+ 25. Ka7-a8 Lc8-a6#! eindrucksvoll in der Brettecke erlegt!

 

13. Schlechter – Meitner, Wien 1899
Stellung nach dem 32. Zug von Schwarz

Bei einer solch überschaubaren Menge an Material auf dem Brett liegt etwas Außergewöhnliches nicht gerade sehr nahe. Außerdem ist der weiße König ziemlich exponiert und scheinbar genauso gefährdet wie der schwarze König, der sogar in den Angriff einzugreifen scheint.

Carl Schlechter, der Dr. Emanuel Lasker im WM-Kampf 1910 nur deshalb nicht die Schachkrone entriss, weil er die letzte Partie (als einzige von zehn!) verlor und der Kampf damit unentschieden endete, war ein überaus starker und zu wenig beachteter Spieler jener Zeit. Hier zauberte er eine unwahrscheinliche Kombination aufs Brett: durch das Hinlenkungsopfer 33. Dg7xh6+!! garantierte er um den Preis einer vollen Dame seinem König einen Zug lang Sicherheit vor lästigen gegnerischen Damenschachs. Nach 33… De6xh6 krönte er seine Kombination mit dem stillen Zug 34. Kg1-h2!, worauf es kein Entrinnen gegen die Mattdrohung 35. Ld4-f2# gibt! Schwarz gab auf.

 

14. Chigorin – Mortimer, Paris 1900
Stellung nach dem 13. Zug von Schwarz

In dieser Stellung erfreut sich Weiß eines deutlichen Materialvorteils, doch die ungelenke Koordination seiner Figuren gibt Schwarz reichlich Kompensation. So dürfte es wohl auch der Schwarzspieler, der Meister James Mortimer, gesehen haben – bis Chigorin seinen nächsten Zug entkorkte und ein Damenopfer anbot: 14. Sf3-e5!! scheint tatsächlich eine ziemlich gewonnene Stellung für Weiß zu ergeben! In der Partie folgte das praktisch erzwungene 14… Te3-e2+ mit Damengewinn, da das Nehmen mit dem Läufer die Springergabel auf e4 ermöglichen würde. Chigorin wickelte stattdessen ganz nach Plan mit 15. Df2xe2 Lg4xe2 16. Ld3xe2, was nicht nur die schwarze Dame angreift, sondern auch die Drohung einer Springergabel auf c6 in den Raum stellt. Eine Pointe der Kombination besteht darin, dass Weiß das naheliegende 16… Lb4xc3+ nun unerwartet mi 17. Kd2-d1!! beantworten kann, um ein Springerschach auf e4 zu verhindern. Auf 17… Dh5-h4 18. b2xc3 steht Weiß sehr gut, da 18… Kb8xb7?? ganz einfach an 19. Ta1-b1+ Kb7-c8 20. Le2-a6+ Kc8-d8 21. Tb1-b8+ scheitern würde. Andernfalls deckt Weiß aber den Bauer mit Le2-f3 oder Ta1-b1 und behält entscheidendes Übergewicht.

Mortimer versuchte dies zu umgehen, indem er sofort 16… Sf6-e4+ zog und nicht auf c3 nahm. Der eigentlich traumhafte Teil der Kombination offenbarte sich jetzt, denn nach der unerwarteten Fortsetzung 17. Kd2-d3!! Se4-f2+ 18. Kd3-c4!! griff seine Majestät höchstpersönlich ins Geschehen ein und trug maßgeblich zur Vermehrung des Materials bei. Nach 18… Dh5-h6 setzte Chigorin der Kombination mit 19. Le2-f3! (droht Matt) 19… c7-c5 20. Se5-d7+ Kb8-c7 21. Lc1xf4+! die Krone auf. Schwarz hätte hier schon aufgeben können, denn nach dem Rückgewinn der schwarzen Dame durch die Springergabel auf d5 wird Weiß zuviel Material behalten. Wahrscheinlich machte Schwarz im Schockzustand noch sechs weitere Züge vor der Aufgabe.

 

15. Halprin – Pillsbury, München 1900
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz

In dieser Stellung hätte Weiß nach der schwarzen kurzen Rochade wohl nur nebulöse Kompensation, weshalb Alexander Halprin in dieser Stellung – die übrigens aus der heute topaktuellen Berliner-Mauer-Variante im Spanier (!) hervorging – gegen seinen berühmten Gegner alles auf eine Karte setzte und mit 15. Sc3-d5!! zu zaubern begann. Schwarz muss das Opfer annehmen, da Weiß auf b6 zu nehmen droht und auch 15… Dd7-c6?? an 16. Sd5-e7! scheitert.

Die Partie wurde fortgesetzt mit 15… e6xd5 16. Tf1-e1+ Ke8-f8 (stattdessen würde 16… Ke8-f7 zumindest den Zug 17. Te1-e7+ mit ziemlich schwer abzuschätzenden Konsequenzen gestatten) 17. Ta1-a3! Sg6-e5 18. Te1xe5! d6xe5 19. Ta3-f3+ Kf8-g8 20. Lg5-h6! Dd7-e7 (das Nehmen des Läufers ist wegen 21. Tf3-g3+ Kg8-f8 22. Dh5xe5 als dubios anzusehen) 21. Lf6xg7 Kg8xg7. Nun forcierte Weiß das Remis mit abwechselnden Turmschachs auf g3 und f3.

Es ist einerseits bedauerlich, dass Halprins schönes Opfer nicht gewann, aber ohne diesen Zug wäre Weiß ja eher schlechter gestanden. Außerdem musste sich Pillsbury nach dem Schock umsichtig verteidigen – was ihm zwar gelang, aber beileibe keine Selbstverständlichkeit darstellte.

Mag sein, dass eine ausgiebige Analyse vielleicht noch das eine oder andere Detail zutage fördern würde, aber der Gesamteindruck einer gerechten Punkteteilung dürfte weiter bestehen.

 

16. Mieses – Janowski, Paris 1900
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz

Es ist schon bemerkenswert, dass im Jahr 1900 gleich drei so außergewöhnliche Partien fabriziert wurden, wenn man bedenkt, wie wenige Partien damals im Vergleich zu heute gespielt wurden.

Ich wäre nicht überrascht, wenn sich selbst in dieser Stellung der Meister David Janowski noch gefragt hätte, weshalb sich sein Gegner auf diese Stellung eingelassen hatte. Selbstverständlich ist der Freibauer auf h6 ein echtes Problem aus schwarzer Sicht, aber Figurenverlust scheint hier für Weiß unabwendbar. Hatte sich Weiß etwa im Vorfeld schlicht verkalkuliert?

Der Nachziehende sollte die Antwort auf seine Frage bekommen, als Jacques Mieses hier wohl völlig überraschend für Schwarz das Damenopfer 24. Dg6-g7!! anbot. Natürlich wurden schon viele andere berühmte Damenopfer in der Schachgeschichte ersonnen, aber was diesen Beitrag so besonders macht, ist dass Weiß nicht „aktiv“ die Dame für gegnerisches Material opfert und seine Dame einfach der angreifenden Figur des Gegners entgegen zieht. Das Schlagen der Dame würde Weiß nicht nur Turm und Springer einbringen, sondern eine weitere Beförderung seines ohnehin schon quecksilbrigen Freibauern auf die 7. Reihe. Es ist gut denkbar, dass Janowksi selbst hier noch optimistisch gestimmt war, da er ja die feindliche Dame keineswegs sofort nehmen muss und sie vorerst wegen des hängenden Springers auf g3 auch nicht wegzurennen droht. Nach den weiteren Zügen 24… Lb7-c8 25. Sg3-f5 Lc8xf5 26. Tf1xf5 Lc5-b4 hätte die weiße Dame die g-Linie trotz des dann möglichen Turmschachs auf g1 mit 27. Dg7-e7 räumen können, da Weiß in diesem Fall nicht auf g1 nähme, sondern sofort den anderen Turm nach f1 beordert.

Mieses hatte aber offenbar inzwischen an der bizarren Stellung seiner Dame Gefallen gefunden und setzte hier mit dem deutlich schwächeren 27. Kc1-b1?! fort, worauf Schwarz wirklich auf g7 hätte nehmen sollen. Nach 27… Tg8xg7 28. h6xg7 Th8-g8 sähe die Stellung für Schwarz ganz ordentlich aus – es sei denn, Weiß findet den Monsterzug des Computers 29. Tf5-f7!!. Damit deckt Weiß prophylaktisch den g-Bauern und verhindert ein Schachgebot auf g1 einen weiteren Zug lang. Schwarz kann seinen Springer wegen des weißen Turmzugs nach f8 nicht ziehen und steht auf Verlust. Nach dem menschlichen Zug 29. Th1xh7 würde der Nachziehende hingegen nach 29… Db6-g1+ immer noch mitmischen, selbst wenn Weiß hier das unfassbare 30. Sc3-d1!! finden würde. Danach kann sich Schwarz mit 30… Kb8-b7!! 31. Ld2xb4 Dg1xd1+ „revanchieren“, auch wenn er weiterhin hart ums Remis kämpfen müsste. Was für Computervarianten …!

In Wirklichkeit setzte Janowski mit 27… Lb4xc3 28. b2xc3 Sh7-f8 29. Th1-f1 Sf8-g6 fort, woraufhin Mieses seine Dame, nachdem sie sechs (!) Züge lang eingestanden hatte, nach d7 abzog und kurz danach den Sieg ungefährdet einfuhr. 

 

17. Reggio – Mieses, Monte Carlo 1903
Stellung nach dem 22. Zug von Weiß

Dass Jacques Mieses heute zu den am häufigsten unterschätzten Meistern seiner Generation gehört, bewies er immer wieder mit glänzenden Einfällen. Die Diagrammstellung, in der Weiß einen Taimanov-Sizilianer (zu einer Zeit, da der Namensgeber dieses Systems noch nicht einmal geboren war!) völlig misshandelt hatte, bildet da keine Ausnahme.

Ein Damenschach auf e3 würde sich in dieser Stellung als sofort tödlich für Weiß erweisen – das geistreiche, aber leider fehlerhafte 22… Le7-h4+? würde Weiß nach 23. Ke1-e2! sogar in Vorteil bringen, da bei Schwarz plötzlich einiges hinge. Es ist wahr, dass Mieses hier eine „Nebenlösung“ in Form von 22… Tg8xg2! zur Verfügung stand, die objektiv sogar ein wenig stärker als sein Partiezug sein mag. Allerdings wäre diese Partie dann für immer unter dem Radar geblieben, was hingegen nach Mieses‘ tatsächlich gespieltem Zug 22… Tg8-g3!! nicht behauptet werden kann. Aus heiterem Himmel stellt Schwarz den Turm ungedeckt auf ein doppelt vom Gegner kontrolliertes Feld, doch es gibt keinen guten Ausweg für Weiß. Der Bauer darf nicht nehmen, weil damit dem Feld e3 die notwendige Deckung entzogen wäre, aber nach 23. Dh3xg3 Le7-h4! musste sich Weiß von seiner Dame verabschieden. Nach fünfzehn weiteren Zügen war der schwarze Sieg dann in trockenen Tüchern.

 

18. Teichmann – Beratende, Glasgow 1905
Stellung nach dem 28. Zug von Schwarz

In dieser wenig bekannten Partie hatte der deutsche Meister Richard Teichmann sein Glück bereits kräftig strapaziert, als die sich beratenden Schwarzspieler ein paar Züge zuvor einen klaren Gewinn ausgelassen hatten. Hier hätte Weiß nun mit dem einfachen 29. De7-e6+ spürbaren Vorteil behalten können, doch Teichmann schwebte etwas anderes vor …
Er spielte hier unschuldig 29. Kh2-g3! und konnte dabei darauf bauen, dass der geistreiche Plan, der ihm vorschwebte, nur auf eine schwer zu findende Art zu parieren gewesen wäre. Teichmanns Eingebung erhielt in der Partie ihre Würdigung, denn nach der indifferenten Antwort 29… a7-a5? war Schwarz nach 30. Kg3-h4!! in der Tat bereits in großen Schwierigkeiten. Vermutlich dürften die Schwarzspieler hier nun allmählich gemerkt haben, was ihnen blühte: nach 30… g7-g6? setzte Weiß zielstrebig mit 31. Te2-e3 fort und gewann vier Züge später, da Schwarz paralysiert ist.

Es bleiben noch zwei Dinge aufzuklären: erstens hätte Schwarz das drohende Eindringen des weißen Königs vorerst nicht verhindern müssen und mit 30… Tf8-a8! fortsetzen können, da das geplante 31. Kh4-h5?? an dem diabolischen Konter 31… Ta8-e8!! scheitern würde – Schwarz profitiert in diesem Fall davon, dass der weiße Springer an die Deckung des Bauern auf f5 gebunden wäre. Allerdings könnte Weiß stattdessen immer noch mit 31. De7-e6+ zum alten Plan zurückkehren und bei verbessertem König weiter auf Sieg spielen.

Zweitens hätten die Schwarzspieler Teichmanns kühnen 29. Zug unbedingt mit 29… Dd5-d3+ beantworten sollen, da ihnen auf 30. Kg3-h4 die scharfsinnige Verteidigung 30… Kg8-h7! zur Verfügung stünde. Das Schlagen des hängenden Turms auf f8 würde dann im Gegenzug den eigenen Turm ungedeckt lassen, und auch der Zwischenzug 31. Te2-e3 würde wegen 31… Dd3-d2 32. Te3-g3 Tf8-g8 nichts Zählbares einbringen. Mit dieser Wendung hätte Schwarz also im Spiel bleiben können, doch Teichmann baute sicherlich zurecht darauf, dass diese Verteidigung am Brett kaum zu finden war – vielleicht hatte sie Weiß selbst nicht einmal gesehen?!

 

19. Burn – Marshall, Ostende 1906
Stellung nach dem 31. Zug von Weiß

Man kann sich hier gut vorstellen, wie sich der britische Meister Amos Burn die weitere Entwicklung dieser Partie wohl bereits in den schönsten Farben ausmalte: nach 31… Kc6-c7 würde er ganz gelassen mit 32. h2-h4 seinen etwas wacklig stehenden Springer stützen und gute Siegchancen behalten. Frank Marshall schwebte jedoch etwas gänzlich anderes vor, denn er zauberte hier den unvorhergesehenen Konter 31… Lc8-d7!! aufs Brett. Diese Option war auch deshalb schwer vorherzusehen, weil Weiß scheinbar nicht zwingend den gegnerischen Turm nehmen muss. Die Alternative 32. De8-f7?? Sc5-e4+! ist schnell verworfen, aber 32. De8-h5? scheint nicht so schlecht zu sein. Nach 32… Ta8-g8 33. Tc1-e1 e6-e5!! 34. Te1xe5 Sc5-d3! steht Weiß allerdings schon auf verlorenem Posten.

Amos Burn erkannte die Gefahren wohl und griff mit dem objektiv korrekten 32. De8xa8! zu. Nach dem zu erwartenden 32… e6-e5! haben wir eine ziemlich groteske Situation auf dem Brett: man sollte nicht unbedingt erwarten, dass ein Läufer plus Bauer zwei Türme aufwiegen können. Zugegebenermaßen ist die weiße Dame temporär außer Spiel, aber so unsicher scheint der weiße König gar nicht zu stehen. In Wahrheit hat Weiß genau eine Verteidigung, die ihm gestattet, im Spiel zu bleiben: nach 33. Th1-f1! e5xf4+ 34. Kg3-f2! Df6xg5 entsteht eine komplizierte Stellung, die die Engines wenig hilfreich mit „0.00“ bewerten!

Amos Burn zog in der Partie allerdings das klägliche 33. Sg5-h3?? und stand nach 33… Df6-g6+ 34. Kg3-f2 Sc5-d3+ 35. Kf2-f1 Sd3xc1 vollkommen auf Verlust. Marshall gewann im 40. Zug.
Die psychologische Wende, vermutlich noch gepaart mit Zeitnot, hatte das Übrige getan.
Im Jahre 1906 so einen Gegenstoß zu sehen – das ist schon beeindruckend, wenn man bedenkt, auf welch teils erbärmlichem Niveau die Verteidigung zu jener Zeit immer noch war!

 

20. Duras – Spielmann, Wien 1907
Stellung nach dem 25. Zug von Schwarz

Weitaus leichter verständliche Kost hat dieses Beispiel zu bieten, aber die Schockwirkung auf den Nachziehenden dürfte dafür umso größer gewesen sein. In dieser scheinbar zweischneidigen Stellung machte der teschechische Meister Oldrich Duras umgehend Feierabend mit einem sensationellen Einschlag: da Schwarz nach 26. Td1-d8+!! in spätestens zwei weiteren Zügen seine Dame für ungenügende Kompensation einbüßt, sah sich Spielmann sofort zur Aufgabe genötigt. Einen Turm so freischwebend auf einem doppelt gedeckten Feld zu opfern gelingt nicht oft!

 

21. Salwe – Rubinstein, Lodz 1907
Stellung nach dem 35. Zug von Weiß

Der polnische Meister Akiba Rubinstein hatte hier eine Stellung erlangt, in der einfach „irgendetwas gehen muss“. Tatsächlich ist man als erfahrener Spieler geneigt, hier gleich Damenopfer auf g2 oder h2 und das Abzugsschach zu berechnen, doch scheitern sie allesamt. Außerdem muss Schwarz beachten, dass sein Läufer ja auch noch hängt. Rubinstein, der als einer der größten Techniker, aber kaum als großer Taktiker in die Schachgeschichte einging, bewies mit seinem nächsten Zug allerdings eindrücklich, dass er auch auf diesem Gebiet mit allen Wassern gewaschen war. Er entdeckte hier das grandiose Hinlenkungsopfer 35… Dg3-e1+!!, das nach der erzwungenen Abwicklung 36. Td1xe1 f3-f2+ sofort für klare Verhältnisse sorgt. Weiß stellte folgerichtig den Widerstand zwei Züge später ein.

 

22. Schlechter – Perlis, Karlsbad 1911
Stellung nach dem 6. Zug von Schwarz

Natürlich hatte der österreichische Meister Julius Perlis, der übrigens zwei Jahre nach dieser Partie bei einer Alpenwanderung erfror, hier nur mit dem offensichtlichen 7. Ta1xb1 gerechnet. Zu seiner Überraschung folgte hier jedoch der diabolische Zwischenzug 7. d5xc6!!. Es scheint zunächst als hätte Weiß hier die Option 7… Lb1-e4 missachtet, doch darauf würde 8. Ta1xa7!! folgen. Falls Schwarz den Turm nimmt, dann stellt 9. c6-c7! die Umwandlung des Bauern sicher.
Perlis erkannte die Gefahr und musste notgedrungen nach dem erzwungenen 7… Sb8xc6 mit einem Minusbauer weiterspielen, den Carl Schlechter im 45. Zug zum Sieg verwertete.

 

23. Duras – Spielmann, Bad Pistyan 1912
Stellung nach dem 44. Zug von Schwarz

Es ist ausgesprochen kurios, dass dieselben Kontrahenten wie im Beitrag Nr. 20 fünf Jahre später wieder aufeinander trafen und erneut ein echter Glanzzug die Angelegenheit besiegelte.

Die geradezu sinnverwirrende Kreuzfesselung auf e5 ist das alles dominierende Merkmal dieser Stellung. Ohne sie wäre Schwarz sofort Matt, weshalb Weiß hier mit 45. Df3-g3!! ein kühnes Verstellungsopfer anbot. Die Dame zu nehmen würde die entscheidende Diagonale verstopfen, so dass das daraufhin mögliche Doppelschach auf e8 die Partie sofort beenden würde. Weiß musste aber tiefer rechnen, denn Spielmann antwortete natürlich mit 45… Dd6xh6+. Nach 46. Dg3-h3 würde der Damentausch Schwarz in einer selten wehrlosen Lage zurücklassen, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb als mit 46… Dh6-d6 den alten Status quo wieder einzunehmen. Darauf antwortete Duras aber mit 47. Kh2-h1! und leichtem Gewinn. Dieser Zug war in der Diagrammstellung wegen des Schachgebots auf h6 unmöglich, doch mit seinem geistreichen Manöver hatte Weiß das entscheidende Tempo für die Versiegelung der h-Linie gewonnen. Spielmann machte noch mechanisch drei Züge und gab dann zurecht auf.

 

24. Aljechin – Levenfish, Sankt Petersburg 1912
Stellung nach dem 14. Zug von Schwarz

Grigori Levenfish gehörte zu den stärksten sowjetischen Meistern zwischen den beiden Weltkriegen (sein bei „Quality Chess“ erschienenes Buch Soviet Outcast ist ein ausgesprochen lesenswertes und seltenes Juwel), doch in dieser Partie hatte ihn der künftige Weltmeister Alexander Aljechin in einer Benoni-Struktur rasch überspielt. Ob sich Levenfish soeben den Bauer auf b2 voller Optimismus oder Verzweiflung einverleibt hatte, bleibt ungeklärt. Die berühmte Anekdote eines Schachfanatikers, der seinen Sohn zu enterben drohte, wenn er jemals mit der schwarzen Dame den weißen Bauer auf b2 nähme, passt hier auf jeden Fall! Aljechin knallte hier den Kraftzug 15. Sc3-b5!! aufs Brett, der zwingend gewinnt. Da dem Nachziehenden die Variante 15… a6xb5 16. Lc4xb5+ Lc8-d7 (oder 16… Ke8-d8 17. Ta1-d1+) 17. e6xd7+ Sf6xd7 18. Lf4-e5 wohl kaum zusagen konnte, entschied er sich für 15… Db2xa1+ 16. Ke1-f2 Da1xh1 17. Sd5-c7+ Ke8-d8 18. De2-d2+ Lc8-d7 19. e6xd7 und musste ebenfalls aufgeben.

Aljechins beispielloses Gespür für Dynamik war wegweisend für die damalige Zeit und zuvor allenfalls von Morphy in ähnlicher Weise (gegen klar schwächere Gegner) demonstriert worden.

 

25. Aljechin – Capablanca, Sankt Petersburg 1913
Stellung nach dem 33. Zug von Weiß

Diese beiden künftigen Weltmeister pflegten völlig unterschiedliche Spielstile und sollten die 1920er- und 1930er-Jahre mit ihrer Dauerfehde nachhaltig prägen.

In diesem frühen Duell erleben wir den höchst seltenen Fall, dass eine attackierte Dame sich entlang der Magistrale, auf der sie angegriffen wird, dem Angreifer entgegen zieht. Mit dem Traumzug 33… Dc4-c2!! stellte Capablanca die Weichen auf Sieg, denn im nächsten Zug droht vor allem der Einschlag auf f2 mit dem Läufer. Nehmen kann Aljechin die Dame aber auch nicht, da er nach 34. Tc1xc2 b3xc2 35. Sf3-d2 Lb6-a5 vollkommen auf Verlust stünde. Eine denkbare Fortsetzung wäre 36. De1-c1 Td6xd2 37. Kg1-h2 La5-c7+ 38. g2-g3 Td2xf2+ 39. Kh2-g1 Lc7xg3 mit erdrückendem positionellen Übergewicht.
Aljechin zog in der Partie 34. Kg1-h2, konnte aber nach dem einfachen 34… Dc2xb2 nur noch acht weitere Züge Widerstand leisten, da der Freibauer auf der b-Linie unaufhaltsam wurde.

 

26. Aljechin – Prat, Simultanpartie, Paris 1913
Stellung nach dem 21. Zug von Schwarz

Vorbei erscheinen die Zeiten, als die Tradition der Ankündigung eines forcierten Matts noch gepflegt wurde. Hier erleben wir Alexander Aljechin, wie er „ganz nebenbei“ in einer Simultanpartie ein Matt in zehn Zügen samt Damenopfer ankündigte – und damit recht hatte!
Er ließ hier eine fehlerfrei berechnete und erstaunliche Abwicklung vom Stapel:
22. De2-h5+!! Sf6xh5 23. f5xe6+ Kf7-g6 24. Lb3-c2+ Kg6-g5 25. Tf1-f5+ Kg5-g6 (nichts ändert 25… Kg5-h4 26. Te1-e4+ oder 25… Kg5-g4 26. h2-h3+ Kg4-g3 27. Te1-e3+ nebst 28. Te3-e4+ und Matt) 26. Tf5-f6+ Kg6-g5 27. Tf6-g6+ Kg5-h4 28. Te1-e4+ Sh5-f4 29. Te4xf4+ Kh4-h5 30. g2-g3!.
Was für ein Opfer – sauber! Schwarz gab auf
, da das Matt im nächsten Zug unabwendbar ist.

 

27. Capablanca – Bernstein, Sankt Petersburg 1914
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz

In dieser Stellung ersann das einstige kubanische Wunderkind José Raoul Capablanca eine der längsten, kompliziertesten und tiefgründigsten Kombinationen aller Zeiten. Sie zählt zu den bekanntesten und unfassbarsten Demonstrationen einer Rechenkunst, die schlichtweg atemberaubend ist. Jeder Schachfreund sollte sie einmal gesehen haben.

Schwarz leidet momentan an einer gewissen taktischen Anfälligkeit auf der c-Linie und hat außerdem noch nicht rochiert. Es scheint nicht so, als könne Bernstein dieses Versäumnis nicht zügig nachholen, doch Capablanca machte dem schwarzen Ansinnen einen Strich durch die Rechnung. Seine mutmaßlich größte Kombination leitete der Kubaner mit dem Hieb 16. b2-b4!! ein. Auf 16… Lc5-a7 (16… Lc5xb4? 17. Sc3-d5 Dc7-d6 18. Sd5xb4 Dd6xb4 19. Tc1xc6 wäre klar günstig für Weiß) 17. Ld3xb5! a6xb5 18. Sc3xb5 Dc7-d8 19. Sb5-d6+ Ke8-f8 20. Tc1xc6 Sd7-b6 entkorkte Capablanca nicht etwa 21. Sf3xe5, was sicherlich auch stark wäre, sondern 21. Lg3-h4!! mit der spektakulären, starken Fortsetzung 21… Dd8-d7 22. Sd6xc8! Dd7xc6 23. Dd1-d8+ Dc6-e8 24. Lh4-e7+ Kf8-f7 25. Sc8-d6+ Kf7-g6 26. Sf3-h4+ Kg6-h5 27. Sd6xe8 Ta8xd8, die in der Abwicklung 28. Se8xg7+ Kh5-h6 29. Sg7-f5+ Kh6-h5 30. h2-h3! kulminierte. Schwarz steht danach auf Verlust, zum Beispiel: 30… Td8-g8 31. h3xg4+ Tg8xg4 32. f2-f3. Bernstein präferierte 30… Sb6-c8, unterlag aber ebenfalls im 46. Zug.

Kein Mensch vermag zu sagen, wie viel davon genau Capablanca im Voraus gesehen hatte, aber eine funkensprühende Kombination bleibt es so oder so.

 

28. Bernstein – Capablanca, Moskau 1914
Stellung nach dem 29. Zug von Weiß


Eine weitere Partie mit denselben Kontrahenten (bei umgekehrter Farbverteilung) und aus demselben Jahr wurde wegen eines elektrisierenden Schlusszugs ähnlich bekannt.
Wahrscheinlich ahnte Bernstein hier nichts Böses, da 29… Db6-b1+? 30. De2-f1 Td8-d1?? an der Schwäche der schwarzen Grundreihe scheitern würde. Dennoch wurde dem Anziehenden seine eigene schwache Grundreihe zum Verhängnis, denn nach dem Kraftzug 29… Db6-b2!! musste Weiß einsehen, dass er mindestens einen Turm verliert und aufgeben kann – was er auch tat.

 

29. Schuster – Carls, Oldenburg 1914
Stellung nach dem 8. Zug von Weiß

Der praktisch unbekannte Weißspieler in dieser Partie bekam es hier mit dem erheblich stärkeren Bremer Meister Carl Carls zu tun, dem Witzbolde einmal den weißen Bauer auf c2 vor dem Beginn einer Partie festgeklebt hatten, weil er als Weißer stets mit 1. c2-c4 zu eröffnen pflegte.

Er kontte aber auch ganz gut die schwarzen Steine führen, denn er zog hier nicht etwa das naheliegende 8… g3xf2+?, sondern 8… Th8xh2! und setzte auf 9. Th1xh2 für Weiß sicherlich vollkommen überraschend fort mit 9… Dd8-a5+ 10. c2-c3 Da5xe5+!! 11. d4xe5 g3xh2. Einer solchen Kombination zum Opfer gefallen zu sein beeindruckte den armen Weißspieler so sehr, dass er sich zur sofortigen Aufgabe durchringen konnte.
Eine weitere, nicht unwesentliche Variante, die es zu beachten galt, hätte nach 10. Dd1-d2 (anstelle von 10. c2-c3) entstehen können. In diesem Fall würde 10… Da5xe5+? Schwarz sogar nach 11. d4xe5 g3xh2 12. 0-0-0 Lc8-d7 13. e5-e6! in Schwierigkeiten bringen, doch anstelle des Damenopfers würde Carls diesmal mit Hilfe des einfachen 10… g3xf2+ gewinnen.

 

30. Capablanca – Janowksi, Sankt Petersburg 1914
Stellung nach dem 10. Zug von Schwarz

Die geradezu prophetische Weitsicht, mit der Capablanca seine strategische Meisterschaft perfektionierte, sehen wir in diesem und dem nächsten Beitrag. Obwohl die Partien gegen Janowski nun auch schon mehr als hundert Jahre zurückliegen, haben sie immer noch das Potential, weniger erfahrene Schachfreunde zu überraschen.
Kasparov verlieh Capablancas nächstem Zug übrigens auch zwei Ausrufezeichen, weil das untrügliche Gespür Capablancas für Details absolut zukunftsweisend war – ihm verdanken wir etliche heute selbstverständliche, aber damals geradezu revolutionäre Ideen.

Selbst heute würden hier wohl noch viele Amateure damit beginnen, mit 11. a2-a3 nebst 12. b2-b4 einen Angriff am Damenflügel vorzubereiten. Gegen diesen grundsätzlichen Plan ist auch nichts einzuwenden, doch erkannte Capablanca, dass Weiß ein wichtiges Tempo sparen kann, indem er das wünschenswerte b2-b4 mit 11. Ta1-b1!! vorbereitet. Dies gestattet dem Anziehenden nämlich, seinen a-Bauer in einem Zug nach a4 vorzustoßen und somit ein wichtiges Tempo zu sparen. Nach 11… f7-f6 12. b2-b4 Sh6-f7 13. a2-a4 kam der weiße Angriff auf Touren, bevor Schwarz etwas Nennenswertes am Königsflügel hatte erreichen können. Capablanca siegte im 31. Zug.

 

31. Janowski – Capablanca, New York 1916
Stellung nach dem 10. Zug von Weiß

Ich erlebe heutzutage oft genug, dass viele Amateure zwar über die aktuellsten Partien gut informiert sind, aber dabei in ihrer Kenntnis des klassischen Erbes gravierende Lücken aufweisen. Dabei vertreten mehrere hochkarätige Trainer nach wie vor die Ansicht, dass eine Vertrautheit mit bedeutenden alten Partien wesentlich mehr für die Spielstärke als die oberflächliche und kurzlebige Beschäftigung mit den neuesten Duellen um die WM-Krone bringt.

Nehmen wir dieses Beispiel: wie viele Amateure würden auch heute noch hier ohne großes Nachdenken mit dem schablonenhaften 10… e7-e6?! fortsetzen? Capablanca empfand diese Herangehensweise zurecht als viel zu oberflächlich und spielte hier stattdessen das immer noch schockierend anmutende 10… Lf5-d7!!. Der Hauptgedanke hinter dem freiwilligen Rückzug besteht darin, dass sich Schwarz eine Strategie zurecht legt für den Fall, dass Weiß absehbarerweise irgendwann mit a2-a3 seine Stellung sichern möchte. Dann könnte Schwarz nämlich mit dem Manöver Sc6-a5, b6-b5 und Sa5-c4 weiter starken Druck auf die weiße Stellung ausüben. Dies ist natürlich nur mit der Kontrolle über das Feld b5 möglich.
Die Partie bestätigte Capablancas Weitsicht eindrucksvoll: nach den weiteren, teils von Weiß ungenauen Zügen 11. Lf1-e2?! (besser ist 11. Lf1-d3! nebst 12. Ke1-e2) 11… e7-e6 12. 0-0 Lf8-d6 13. Tf1-c1 Ke8-e7! 14. Ld2-c3 Th8-c8 15. a2-a3?! Sc6-a5 16. Sf3-d2 f7-f5 17. g2-g3 b7-b5 begannen sich die Konturen des schwarzen Plans abzuzeichnen. Schwarz siegte im 46. Zug.

 

32. Heltay – Janny, Budapest 1916
Stellung nach dem 12. Zug von Weiß

Diese kaum bekannte Partie, die zwischen zwei mir völlig unbekannten Spielern bestritten wurde, verrät kein besonders hohes Niveau, wenn man sich den bisherigen Partieverlauf anschaut. Umso erstaunlicher wirkt es da, dass Schwarz hier plötzlich zu Höchstform auflief, seine hängende Dame einfach ignorierte und die gnadenlose Keule 12… f4-f3!! auspackte, die Weiß angesichts unparierbarer Drohungen auf e3 und f2 sofort zur Aufgabe zwingt.

 

33. Bogoljubow – Aljechin, Hastings 1922
Stellung nach dem 30. Zug von Weiß

Es dürfte nur sehr wenige ernsthafte Schachfreunde geben, denen die Diagrammstellung noch nie untergekommen ist. In der mutmaßlich besten und berühmtesten Partie der 1920er-Jahre schlug Alexander Aljechin nicht etwa erwartungsgemäß auf a8 zurück, sondern schickte seinen Freibauer auf eine Amoktour mit 30… b4xc3!! 31. Ta8xe8 c3-c2!! 32. Te8xf8+ Kh8-h7. Wie Hirsebrei war der schwarze Freibauer aus dem Nichts in die weiße Stellung eingedrungen! Materiell gesehen wird Weiß zwar zwei Türme für die sogleich entstehende neue schwarze Dame haben, doch die unkoordinierte Stellung seiner Figuren, die hoffnungslos übers Brett verstreut sind, macht ernsthaften Widerstand praktisch unmöglich. Aljechin verwertete seinen Vorteil im 53. Zug und bot zwischendurch seine Dame übrigens auch noch zum Opfer an!
Unbedingt die ganze Partie nachspielen – es lohnt sich!

 

34. Aljechin – Yates, London 1922
Stellung nach dem 35. Zug von Schwarz

Ein kurzer Blick genügt um festzustellen, dass das positionelle Übergewicht des Anziehenden erdrückend ist. Wie schlägt man daraus aber am besten Kapital?
Alexander Aljechin fand eine selten schöne Lösung: er spielte hier 36. Sd7-f6!! Tg8-f8 37. Tf7xg7 und setzte auf 37… Tf8xf6 mit 38. Kf4-e5!! fort, was Schwarz in eine tragikomische Lage bringt. Sein Turm hängt und kann nur gerettet werden, indem einer der beiden Türme nach f8 zieht. Dies würde aber in beiden Fällen ein zweizügiges Matt gestatten, so dass sich Yates für eine dritte Möglichkeit entschied und die Partie aufgab. Erstaunlich elegant – wenn man’s weiß!

 

35. Aljechin – Chajes, Karlsbad 1923
Stellung nach dem 62. Zug von Schwarz

Dieses Beispiel habe ich wegen der besonders ästhetischen Optik in die Sammlung aufgenommen. Fraglos kann sich Weiß angesichts seiner drückenden positionellen Überlegenheit den Gegner nach Belieben zurecht legen und auf viele Arten gewinnen. Aljechin entdeckte aber ein Manöver, das wohl nicht vielen Spielern in den Sinn gekommen wäre. Völlig unvermittelt überführte er seinen Turm binnen zwei Zügen von einem Eck des Bretts in die gegenüberliegende Ecke nach 63. Th8-h1! Sf8-d7 64. Th1-a1!. Da Schwarz keine vernünftige Verteidigung gegen die Mattdrohung hat, gab Schwarz auf.

Dass ein Turm von einer der Ecken im gegnerischen Lager nach zwei weiteren Zügen in die gegenüberliegende Ecke überführt wird, ist ein höchst seltener Fall. Das einzige andere Beispiel, das sich mir aufdrängt, ist die Partie Karpov – Taimanov, Leningrad 1977. Selbst in dieser Partie kam das Manöver allerdings nicht aufs Brett, denn Karpov gab nach einem Springeropfer Taimanovs in der Endstellung auf, bevor sein Gegner die Fortsetzung demonstrieren konnte.
Sie finden das Beispiel übrigens als Beitrag Nr. 2 in 100 berühmte Springerzüge.

 

36. Aljechin – Sämisch, Berlin 1923
Stellung nach dem 17. Zug von Schwarz

In dieser Partie war der deutsche Meister Friedrich Sämisch, nach dem heute ein System der Königsindischen Verteidigung benannt ist, rasch in die Bredouille geraten. Das blieb nicht ohne Folgen, denn der gnadenlose Alexander Aljechin gestattete Schwarz hier nicht etwa eine Atempause, indem er seine angegriffene Dame zog, sondern mit 18. f5xe6!! fortsetzte. Darauf hat Schwarz zwei Optionen, doch beide erweisen sich als ungenügend.
In der Partie favorisierte Sämisch 18… Le5xg3 und gab nach 19. e6xf7+ Kg8-h8 20. Sc3-d5 auf. Wenn Schwarz 20… Dc7-a7 oder 20… Dc7-b8 antwortet, dann folgt 21. Sd4-c6 mit katastrophalen materiellen Einbußen. Dagegen würde 20… Dc7-b7 mit 21. Sd4-e6! und unparierbaren Drohungen widerlegt.
Allerdings hätte auch die Alternative zur Partie 18… f7xe6 nach 19. Sd4xe6 Le5xg3 20. Sc3-d5! nichts geändert, da nicht nur die schwarze Dame hängt, sondern auch das Schach auf e7 droht.
Ein weiteres beeindruckendes Beispiel für Aljechins beispiellose Dynamik!

 

37. Rubinstein – Hromadka, Mährisch-Ostrau 1923
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz

Anno 1923 hatte der polnische Weltklassespieler Akiba Rubinstein seinen Zenit schon überschritten, aber trotz eines ausgeprägt positionellen Stils war ihm sein taktisches Gespür in dieser scharfen Stellung nicht abhanden gekommen. Die Stellung auf dem Brett mutet zweischneidig an, doch mit der unerwarteten Riposte 25. Df2-b6!! kann Weiß erstaunlich rasch eine Klärung der Lage zu seinen Gunsten erzwingen. Auf 25… a7xb6 würde 26. a5xb6+ Lb8-a7 27. Ta1xa7+ Ka8-b8 28. Tf7xb7+ Kb8-c8 29. Ld3-a6 folgen, so dass als Alternative nur die Ablehnung des Angebots mit 25… Td8-d7 bleibt, wie Hromadka auch fortsetzte. Darauf hatte Rubinstein jedoch 26. Lg1-c5! vorbereitet. Da nun 26… Dd6-c7 nach Damen- und Turmtausch letztlich den Turm auf g8 einbüßen würde, wählte Schwarz 26… Td7xf7 27. Lc5xd6 Tf7-f2+. Auf 28. Kc2-b3? hätte Schwarz mit 28… Lb8xd6 noch ein wenig kämpfen können, da Weiß nun doch auf f2 nehmen müsste, aber nach dem sofortigen 28. Db6xf2! Sh3xf2 29. Ld6-c5! stellte Karel Hromadka angesichts zweier hängender Figuren den Widerstand ein.
Man kann sich ausmalen, welchen Schock der Nachziehende hier im 25. Zug verdauen musste!

 

38. Aljechin – Colle, Paris 1925
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz

Zugegebenermaßen gibt es schwierigere Beiträge in dieser Rubrik als dieses ikonische Beispiel, das in wohl keinem taktischen Lehrbuch fehlt – dennoch sollte es jeder Schachfreund kennen.
Aljechin beutete die unsichere Stellung des schwarzen Königs gnadenlos mit 30. Dc6xd7!! Td8xd7 31. Te1-e8+ Kg8-h7 32. Tc1-c8 aus und blieb nach dem letzten Schwindelversuch 32… Td7-d8 wachsam. Er antwortete mit 33. Te8xd8, worauf Colle dem Mattnetz nicht entrinnen konnte und aufgeben musste. Dagegen hätte 33. Tc8xd8? die Option 33… Dg5-c1+ nebst 34… g6-g5 mit unnötiger Zerstörung des Mattnetzes ermöglicht.
So leicht legte man den künftigen Weltmeister natürlich nicht herein!

 

39. Tartakower – Rubinstein, Moskau 1925
Stellung nach dem 30. Zug von Schwarz

Nahezu unbekannt ist im Vergleich dazu diese grandiose Kombination, die höchste Akkuratesse bei der Berechnung voraussetzte. Tartakower setzte hier äußerst stark mit 31. Tg3xg7!! fort, aber die Hauptschwierigkeit bei der Berechnung der Kombination entstand erst nach dem forcierten Abspiel 31… Te7xg7 32. Sh5xf6 Dd7-e7 33. Sf6xe8 De7xe8.
Es ist wahr, dass Weiß den gegnerischen Springer zurückerobern kann, doch die eigentliche Kunst bestand darin, lange im Voraus zu erkennen, dass dies möglich ist, ohne dabei im Gegenzug den eigenen stolzen Freibauer hergeben zu müssen. Beispielsweise könnte Weiß mit 34. f5-f6 Tg7-f7 35. Df2-e2 den Rappen einsacken, doch würde dabei der Stolz der weißen Stellung auf f6 verloren gehen.
Tartakower hatte aber alles richtig berechnet und ließ stattdessen mit 34. Df2-f4! erst gar keine Zweifel aufkommen. Auf 34… Tg7-e7 setzte er mit 35. f5-f6 fort und hatte dabei natürlich die Riposte 35… Se5-g6! (hoffnungslos ist 35… Te7-e6 36. Te4xe5! Te6xe5 37. f6-f7) berücksichtigen müssen. Darauf hatte Weiß jedoch 36. Te4xe7 Sg6xe7 37. f6-f7! mit Gewinn in petto.
Rubinstein gab auf, nachdem er diesem Kombinationswirbel zum Opfer gefallen war.

 

40. Kmoch – Nimzowitsch, Bad Niendorf 1927
Stellung nach dem 53. Zug von Weiß

Aaron Nimzowitsch konnte die von ihm in seinem Buch Mein System vertretenen Theorien und Erkenntnisse in dem hier vorliegenden Endspiel, das zu den berühmtesten aller Zeiten gezählt werden muss, eindrucksvoll demonstrieren.

Schwarz hat nicht nur einen Freibauer mehr, sondern auch siginfikanten Raumvorteil. Die entscheidende Frage lautet, ob Schwarz die Blockade seines Gegners auf den dunklen Feldern erfolgreich überwinden kann. Nimzowitsch gab eine eindrucksvolle Antwort: 50… Tb7-b4!! sollte seinen Freibauern um den Preis eines ganzen Turms den Weg ebnen. Da Schwarz nun plant, seinen Turm über a4 nach a2 in die weiße Stellung eindringen zu lassen, ist die Annahme des Opfers erzwungen. Kmoch setzte stark mit 51. c3xb4 a5-a4 52. b4-b5+! fort, um die Blockade des Feldes a3 aufrecht halten zu können – ohne diesen Zug würde Schwarz den König nach b5 stellen und dann seinem a-Bauer den Marschbefehl erteilen.
Nimzowitsch hatte aber auch diese geistreiche Riposte berücksichtigt und erkannt, dass er nach 52… Kc6xb5 53. Ld6-a3 c4-c3 54. Tb2-b1 Kb5-c4 und der Eroberung des weißen d-Bauern eine derart gefährliche Lawine an Freibauern bilden kann, dass selbst ein Mehrturm Weiß nicht vor der Niederlage bewahren kann. Kmoch verlor im 63. Zug.

 

Selbst Partien aus grauer Vorzeit haben oftmals viele reizvolle und interessante Momente zu bieten, wenn man nur lange genug hartnäckig nach Lohnenswertem sucht. Ich hoffe, mit dieser Mischung aus berühmten und weniger bekannten Beiträgen wieder eine lehrreiche Kompilation zusammengestellt zu haben, die auch der Förderung der eigenen Spielstärke dient.

 

Damit, lieber Leser und Schachfreund, ist Teil 1 dieser zehnteiligen Serie abgeschlossen.
Schon bald dürfen Sie sich auf Teil 2 freuen.