Die Diagrammstellung zeigt eine Stellung aus einer Simultanvorstellung des tatarischen Großmeisters Rashid Nezhmetdinov. In dieser hochkomplexen Stellung widerlegte er kurzerhand eine ganze, bis dato als spielbar geltende Theorievariante – andere würden sich an dieser Aufgabe wahrscheinlich schon die Zähne ausbeißen, wenn sie nicht nebenher noch andere Partien zu spielen hätten! Schaffen Sie es?
Die alles andere als einfache Lösung finden Sie in Beitrag Nr. 70.
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Nachdem der erste Teil vor einigen Tagen veröffentlicht wurde, geht es nun weiter mit dem zweiten Teil, der uns bis in die Mitte der 1950er-Jahre führt, als die Sowjets das Geschehen im Weltschach quasi nach Belieben dominierten.
Auch diese Folge bietet wieder eine Sammlung von spektakulären, irrwitzigen und unglaublichen Einfällen auf dem Brett, das für Schachspieler die Welt bedeutet.
Wie immer wünsche ich auch diesmal wieder viel Spaß beim Nachspielen und Knobeln!
41. Aljechin – Fletcher, Simutanpartie, London 1928
Stellung nach dem 25. Zug von Schwarz
Ich finde es bis zum heutigen Tage höchst erstaunlich, wie der mit einer unvergleichlichen kombinatorischen Visionsgabe ausgestattete Alexander Aljechin selbst in Simultanvorstellungen seine Gegner regelmäßig mit grandiosen Opfern in Grund und Boden spielte. Man bedenke übrigens, dass Aljechin nach wie vor der einzige Weltmeister ist, der amtierend verstarb.
Hier zauberte er beispielsweise mit leichter Hand das Damenopfer 26. Dd3xe4!! aufs Brett. Nach 26… f5xe4 27. Lg2xe4+ Kh7-h8 28. Sh4-g6+ steckte Schwarz in einer grässlichen Zwickmühle, welche der frischgebackene Weltmeister sehr sehenswert mit 28… Kh8-h7 29. Sg6xf8+ Kh7-h8 30. Sf8-g6+ Kh8-h7 31. Sg6-e5+ Kh7-h8 32. Se5-f7#! ausbeutete.
42. Lilienthal – Kertesz, Budapest 1929
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
Der erste Eindruck in dieser vogelwilden Stellung lautet, dass Weiß die gegnerische Dame nehmen und ein Spiel mit verteilten Chancen nach 24. Sf6xh5 Lb7xg2+ zulassen muss – ich wäre auch nicht überrascht, wenn sich Schwarz von genau diesem Gedankengang hatte leiten lassen.
Der ungarisch-sowjetische Großmeister Andor Lilienthal gehörte jedoch in den 1930er-Jahren zu den allerstärksten Spielern und bewies auch in dieser Situation, warum er mit Recht dazugezählt werden musste. Er spielte hier nämlich das von langer Hand geplante 24. Sd4xe6+!!. Schwarz steht vor einer unangenehmen Überraschung, denn 24… f7xe6? scheidet wegen 25. Td1xd7+ nebst 26. Lg2xb7+ und 27. Sf6xh5 mit Materialverlust aus. 24… Kd8-c8? kommt ebenfalls wegen 25. Lg2xb7+ Kc8xb7 26. Td1xd7+ Kb7-b8 27. Sf6xh5 nicht in Frage.
Kertesz setzte aber richtig mit 24… Kd8-e7! fort und bekam nach 25. Sf6xg8+!! die eigentliche Pointe serviert. Nach 25… Ke7xe6 26. Lg2xb7 genoss Weiß angesichts des exponierten schwarzen Königs prächtige Kompensation für die Dame. Auf 26… Ta8-d8 27. Lb7-d5+ hätte Schwarz mit der Rückgabe der Dame die freudlose Angelegenheit in die Länge ziehen können.
Er präferierte stattdessen 27… Ke6-f5 und wurde nach 28. Ld5-f3 (noch stärker ist 28. Ld5-e4+!) 28… Dh5-h3+ 29. Lf3-g2 Dh3xh2 30. Td1-d5+ Kf5-e6 31. f4-f5#! sehenswert mattgesetzt. Selbst das stärkere sofortige 28… Dh5xh2 hätte Schwarz nach 29. Td1-d5+ Kf5xf4 30. Sg8-f6 angesichts der Schachdrohung auf h5 in einer selten hilflosen Lage zurückgelassen.
43. Spielmann – Hoenlinger, Wien 1929
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz
Der österreichische Meister Rudolf Spielmann hätte hier die Kombination seines Lebens aufs Brett zaubern können, wenn der Gegner nicht schon nach dem nächsten Zug aufgegeben hätte. Auf 25. Sf5-e7+! wäre 25… Dc5xe7 26. Dh6xh7+!! Kg8xh7 27. Te5-h5+ Kh7-g8 28. Th5-h8# mit einem sehenswerten Finale gefolgt.
44. Nimzowitsch – Nielsen, Simultanpartie, Kopenhagen 1930
Stellung nach dem 22. Zug von Schwarz
Angesichts der Schwäche der meisten Gegner und einer gewissen Beliebigkeit bei den Partien dürften die meisten Simultan-Duelle bei Großmeistern kaum lange im Gedächtnis haften bleiben. In diesem konkreten Fall ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Aaron Nimzowitsch seinen spektakulären Schlusszug 23. Df3-f6!! so schnell vergessen haben dürfte. Schwarz gab auf.
45. Aljechin – Tartakower, London 1932
Stellung nach dem 7. Zug von Schwarz
Schon damals galt das Farajowicz-System des Budapester Gambits als kaum vollwertig. Selbst frühe Partien wie diese bestätigten schon den langjährigen späteren Trend. Dennoch ist der höchst originelle Ansatz des Weltmeisters sehr verblüffend und stark. Während neun von zehn Spielern hier vermutlich ohne großes Nachdenken rochiert hätten, wählte Aljechin stattdessen das verblüffende 8. Sd2-b1!!. Dieser Zug eines echten Freigeists zeugt von völlig unvoreingenommenem Denken und präferiert eine konkrete Denkweise vor Schablonen.
Indem der Weltmeister argumentiert, dass der Springer auf d2 seine Schuldigkeit getan hat, nutzt er die von Schwarz zur Rückeroberung des geopferten Bauern investierte Zeit, um seinen Springer auf das lukrative Feld d5 zu steuern – dass er von dort aus große Unruhe im schwarzen Lager stiften wird, erscheint auf einmal völlig logisch und naheliegend. Schwarz kann und wird mittelfristig diesem Vorhaben einen Riegel vorschieben müssen, aber den Springer mit c7-c6 von dem neuralgischen Feld d5 fernzuhalten wird dauerhaft den d-Bauer schwächen. Die Partie bestätigte dieses Urteil: auf 8… Sc6xe5 folgte 9. 0-0 Se5xf3+ 10. e2xf3! Lf8-g7 11. Tf1-e1 Sc5-e6 12. Sb1-c3 0-0 13. Sc3-d5 De7-d8 14. f3-f4 c7-c6 15. Sd5-c3 d7-d6, worauf Schwarz mittelfristig an der Schwäche des d-Bauern zugrunde ging und im 32. Zug mattgesetzt wurde.
46. Canal – NN, Simultanpartie, Budapest 1934
Stellung nach dem 10. Zug von Schwarz
Diese Partie kennt man auch unter dem Namen Peruanische Unsterbliche, da der peruanische Meister Esteban Canal ausgehend von dieser Stellung alle drei Schwerfiguren opferte und das Matt nach 11. a3xb4!! Da5xa1+ 12. Ke1-d2 Da1xh1 13. Df3xc6+!! b7xc6 14. Le2-a6# erzwang.
47. Aljechin – Johner, Zürich 1934
Stellung nach dem 43. Zug von Schwarz
Ich liebe dieses Beispiel wegen des unkonventionellen Ansatzes von Aljechin, um diese Stellung zum Sieg zu führen.
Sicherlich steht Weiß in dieser Stellung deutlich überlegen, aber die meisten Spieler hätten hier wohl bei ihren Gewinnbestrebungen über einen konservativen (und keinesfalls schlechten) Ansatz wie 44. Lc2-a4 nachgedacht. Der für sein höchst dynamisches Spiel bekannte 4. Weltmeister hegte jedoch ganz andere Absichten in dieser Stellung: er spielte hier das Opfer 44. e4-e5!!, dessen Sinn sich einem zunächst möglicherweise gar nicht erschließt. Die Ablehnung des Opfers mit 44… g4-g3 sieht nach 45. Dh5xf3 wenig überzeugend aus, weshalb sich Johner für das Nehmen entschied. Auf 44… f6xe5 würde 45. f5-f6! Dg7xf6 46. Dh5xg4+ Kg8-f7 47. Lc2-e4 mit verbesserten Gewinnaussichten für Weiß folgen.
Daher spielte Johner das objektiv nicht sehr starke 44… d6xe5?!, weil er möglicherweise Aljechins Plan gar nicht durchschaute. Es ging weiter mit 45. d5-d6!? (zuerst 45. c4-c5! wäre sogar noch stärker gewesen, aber der Textzug reicht auch aus). Leider zog Johner hier 45… c7-c5 und musste nach 46. Lc2-e4 Dg7-d7 47. Dh5-h6 aufgeben – thematischer wäre natürlich stattdessen 45… c7xd6 gewesen, worauf Aljechin mit 46. c4-c5!! den dritten Bauer in Folge geopfert hätte. Da der kecke Bauer wegen der tödlichen Schachdrohung auf b3 tabu ist, müsste sich Schwarz auf 46… d6-d5 47. Lc2-b3 Dg7-d7 48. Dh5xg4+ Kg8-h8 49. c5xb6 einlassen, was ihn bereits an den Rand der Niederlage brächte.
Wann erlebt man schon einmal in einer Stellung mit derart reduziertem Material, dass ein Spieler reihenweise Bauern über Bord werfen und dadurch eine Gewinnstellung erlangen kann?
Anders ausgedrückt: wie macht man aus einem schlechten Läufer einen guten? Ganz einfach: schnell die im Weg stehenden Bauern opfern, solange es noch möglich ist!
48. Grohmann – Engels, Aachen 1934
Stellung nach dem 9. Zug von Schwarz
In einer Zeit, als Datenbanken noch ein Fremdwort waren, hat Schwarz diese Stonewall-Struktur „interessant“ behandelt, um es mal vorsichtig auszudrücken. Dennoch ist es erstaunlich, dass die Strafe dafür so drastisch ausfallen sollte. Meister Gottfried Grohmann hatte hier eine Eingebung, die man in dieser Form auch nur selten erlebt.
Weiß spielte hier, für seinen Gegner sicherlich vollkommen überraschend, den Knaller 10. e3-e4!!. Aus praktischer Sicht war es für Schwarz wohl am klügsten, mit 10… d5xe4 11. Ld3xe4 Sd7-b6 fortzusetzen, was Weiß indes eine spürbare Initiative nach 12. Tf1-e1! 0-0 13. Lc1-g5 einräumt. Die Aktivität wiegt den Isolani mehr als auf. Schwarz wollte aber dieses dreiste Opfer wohl bestrafen und setzte mit 10… f5xe4 11. Ld3xe4 d5xe4 12. Sc3xe4 fort, was objektiv spielbar ist, aber große Akkuratesse bei der Verteidigung erfordert und aus praktischer Sicht daher wenig empfehlenswert ist. Schwarz griff auch prompt daneben mit 12… Df6-f8?? und sah sich nach dem logischen 13. Tf1-e1 Ke8-d8 14. d4-d5! c6-c5 15. b2-b4! mit weiterer Linienöffnung einem wohl nicht mehr zu parierenden Angriff gegenüber. Weiß gewann im 32. Zug.
Hätte Schwarz im 12. Zug das bessere 12… Df6-g6 gewählt, dann wäre der Ausgang der Partie zumindest offen geblieben, auch wenn Weiß hier etwa nach einer Variante wie 13. Sf3-h4 Dg6-e6 14. Se4-g5 nebst 15. Tf1-e1+ gefährliche Initiative entfalten und Schwarz vor große, wenngleich nicht unlösbare praktische Probleme stellen kann. Eine Engine wäre bei der Verteidigung dieser Stellung allerdings schon hilfreich …
Tatsache ist, dass Gottfried Grohmanns Idee sich in allen Varianten nicht nur als spielbar, sondern als richtig stark erweist. Dass eine Stonewall-Formation mit dem Kamikaze-Zug e3-e4 geknackt werden kann, erlebt man nicht häufig. In der Partie Kramnik – Beljawski, Belgrad 1995 (siehe Beitrag Nr. 60 in 100 berühmte Bauernzüge) gab es viele Jahrzehnte später einen prominenten Nachahmer, auch wenn die Ideen hinter dem Sprengungszug in jener Partie etwas anders geartet waren. Es zeigt sich jedoch, dass Weiß, wenn er diesen Zug straflos in solchen Strukturen ausführen darf, oftmals großen Vorteil erlangt. Man sollte daher solche Züge trotz ihrer Seltenheit nie von vornherein verwerfen.
49. Freiman – Rabinovich, Leningrad 1934
Stellung nach dem 10. Zug von Schwarz
In dieser Stellung scheint überhaupt nichts Besonderes los zu sein. Ich bin mir daher auch ziemlich sicher, dass ohne speziellen Fingerzeig neun von zehn Spielern der nun folgende Zug durch die Lappen gehen würde. Weiß spielte hier das schockierende 11. Sa4-b6!! und profitierte dabei von dem Umstand, dass nach 11… Dd8xb6 die Dame auf vollem Brett nach 12. Ld2-a5 keinen Ausweg hat. Schwarz musste also mit dem Bauer nehmen und büßte ohne jede Kompensation eine Qualität ein. Weiß dürfte sich tüchtig geärgert haben, dass die Partie nach diesem kleinen Schocker, der den Gewinn eigentlich sichern sollte, im 50. Zug remis endete …
50. Euwe – Aljechin, Zürich 1934
Stellung nach dem 30. Zug von Schwarz
Ich finde es einigermaßen erstaunlich, dass diese Stellung zwischen zwei Weltmeistern nicht viel bekannter ist, denn Max Euwe verblüffte hier seinen verdutzten Gegner mit 31. Se5-f7!!. Für einen Spieler vom Kaliber Euwes war es natürlich nicht so schwer zu erkennen, dass 31… Kg8xf7 32. Dc5-h5+ Kf7-e7 33. Te1xe6+ Ke7xe6 34. Tc1-e1+ Ke6-d6 35. Dh5-c5+ Kd6-d7 36. Dc5-f5+ unspielbar ist.
Das eigentlich Wunderbare an dieser Stellung ist vielmehr, dass Euwe auch Aljechins Antwort 31… Dd8-e8 berücksichtigen musste, nach der der weiße Springer hoffnungslos verheddert zu sein scheint. Euwe hatte aber tiefer gerechnet und erkannt, dass Aljechin nach der Abwicklung 32. Te4xe6 De8xe6 33. Sf7-d8 keinerlei Kapital aus der merkwürdigen Stellung des verirrten Springers schlagen kann und im Gegenteil seinen c-Bauer schlicht und ergreifend verliert. Nach 33… De6-e4 34. Sd8xc6 h7-h6 35. d4-d5 wehrte sich Aljechin noch hartnäckig, aber letztlich vergeblich. Weiß gewann im 53. Zug.
51. Gerasimov – Smyslov, Moskau 1935
Stellung nach dem 19. Zug von Weiß
Einen der schönsten von ihm erhalten gebliebenen Züge spielte der spätere Weltmeister Vasily Smyslov bereits im blutjungen Alter von vierzehn Jahren. Sein Gegner hatte hier soeben darauf gehofft, den lästigen schwarzen Rappen mit 19. h2-h3 verjagen zu können, doch Smyslov dachte im Traum nicht daran, den Rückzug anzutreten. Stattdessen konfrontierte er seinen Gegner mit dem gnadenlos starken 19… Td8-d3!!, was den Turm ungedeckt auf ein doppelt vom Gegner angegriffenes Feld stellt … und trotzdem forciert gewinnt! Der an die Deckung von g2 gebundene Läufer darf nicht schlagen, aber auch das Nehmen mit der Dame läuft nach dem Läuferschach auf h2 in eine tödliche Springergabel. Weiß versuchte daher noch 20. Db3xb6, wurde aber erbarmungslos von dem nächsten Kracher 20… Td3xh3! niedergestreckt. Die Dame darf Weiß wegen zweizügigen Matts nicht nehmen, doch auch 21. Lb2-d4 erwies sich nach 21… Lf4-h2+ als nutzlos. Weiß gab nach 22. Kg1-h1 Lh2xe5+ auf, denn er verliert nach 23. Kh1-g1 Le5-h2+ im nächsten Zug seine Dame durch ein erneutes Abzugschach. Zwei fraglos traumhafte Turmzüge!
52. Euwe – Aljechin, Welmteisterschaft, 2. Partie, Niederlande 1935
Stellung nach dem 41. Zug von Schwarz
Bei flüchtiger Betrachtung wäre man vielleicht geneigt zu denken, dass Weiß noch gehörig für den vollen Punkt wird arbeiten müssen – es sei denn, man findet Euwes garstigen nächsten Zug!
Selten wurde in Form von 42. Df3-h1!! eine Dame effektiver in der Brettecke geparkt: da nun ein tödliches Abzugschach mit dem König (!) droht, bleibt Schwarz keine andere Wahl als hier mit 42… Tb8-b2 dem weißen König das Feld g2 zu verwehren. Nach 43. Tf1-f7 De7-e8 44. c6-c7 war der weiße Freibauer aber nicht mehr zu bändigen. Aljechin gab nach 44… Tb2-c2 45. Dh1-b7!! auf, denn 45… Tc2xc4 scheitert an 46. Tf7xh7+! (aber ja nicht 46. c7-c8=D? wegen 46… De8xf7 47. Db7xf7 Tc4xc8 mit Remis).
So schlecht schien der schwarze König auf h6 doch gar nicht zu stehen, oder?
53. Euwe – Aljechin, Weltmeisterschaft, 20. Partie, Niederlande 1935
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz
Nicht immer sind effektive Züge knallig, sondern bisweilen auch völlig unscheinbar. Würde man diese Partie im Eiltempo durchspielen, so würde den meisten Schachfreunden die Bedeutung des nächsten Zuges von Weiß vermutlich entgehen – dabei macht er einen ganz gewaltigen Unterschied aus. Ob Euwe diese Partie ohne seinen nächsten Zug gewonnen hätte, ist fraglich. Nachdem er hingegen 30. Ta1-a2! entdeckt hatte, war die ganze Angelegenheit praktisch schon geklärt. Was ist der Hintergrund dieses mysteriösen Zuges?
Nun, Schwarz plante die Fesselung auf der a-Linie mit 30… La4-b5 abzuschütteln. Indem Euwe seinen Turm nach a2 stellt, „deckt“ er ihn auf diese Weise, da jetzt auf den geplanten schwarzen Zug der weiße c-Bauer einfach nähme und der Turm anschließend vom Läufer gedeckt wäre. Mit anderen Worten: der weiße Läufer deckt seinen Turm quasi über den Bauer hinweg und stellt so sicher, dass Schwarz die Fesselung niemals wird abschütteln können.
Euwe siegt mühelos im 41. Zug.
54. Parr – Wheatcroft, London 1938
Stellung nach dem 28. Zug von Schwarz
Selbstverständlich kann es auch in Begegnungen zwischen Amateuren immer wieder zu Momenten ungeahnter Schönheit kommen. Allerdings müssen dafür schon sehr außergewöhnliche Züge her, wenn solche Partien (zumal, wenn sie aus dem Jahr 1938 stammen) die notwendige Aufmerksamkeit, die sie vor dem Vergessen bewahrt, bekommen wollen. Meistens bleibt auch nicht die ganze Partie, sondern nur die entscheidende Stellung wegen eines Glanzzugs im Gedächtnis.
Einen solchen Fall erleben wir hier, wo Weiß nach einem Damenopfer gleich zweimal nacheinander von Fesselungen profitieren würde. Nach 29. Tb5-h5!! Da4xd7 würde Weiß seinen Gegner nämlich mit 30. Sf7-g5+ Kh7-h8 31. Th5xh6#! besiegen. Schwarz versuchte daher noch den Schwindel 29… Da4-a5, der ihm nach 30. Sf7-g5+?? Da5xg5 noch gewisse Rettungschancen einräumen würde. Weiß zog aber 30. Th5xh6+ und erzwang die Aufgabe des Gegners, da er ansonsten nach 30… Lg7xh6 31. Sf7-g5# durch ein sehenswertes Doppelschach erlegt würde.
55. Petrov – Grau, Buneos Aires 1939
Stellung nach dem 31. Zug von Schwarz
Natürlich diktiert Weiß angesichts seines immensen Raumvorteils das Geschehen voll und ganz in dieser Stellung. Die einzige Frage, die sich noch erhebt, lautet, wie Weiß in dieser hebelarmen Stellung das bestmögliche Ergebnis herausholen kann. Gemäß der Anwendung des sogenannten Prinzips der zwei Schwächen sollte sich Weiß darum bemühen, dem Gegner eine zweite Schwäche am Königsflügel aufzubürden, deren zusätzliche Verteidigung die gegnerischen Kräfte überlasten würde. Mit diesem Hintergrundwissen ist davon auszugehen, dass die meisten Spieler hier den nächsten Zug des Anziehenden vermutlich nicht einmal in Erwägung gezogen hätten. Er spielte hier nämlich völlig unerwartet 32. g4-g5!! und ließ damit eine weitere Versiegelung von Linien zu anstatt sie zu öffnen. In Wirklichkeit hatte Weiß aber soeben den effektivsten Gewinnweg gefunden, dessen Sinn ein paar Züge später erhellen sollte. Dabei sollte man sich auch unbedingt das Prinzip einprägen, dass großer Raumvorteil die rasche Überführung der eigenen Streitkräfte von einem Brettabschnitt zu einem anderen gestattet, während dem Gegner diese Option in der Regel nicht zur Verfügung steht. Nach dem weiteren Partieverlauf 32… h6-h5 33. Dh4-f2 Kf7-e8 34. Df2-a2 Sg8-e7 war alles angerichtet: 35. Sa5xb7! Tb8xb7 36. Ta7xb7 genügte, um Schwarz von der Partieaufgabe zu überzeugen, da er nach 36… Dc8xb7 37. Da2-a7 den weißen Freibauer nicht bändigen kann.
Hätte Weiß sein Manöver nicht im 32. Zug mit dem Bauernvorstoß nach g5 vorbereitet, dann hätte Schwarz seinen Springer über f6 nach d7 überführen können. Wenn Sie in der Schlussstellung (nach dem 37. Zug) den schwarzen Springer nach d7 (anstatt e7) stellen, dann kann sich Schwarz mit 37… Db7-b8 erfolgreich verteidigen. So wie die Dinge in der Partie hingegen lagen hat der Nachziehende diese Option eben nicht und muss aufgeben. Genial, oder?
56. Keres – Smyslov, Leningrad 1939
Stellung nach dem 18. Zug von Schwarz
In dieser recht harmlos anmutenden Stellung würden wohl viele Weißspieler keine der beiden möglichen starken Optionen in dieser Stellung erkennen! Zugegebenermaßen erkennt man rasch, dass Schwarz seinen Königsflügel etwas schwächen musste, aber dramatische Ausmaße scheint dies noch nicht angenommen zu haben.
Die Engine empfiehlt hier einen Bauern zu stibitzen mit 19. Sg3xh5!!, basierend auf der glänzenden Idee 19… g6xh5 20. Ld3xa6!. Keres‘ Option gefällt mir allerdings ebenfalls sehr gut, denn sein Zug 19. Ld3-f5!! kommt aus heiterem Himmel und bedarf großer Phantasie.
Was ist die Idee hinter dem Zug? In einigen Varianten droht einfach das plumpe Schlagen auf d7, was dem Bauer auf c5 die Deckung entziehen würde. Natürlich gehört zunächst einmal die Frage geklärt, ob Schwarz den kecken Eindringling einfach beseitigen darf. Es stellt sich schnell heraus, dass Schwarz in diesem Fall nach 20. Sg3xf5 sofort auf Verlust steht, da je nach Antwort ein Schachgebot auf e7 oder h6 die Partie umgehend entscheiden würde, zum Beispiel: 20… Dd6-c7 21. Sf5-e7+ Kg8-g7 22. Dc2-h7+ Kg7-f6 23. Se7-g8+! Tf8xg8 24. Dh7xf7#. Die Verteidigungsidee 19… Kg8-g7 würde beispielsweise 20. d4xc5 Sd7xc5 21. b2-b4 mit reibungsloser Entfaltung der weißen Initiative gestatten, da der Läufer auf f5 bei einem schwarzen König auf g7 immer tabu wäre. Schließlich würde auf die naheliegendste Alternative zum Partiezug 19… Ta8-c8? dieselbe Antwort wie in der Partie folgen.
Smyslov setzte fort mit 19… c5xd4, worauf der nächste Knaller 20. Lf5-e6!! die eigentliche Idee von Paul Keres offenbarte. Jetzt hängt der Bauer auf g6, so dass Schwarz reagieren muss. Was Keres‘ Eingebung so erstaunlich macht, ist dass er auch Smyslovs gute Verteidigung 20… d4-d3! 21. Dc2xd3 Sd7-e5!, die ein Tempo gewinnt, berücksichtigt und korrekt eingeschätzt hatte. Nach dem stoischen 22. Dd3-b1! bereitet Weiß einfach die Vertreibung des wichtigen schwarzen Springers mit f2-f4 vor. Schwarz hat kaum eine Wahl, denn 22… Dd6-e7 würde beispielsweise einfach den d-Bauer einbüßen. Smyslov versuchte 22… f7xe6 23. f2-f4 Kg8-g7 (nicht 23… Tf8-f6? wegen 24. Sg3-e4! – eine Pointe jagt die nächste!) 24. f4xe5 Dd6xe5 25. Td1-f1? (viel stärker war 25. Sg3xh5+!) und sah sich mit dem nächsten Problem konfrontiert. Den hängenden Springer darf er wegen der fehlenden Deckung von e6 nicht schlagen, und das Nehmen auf e3 würde nur dem Gegner auch noch die e-Linie öffnen. Smyslovs korrekte Wahl fiel auf die entlastende Abwicklung 25… Tf8xf1+ 26. Tc1xf1, aber nun hätte er unbedingt 26… Se8-f6 mit guten Remischancen ziehen müssen. Offenbar ermüdet von der Verteidigung und vielleicht durch Zeitnot begünstigt, spielte er hier 26… Se8-d6??, wonach das Pendel dagegen wieder in die andere Richtung ausschlug. Nach dem einfachen 27. Sg3xh5+! steht Schwarz so klar auf Verlust, dass er hätte schon aufgeben können, dies aber erst im 33. Zug tat.
Es ist schade, dass diese beiderseitigen Schnitzer die Partie zum Schluss ein wenig entwerten, aber an Keres‘ kreativer und absurder Konzeption, seinen Läufer nach e6 (!) zu bringen, ändert dies nichts. Wieso wurde Keres eigentlich nie Weltmeister?!
57. Kotov – Yudovich, Leningrad 1939
Stellung nach dem 24. Zug von Schwarz
Die beiden Bücher Denke wie ein Großmeister und Spiele wie ein Großmeister sind die bekanntesten publizistsichen Beiträge des starken Großmeisters Alexander Kotov, der in den frühen 50er-Jahren zu den besten Spielern der Welt zählte.
Der Verfechter des Prinzips der Kandidatenzüge präsentierte seinem Gegner hier den Tiefschlag 25. Tf1-f5!!, der nach der in der Partie gespielten Hauptvariante 25… e6xf5 26. Sd4xf5+ Ke7-f6 (oder 26… Ke7-e6 27. Td1-d6+ Dc5xd6 28. Sc4xd6) 27. Td1-d6+ Kf6xf5 28. Dg3-f3+ Te4-f4 (mit dem König auf g5 auszuweichen würde nach Schachgeboten auf f6 und d1 auch nicht wirklich helfen) 29. Df3-h5+ Kf5-e4 30. Lb3-c2+ Ke4-e3 31. Td6-d3+ zum Matt führte. Schwarz gab auf.
Die Engine möchte nach Kotovs Turmopfer lieber mit der Dame auf d4 nehmen (was auch klar verliert) und bewertet daher 25. Sd4-f5+!! sogar noch etwas stärker. Die Pointe besteht in dem Abspiel 25… e6xf5 26. Tf1xf5! Dc5-c6 27. c4-c5! Sb6-c4 28. Lb3xc4 Te4xc4 29. Td1-e1+ Ke7-d7, was es Weiß gestattet, den schwarzen Turm mit einem Damenschach auf d3 einzusacken.
Aus ästhetischen und praktischen Gründen hätte ich Kotovs Zug allerdings auch den Vorzug gegeben, da seine Variante leichter zu berechnen und auch schöner ist. Wenn Schwarz stillos die Dame opfert und die Kombination damit vermeidet, dann soll es eben so sein, aber die Partie rettet er damit auch nicht.
58. Bogoljubow – Rellstab, Krakau 1940
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
Ich finde es einigermaßen erstaunlich, dass manchen Spielern selbst im von Deutschland besetzten Polen während des 2. Weltkriegs genug Zeit und Muße blieb, um Schach zu spielen.
Großmeister Efim Bogoljubow zauberte hier jedenfalls einen bemerkenswerten Zug aufs Brett, der Schwarz auf drakonische Weise für seinen gar nicht so dramatisch anmutenden Entwicklungsrückstand bestraft. Weiß hätte hier auch mit dem einfachen 16. Sc4xd6+ Dd8xd6 Vorteil erlangen können – nur vom dem „automatischen“ 17. Ld3-b5+?! sollte er im nächsten Zug wegen 17… Ke8-e7! absehen und stattdessen 17. Sf3-g5! mit sehr deutlichem Übergewicht wählen. Vermutlich hätte Bogoljubow auch dann gewonnen, aber dann hätte sicherlich kein Mensch jemals Notiz von dieser Partie genommen.
Nach dem kühnen Partiezug 16. Ld3-g6!! hat Schwarz nur eine Chance, den Widerstand etwas in die Länge zu ziehen, wenn er hier 16… Ke8-e7! finden sollte. Doch auch dann würde sich der doppelte Abtausch auf d6, gefolgt vom Einschlag auf f7, als günstig für Weiß erweisen. Eine andere Wahl hat Schwarz im 16. Zug aber nicht, denn das Schlagen auf f3 würde die weiße Dame mit einer Doppeldrohung gegen a8 und f7 nach f3 bringen. Den Springer auf c4 darf Schwarz wegen 17. Te1xe6+! auch nicht vernichten, und Rellstabs Partiezug 16… h7xg6? erwies sich nach 17. Sc4xd6+ Ke8-e7 18. Sd6xb7 Dd8-c7 19. Dd1-d5! Th8-h5 20. Dd5-e4 Sb8-c6 21. g2-g4! als nicht ausreichend, um den weißen Springer zu fangen. Nach 21… Th5-h6 22. Sb7-c5 gab er auf.
Solche Granaten wie Bogoljubows 16. Zug bleiben lange im Gedächtnis haften, nicht wahr?!
59. Smyslov – Botwinnik, Leningrad 1941
Stellung nach dem 56. Zug von Weiß
Es erstaunt mich immer wieder, wie unbekannt diese unfassbar spannende Partie ist. Würde man die Namen der Kontrahenten nicht kennen, dann könnte man ja tatsächlich von einer Kaffeehauspartie zwischen zwei Amateuren ausgehen, aber dass zwei solche Bauernlawinen gleichzeitig in einer Partie zwischen Weltklassespielern aufs Brett kommen können, ist atemberaubend. Es fällt auch schwer, aus dieser Partie einen konrketen Zug herauszupicken, aber deswegen ganz auf ihre Aufnahme in diese Sammlung zu verzichten kam auch nicht infrage.
Steigen wir also in diesem spannungsgeladenen Moment ein, in welchem Botwinnik vollkommen zurecht sofort seinen Turm mit 56… Tb7xb6! opferte. Die drei verbundenen Freibauern werden klar stärker sein als der weiße Turm, weshalb sich nur noch die Frage erhebt, ob der Anziehende auf irgendeine Weise ein Remis durch Dauerschach erzielen kann. Diese Frage konnte nach der Fortsetzung 57. Tb5xb6 d4-d3 58. Te1-g1 d3-d2 59. Tb6xf6 Tc8-c7 (eine nicht notwendige, aber verständliche Sicherheitsmaßnahme) 60. Tf6-g6 d2-d1=D! klar verneint werden. Durch das Hinlenkungsopfer gewinnt Schwarz die notwendige Zeit für den entscheidenden Zug 61… c3-c2. Dagegen hätte das unvorischtige 60… c3-c2?? die Partie wegen 61. Tg6-g5! noch zum Remis verdorben. Auf 61… Kh7-h6 könnte Weiß umgehend die Stellung einfach wiederholen, während 61… Tc7-c6 62. Tg5-g7+ Kh7-h6 63. Tg7-g8 Schwarz auch nicht weiter hilft.
Botwinnik war aber selbstverständlich auf der Hut und erzwang mit seinem letzten Zug die gegnerische Aufgabe, da Schwarz nun nach 61. Tg6-g5 auf f3 oder g1 nehmen kann.
60. Botwinnik – Boleslawsky, 11. Runde, Leningrad 1941
Stellung nach dem 28. Zug von Schwarz
Bei dieser mit nur sechs Spielern ausgetragenen UdSSR-Meisterschaft mitten im Krieg trat man gegen jeden Gegner insgesamt viermal an – zweimal mit Weiß, zweimal mit Schwarz. In beiden Weißpartien besiegte Botwinnik seinen Gegner Isaac Boleslawsky im Tarrasch-System der Französischen Verteidigung. Auf besonders spektakuläre Weise gelang ihm das beim zweiten Aufeinandertreffen, als er in dieser Stellung zwei Kraftzüge nacheinander auspackte. Zunächst spielte er hier 29. Sf3xe5!, worauf sich Schwarz nicht auf 29… Tc7xc6 30. Se5-f7+ einlassen darf. Dennoch kann man sich gut vorstellen, dass Boleslawsky optimistisch gestimmt war, die Stellung nach 29… f6xe5 halten zu können. Nach dem nächsten Einschlag 30. Dc6xe8+!! dürfte sich dies jedoch geändert haben. Aufgrund seiner katastrophalen Grundreihenschwäche musste Schwarz nach 30… Dd8xe8 31. Te4xe5 die Dame mit 31… De8-g8 32. Te5-e8 Tc7xc2 zurückgeben und verlor trotz zähen Widerstands letztlich im 65. Zug.
61. Aljechin – Supico, Blindsimultanpartie, Lissabon 1941
Stellung nach dem 19. Zug von Schwarz
Ein kurzer Blick genügt schon um zu erkennen, dass Aljechin seinen hoffnungslos unterlegenen Gegner hier nach allen Regeln der Kunst überspielt hat. Die Partie wäre angesichts der Schwäche des Gegners auch nicht weiter denkwürdig, wenn Aljechin die Partie hier nicht mit einem äußerst seltenen Streich zu Ende gebracht hätte. Der Zug 20. Dd6-g6!! ist natürlich nicht der einzige Gewinnweg, aber der bei weitem ästhetischste und denkwürdigste – mal ganz abgesehen davon, dass so einen Zug auch in einer Blindsimultanpartie zu finden ein ganz einfaches Kunststück darstellt …
Erinnerungen an die sehr berühmten Partie Levitzky – Marshall, Breslau 1912 sowie die etwas weniger bekannte Begegnung Rossolimo – Reissmann, Puerto Rico 1967 werden hier sofort wach. Beide Beiträge sind übrigens mit Recht in der Rubrik 100 berühmte Damenzüge unter der Nummer 1 bzw. 55 zu finden. Wann erlebt man schon einmal, dass sich eine Dame freiwillig auf ein von zwei gegnerischen Bauern gedecktes Feld begibt?
62. Bondarewsky – Botwinnik, Leningrad 1941
Stellung nach dem 14. Zug von Weiß
Diese Französisch-Struktur scheint unangenehm zu sein, da Weiß nach der Überdeckung von e5 mit dem Zug Lc1-f4 nach Belieben den vorübergehend geopferten Bauer zurückerobern kann und der schwarze König nicht gerade sicher zu stehen scheint. Mit seinem überragenden Positionsverständnis gelang es Botwinnik jedoch, überzeugend nachzuweisen, dass auch die weiße Stellung Defekte aufweist, selbst wenn diese nicht so offenkundig sind. Er spielte hier nämlich das unvergessliche 14… Dd8-g8!! und schob damit den weißen Absichten einen Riegel vor. So würde Schwarz nach 15. Lc1-f4 Dg8-h7! 16. Sb3xd4? Sc6xd4 17. Sf3xd4 g6-g5! Weiß vor ein Dilemma stellen, da nach 18. Dd3xh7 Th8xh7 19. Lg5-e3 g5xh4 ersatzlos ein Bauer verloren geht. Doch auch so erscheint klar, dass das Auftauchen der schwarzen Dame auf h7 dem entlastenden Zug g6-g5 eine ungeheure Wirkung verleiht. Bondarevsky spielte 15. Lc1-d2, und nach 15… Dg8-h7! (stark war auch 15… Th8-h5!) 16. Ld2-b4 g6-g5! 17. Dd3xh7 Th8xh7 hatte Schwarz die Stellung zu seinen Gunsten vereinfacht. Die Partie ging weiter mit 18. e5xf6 g7xf6 19. h4xg5 e6-e5! 20. g5xf6 Kf7xf6 mit schwarzem Vorteil und einem Sieg im 29. Zug. Allerdings hätte stattdessen 18. h4xg5 f6xe5 19. Sf3xe5+? wegen des üblen 19… Sc6xe5 20. Te1xe5 Ta8-h8! 21. Kg1-g2 d4-d3! auch nicht geholfen.
In jenen Jahren bereicherte der analytisch denkende spätere 6. Weltmeister, Mikhail Botwinnik, das Schachspiel um eine Vielzahl strategischer Ideen, von denen wir noch heute zehren.
Man vergleiche diese Partie einmal mit dem Duell
A. Sokolov – Jussupow, 1. Partie, Kandidatenfinale, 1. Partie, Riga 1986,
in welchem Jussupow in der Winawer-Variante der Französischen Verteidigung folgendes Manöver ersann, das heute gut bekannt ist: h7-h6, Ke8-d7, Dd8-g8 und Dg8-h7.
Sie finden die Partie als Beitrag Nr. 18 in 100 berühmte Königszüge.
63. Molinari – Roux Cabral, Montevideo 1943
Stellung nach dem 29. Zug von Weiß
Diese zwischen zwei Amateuren bestrittene Partie kennt man auch unter dem Namen Uruguayische Unsterbliche – mit Recht, selbst wenn das Niveau der bisher gespielten Züge beim Studium der Partie deutlich aufzeigt, dass beide Seiten nicht immer besonders akkurat agierten. Dennoch tröstet die in dieser Stellung eingeleitete Schlusskombination über dieses Manko locker hinweg: der Nachziehende, der ohnehin schon fleißig Material preisgegeben hatte, setzte seinem Opferreigen hier die Krone auf. Die Partie wurde hier spektakulär fortgesetzt mit einem wahren Wirbelwind: auf 29… Sg4xf2!! 30. Lg3xf2 Dh5-g5+ 31. Kg1-h2 Dg5-f4+ 32. Lf2-g3 folgte die abschließende Pointe 32… Lc5-g1+!! 33. Df1xg1 Se5-g4+!. Weiß gab auf, denn nach der erzwungenen Annahme des Opfers setzt Schwarz in zwei Zügen matt.
64. Zita – Bronstein, Prag 1946
Stellung nach dem 17. Zug von Weiß
Lange Zeit galt die Königsindische Verteidigung als strategisch derart minderwertig, dass sie als praktisch unspielbar abgestempelt wurde. Als einigermaßen riskante Eröffnung gilt sie auch heute noch, doch in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg erlebte sie dank der Bemühungen vor allem zweier Spieler einen bis dato ungekannten Schub an Popularität. Die beiden Großmeister Efim Geller und David Bronstein setzten sich für die Eröffnung ein und wiesen überzeugend nach, dass sie sehr wohl spielbar ist. Sie erfordert allerdings ein sehr konkretes Herangehen an die Stellungen und eine dynamische Denkweise, wenn man sie erfolgreich mit Schwarz anwenden will. Partien wie die hier vorliegende trugen in ganz erheblichem Maße zu einem neuen Verständnis für diese Eröffnung bei, die ganz bestimmt nicht für zögerliche Spieler geeignet ist.
In dieser Stellung hatte Frantisek Zita wohl auf einen Rückzug des angegriffenen schwarzen Springers gehofft. Aus heutiger Sicht erscheint es vollkommen klar, dass ein Rückzug in dieser Stellung einer strategischen Bankrotterklärung gleichkäme. Damals jedoch muss Bronsteins Zug 17… Ta8xa1!! wie eine Bombe in der Schachwelt eingeschlagen sein. Nur mit ganz konkretem Spiel lassen sich die Defekte in der weißen Stellung nachweisen – für die Beseitigung des Wächters der schwachen schwarzen Felder im weißen Lager ist eine Qualität kein zu hoher Preis. Außerdem erhält Schwarz als zusätzliche Kompensation nach 18. Tb1xa1 Sg4xf2! einen weiteren Bauer und eine geschwächte weiße Königsstellung. Sollte Weiß den kecken Eindringling mit der Dame nehmen, dann verliert er nach der Springergabel auf d3 Haus und Hof. Das Nehmen mit dem König würde jedoch eine genauso schreckliche Gabel auf b3 ermöglichen, so dass Zita notgedrungen mit 19. Te1-e3 fortsetzte. Daraufhin verleibte sich Bronstein einen weiteren Bauer mit 19… Sf2xh3+ 20. Kh1-g2 Sh3-f2! ein und gewann im 30. Zug.
Weniger erfahrene Spieler dürften über Bronsteins Konzept auch heute noch staunen. Wer die Königsindische Verteidigung spielt, ist folglich gut beraten, die klassischen Partien Bronsteins und Gellers zu analysieren. Zur Erinnerung: auch ein gewisser Garri Kasparov nahm sie höchst erfolgreich in sein Repertoire auf.
65. Furman – Keres, Moskau 1948
Stellung nach dem 43. Zug von Schwarz
In dieser sinnverwirrenden Stellung scheint es nicht gut um Weiß zu stehen. Er hat einen Turm weniger und kann die schwarze Dame wegen der dann möglichen Spießdrohung auf f1 nicht nehmen. Außerdem droht Keres mit einem tödlichen Schachgebot auf c2. Großmeister Semyon Furman, der später zum Trainerstab von Anatoli Karpov gehörte, hatte diese Stellung jedoch absichtlich angestrebt und alles im Griff, denn die von ihm vorbereitete Pointe 44. f7-f8=S+!! schafft klare Verhältnisse: mit 44… Kh7-g8 45. Lh3-e6+! Dc8xe6 46. Df6xe6+ Kg8xf8 47. De6xd5 konnte Weiß alle Gefahren abwenden und in ein gewonnenes Endspiel abwickeln, das er ungefährdet im 56. Zug verwertete.
Eine Unterverwandlung eines Bauern in einen Springer bei einem so stark besetzten Turnier wie der UdSSR-Meisterschaft dürfte es auch nicht oft gegeben haben!
66. Taimanov – Lissizyn, Leningrad 1949
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
Mit einer Kombination, wie sie einem wohl nur einmal im Leben vergönnt ist, verblüffte Mark Taimanov seinen Gegner hier. Der Nachziehende dürfte trotz seiner passiven Stellung wohl kaum geahnt haben, was ihn hier erwarten würde: nach 24. Sc5xb7!! Tc7xb7 (keinen Deut besser ist 24… Tc7xc3 25. Tc1xc3 Tc8-b8 26. Se5-c6 De7xb7 27. Sc6xb8) 25. Db3xb7! De7xb7 26. Tc3xc8 hatte Weiß erdrückendes positionelles Übergewicht. Die Partie wurde fortgesetzt mit 26… Kg8-f8 27. Tc8-b8!, was den Einstieg des zweiten Turms auf die Grundreihe ermöglicht. Nun verbietet sich 27… Db7-a7? wegen 28. Tb8xe8+!!, doch nach 27… Db7-e7 28. Tb8xa8 g7-g6 29. Tc1-c8 konnte Schwarz den angesichts weiterer materieller Verluste aussichtslosen Widerstand nicht mehr lange aufrecht erhalten und verlor im 38. Zug.
67. Belin – Lipnitzky, Riga 1950
Stellung nach dem 17. Zug von Weiß
Isaac Lipnitzky ist der Autor des Schachbuches Fragen der modernen Schachtheorie, das schon zu Sowjetzeiten als eines der besten Schachbücher galt, die jemals publiziert wurden. Der jung verstorbene Autor nahm diese brillante Partie in die Sammlung seiner besten Partien auf, die am Ende des Buches angehängt ist.
Obwohl Schwarz in dieser Stellung bereits eine ganz Figur ins Geschäft gesteckt, ist der weiße Entwicklungsrückstand derart verheerend, dass sich Schwarz hier sogar die Zeit für den stillen Zug 17… e4-e3!! nehmen kann. Die schwarze Hauptdrohung lautet nun 18… Df6-d4!!, die Weiß unbedingt parieren muss.
Würde der Anziehende hier beispielsweise 18. Dd7xb7 ziehen (um darauf die Drohung 18… Df6-d4 mit 19. Db7-b2 beantworten zu können), so würde Schwarz mit dem wunderschönen 18… Tc8xc3 19. Db7-b2 Tf8-c8 20. Tc1xc3 (ungestümen und entscheidenden Angriff lässt 20. Tc1-d1 Df6-h4+ 21. g2-g3 Dh4-c4 zu) 20… Tc8xc3 21. g2-g3 Tc3-b3!! gewinnen, etwa durch 22. Db2xb3 Df6-a1+ 23. Db3-d1 Da1-c3+.
Weiß zog daher 18. Dd7-a4 Tc8xc3 19. Tc1-d1 vor, um auf 19… Tf8-c8 20. g2-g3 Tc3-c1 21. Lf1-h3 die Flucht seines Königs vorzubereiten. Schwarz erwiderte darauf jedoch eiskalt mit 21… Tc1xd1+! 22. Da4xd1 Df6-c3+ 23. Ke1-f1 Dc3-d2! 24. Kf1-g2 Tc8-c1!! und zurrte den Sieg damit fest.
Das Erstaunliche an Lipnitzkys Konzept ist nicht nur die scheinbare Behäbigkeit, mit der sich der schwarze Angriff entfaltet, sondern auch, dass Schwarz die gesamte Kombination bis zum Ende im Voraus hatte richtig berechnen müssen. Chapeau!
68. Kotov – Smyslov, Budapest 1950
Stellung nach dem 38. Zug von Schwarz
Einen berühmt gewordenen Reinfall, der sich immerhin bei einem Kandidatenturnier zutrug, erlebte der auch als Schachbuchautor bekannt gewordene Großmeister Alexander Kotov, als er hier siegesgewiss die „Gewinnkombination“ 39. Th5xh7+?? präsentierte. Nach dem erzwungenen 39… Sf8xh7 40. De2-h5 De8-g8 41. Sf5-e7 Tg6xg2+ 42. Kf2-f3 wähnte sich Kotov noch immer auf der Siegerstrasse, als ihn plötzlich ein echter Schock durchfuhr. Symslovs Miene war laut Kotovs Memoiren an dieser Stelle versteinert, doch als sich sein Gesichtsausdruck plötzlich merklich aufhellte, da wusste Kotov, dass sein Gegner auch entdeckt hatte, was er zuvor schon erspäht hatte. Nach dem Konter 42… Tg2-f2+!! gewinnt nicht Weiß, sondern Schwarz. Kotov musste die einst gut stehende Partie nach 43. Kf3xf2 Tb4-b2+ 44. Dh5-e2 aufgeben, da Weiß nach dem Damenverlust auf jeden Fall noch eine weitere seiner drei hängenden Figuren zwingend einbüßt.
In der Diagrammstellung hätte Kotov stattdessen mit einem Zug wie 39. De2-c2 weiterhin alle Vorzüge seiner Stellung behalten und mittelfristig auf Sieg spielen können. Wieder einmal zeigt sich jedoch, dass man in Zeitnot die Dinge nur forcieren darf, wenn man sich absolut sicher ist.
69. Moiseev – Simagin, Moskau 1951
Stellung nach dem 18. Zug von Weiß
In dieser scharfen Stellung hatte Großmeister Vladimir Simagin ein Konzept ersonnen, mit dem Weiß gehörig in Versuchung geführt wurde. Anstatt hier seinen angegriffenen Springer zurückzuziehen, spielte Schwarz hier das bemerkenswerte 18… c7-c5!!. Objektiv betrachtet wäre Weiß gut beraten gewesen, die Provokation zu ignorieren und en passant zu schlagen, worauf die Partie ganz normal fortgesetzt worden wäre und kein Mensch jemals mehr Notiz von ihr genommen hätte. Weiß wollte aber die Provokation nicht auf sich sitzen lassen und wählte stattdessen das riskante 19. Ld4xf6 Dd8xf6 20. a3xb4 a5xb4 21. Sc3-b5, woraufhin sich ein lebhaftes Gefecht entwickelte. Beide Kontrahenten mussten letztlich der Komplexität der Stellung Tribut zollen, denn das starke 21… f4-f3!! – das Weiß versäumte – hätte hier sofort für klare Verhältnisse gesorgt. Wegen des drohenden Läuferschachs auf h6 muss Weiß 22. Le2-d3 ziehen, aber nach 22… Ta8-a1+ 23. Kc1-c2 Tf8-a8 24. Td1xa1 (erzwungen, denn es drohte ja 24… Ta8-a2, und 24. Se1xf3 scheitert einfach an 24… Lf5xd3+) 24… Ta8xa1 ist Weiß paralysiert. Es droht einfach 25… Lg7-h6, und 25. Ld3xf5+ Df6xf5 26. Db3-d3 Df5-f6 schafft keine Abhilfe.
Simagin vertauschte zu seinem Leidwesen die Reihenfolge der Züge und spielte 21… Ta8-a1+? 22. Kc1-d2 f4-f3!, was weit weniger klar ist – zumindest dann, wenn Weiß die richtige Fortsetzung 23. Se1xf3 mit haltbarer Stellung findet. Er spielte aber tatsächlich den Bock 23. Se1-c2?? und hätte nach Simagins Antwort 23… Lf5xc2 praktisch schon aufgeben können. Eine Mustervariante könnte wie folgt lauten: 24. Db3xc2 f3xe2 25. Td1xa1 Lg7-h6+ 26. Kd2xe2 Df6-f3+ mit Gewinn. Auch Moiseevs Zug 24. Kd2xc2 half nach 24… f3xe2! 25. Td1xa1 Df6-g6+! nichts mehr. Nun würde das wünschenswerte 26. Db3-d3 an 26… e2-e1=S+!! 27. Th1xe1 Tf8xf2+ scheitern. Moiseev spielte also 26. Kc2-d2 Lg7-h6+ 27. Db3-e3, gab aber drei Züge später. Hätter er im 27. Zug stattdessen 27. Kd2-e1 gewählt, dann macht 27… Dg6-g2 den Deckel drauf.
Ich empfände es allerdings als sehr harsch, die Spieler für die begangenen Ungenauigkeiten in dieser komplexen Position zu kritisieren. Natürlich erkennen hier die überirdisch starken Engines heutzutage jede verborgene Facette, aber all das am Brett und unter Zeitdruck zu finden, erscheint mir praktisch unmöglich und auch gar nicht notwendig, da sich Simagins Geistesblitz im 18. Zug als originell und in jedem Fall korrekt erwies.
70. Nezhmetdinov – Lusikal, Simultanpartie, Kasan 1951
Stellung nach dem 12. Zug von Schwarz
Der gefürchtete tatarische Angriffsspieler Rashid Nezhmetdinov dürfte einer der stärksten Spieler aller Zeiten gewesen sein, die niemals Großmeister wurden – dennoch holte er sich gegen praktisch jeden starken Spieler seiner Generation mindestens einmal deren Skalp. Zu seinen Opfern gehörten Polugajewsky, Tal, Spassky und Bronstein – um nur einige zu nennen.
Das Bemerkenswerte an dieser Stellung ist, dass der Schwarzspieler bis hierhin nicht wirklich schlecht gespielt hatte, da er eine Stellung der Grünfeld-Verteidigung angestrebt hatte, die damals als letzter Stand der Theorie galt – ein Umstand, der umso höher zu bewerten ist, wenn man bedenkt, dass es damals keine Datenbanken gab und nicht wenige Amateure zu jener Zeit oft schon nach wenigen Zügen nicht weiter wussten und schwache Fortsetzungen wählten.
Vor diesem Hintergrund muss man mit dem Nachziehenden hier tatsächlich einiges an Mitleid haben, denn dass sein Gegner hier (noch dazu in einer Simultanvorstellung) eine der wuchtigsten Neuerungen der gesamten 1950er-Jahre spielen würde, konnte dieser natürlich beim besten Willen nicht erahnen. Nezhmetdinovs Keule in dieser Stellung erwies sich als so stark, dass ein gesamter Variantenkomplex danach effektiv als unspielbar für Schwarz abgestempelt wurde! Wir wissen natürlich nicht, ob Nezhmetdinov diese Stellung zuhause schon einmal analysiert hatte oder ob er die folgende Eingebung tatsächlich am Brett fand – was ich nicht komplett ausschließen würde, aber für eine echte Sensation hielte ich das in diesem Fall schon.
Weiß hat im Moment eine Figur mehr, aber die scheinbar erzwungene und naheliegende Antwort 13. Ta1-b1? gestattet Schwarz die Abwicklung 13… Dc3-d3+!! 14. Ke2xd3 Ld7xc6+ mit Rückgewinn der Figur und guter Stellung. Würde Weiß das Opfer dagegen ablehnen, dann hinge einfach der Turm. So einfach ist die Lösung des Problems somit nicht, zumal Weiß mit einem eingestreuten Zwischentausch auf d7 dem Gegner die d-Linie öffnen würde. Nezhmetdinov widerlegte hier jedoch das gesamte schwarze System mit dem Zug 13. Da4-b3!!, der Schwarz zur Annahme des Opfers zwingt (Damentausch scheitert natürlich an dem Zwischenschach auf d7). Auf 13… Dc3xa1 setzte Weiß nun fort mit 14. Lc1-b2 Da1-b1 15. Sg1-f3! Db1xh1 16. Sf3-e5 e7-e6 17. Lb5xd7+ Td8xd7. Nach 18. Db3-b8+ Td7-d8 19. Db8-b5+ Ke8-e7 20. Db5-b7+ Ke7-f6 (oder 20… Ke7-d6 21. Se5-c4#) folgte nun absolut zwingend 21. Db7xf7+ Kf6-g5 22. Se5-f3+ Kg5-h5 23. g2-g4+ Kh5xg4 24. Df7xe6+ Kg4-f4 25. Lb2-e5+ Kf4xe4 26. Sf3-g5#!
Was für ein Spektakel in einer Simultanpartie! Noch Fragen?
Durch eine Partiensammlung Nezhmetdinovs (ein bis heute rares Fundstück!) fand seine Neuerung den Weg in die Theoriebücher – ein bemerkenswerter Umstand, wenn man bedenkt, dass diese Begegnung im sowjetischen Hinterland im Jahre 1951 gespielt wurde und Simultanpartien nur selten in Partiensammlunge aufgenommen werden.
71. Stoltz – Steiner, Stockholm 1952
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz
in dieser Stellung ersann Weiß eines der ungewöhnlichsten Damenopfer, die ich je gesehen habe. Weiß könnte hier trotz einer Minusfigur durch den Damentausch eine hervorragende Stellung erlangen, zum Beispiel: 24. Dg5xd8+! Ta8xd8 25. d4-d5 Sc6-e7 26. h4-h5. Die Engine will stattdessen lieber 25… Kh8-g8 sehen, doch auch danach hängt die schwarze Stellung völlig in den Seilen. Objektiv hätte also keine Notwendigkeit für Stoltz‘ nächsten Zug bestanden, aber dennoch macht 24. d4-d5!? schon allein optisch enorm viel her. Wenn Schwarz hier die richtige Verteidigung findet, dann behält er Remischancen – sie besteht in 24… Tg6xg5 25. h4xg5 Sc6-e7 26. Se3-g4 Dd8-e8!, was die Überführung der Dame nach g6 droht. Falls darauf 27. Th1-h6 Se7-f5 28. Sg4-f6 Sf5xh6 29. Sf6xe8 geschieht, dann behält Schwarz wegen der ungleichfarbigen Läufer nach 29… Ta8xe8 30. g5xh6 Te8-e2! 31. h6xg7+ Kh8-g8 32. Td1-d2 einige Remischancen.
In der Partie spielte Herman Steiner die Dame nicht nach e8, sondern c8 – mit der Idee, ebenfalls die weiße Diagonale zu besetzen und die Dame nach f5 zu stellen – und wurde nun von dem eiskalten Verstellungsopfer 27. g5-g6!! überrascht. Darauf scheitert das natürliche 27… Se7xg6 an 28. Sg4-f6 Sg6-f8 29. Td1-g1 Dc8-f5 30. Sf6xh7 mit Gewinn.
Steiner ließ sich daher auf 27… Dc8xg4 28. Th1xh7+ Kh8-g8 29. Th7xg7+ Kg8-f8 30. Tg7-f7+ ein und verlor nach 30… Kf8-e8 31. Td1-e1 Dg4xg6 32. Te1xe7+ Ke8-d8 33. Lb2-f6 Dg6xf6 34. Tf7xf6? durch Zeitüberschreitung. Stärker aus weißer Sicht war allerdings zunächst 34. Te7-d7+!, was dem schwarzen Turm die Teilnahme am Spiel nach 34… Kd8-e8 35. Tf7xf6 Ke8xd7 36. Tf6-f7+! verwehren würde. Dennoch dürfte Gösta Stöltz selten eine bessere Partie gespielt haben, auch wenn das einleitende Damenopfer strikt gesehen nicht notwendig war.
72. Bernstein – Najdorf, Montevideo 1954
Stellung nach dem 20. Zug von Schwarz
In dieser Partie bekam der argentinische Großmeister Miguel Najdorf gleich eine doppelte Lektion erteilt: zum einen wurde er von einem kombinatorischen Wirbelwind erfasst, und zum anderen revanchierte sich sein Gegner, der damals 72-jährige Ossip Bernstein, für Najdorfs despektierliche Aussage im Vorfeld, dass Bernstein wegen seines Alters nichts bei diesem Turnier zu suchen habe. Fraglos hatte Bernstein seinen Zenit überschritten, aber mit diesem letzten echten Meisterwerk im Spätherbst seiner Karriere strafte er alle Kritiker Lügen.
Hier entfesselte der rüstige Senior die gesamte, seiner Stellung innewohnenden Energie mit dem Kraftzug 21. Sc3-d5!!. Auf das erzwungene 21… c6xd5 22. e4xd5 nehmen alle seine Figuren traumhafte Positionen ein. Najdorf versuchte, mit 22… Se6-d4 etwas Material zurückzugeben und so die Angriffswucht abzuschwächen, doch nach 23. Sf3xd4 e5xd4 24. d5-d6 Dc7-d7 25. Td1xd4! stellte sich heraus, dass Bernstein nicht locker ließ. Najdorf verschmähte die angebotene Qualität und fischte stattdessen im Trüben mit 25… f4-f3. Bernstein gewann die Partie sicher genug im 37. Zug, aber 26. Te1-e7!! Lf6xe7 (oder 26… Dd7-f5 27. Lc4-d3) 27. d6xe7 Dd7xe7 28. Td4-d6! verpasste er hier leider. Dennoch macht die kraftvolle Darbietung Bernsteins gehörigen Eindruck.
73. Geller – Averbakh, Kiew 1954
Stellung nach dem 46. Zug von Weiß
Selten erlebt man, dass ein Hinlenkungsopfer die Verwandlung von Freibauern ermöglicht und somit die Preisgabe von gewichtigem Material rechtfertigt. Hier erkannte Juri Averbach beispielsweise, dass der Kraftzug 46… Td8-d1!! die Umwandlung eines Bauern zwingend gestattet. Efim Geller fand keinen Ausweg aus dem Dilemma und gab zurecht auf.
74. Byvshev – Tolush, Leningrad 1954
Stellung nach dem 36. Zug von Weiß
In dieser nur wenig bekannten Partie war es Großmeister Alexander Tolush vergönnt, Kapital aus den geometrischen Motiven in der Stellung zu schlagen und mit einem selten eleganten Zug die weiße Aufgabe sofort zu erzwingen. Auf 36… Db8-a7!! hat Weiß aufgrund der unglücklichen Position seines Turms keine Ausrede parat und kann den Widerstand einstellen – was er auch tat.
Welch schönes Beispiel für eine tödliche Überlastung der weißen Dame!
75. Keres – Spassky, Göteborg 1955
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz
Auf allerhöchster Ebene war es hier Paul Keres vergönnt, ein denkwürdiges Damenopfer auszupacken. Nach dem tollkühnen Einschlag 30. Dg3xg7+!! musste Spassky bereits aufgeben, denn nach 30… Kg8xg7 31. Se5xd7+ muss der König wieder nach g8 zurück, wo ihn ein tödliches Springerschach auf f6 erwartet. Wohin auch immer der schwarze König ausweicht, der Abzug nach d5 schafft klare Verhältnisse, da Weiß am Ende einfach eine Figur mehr haben wird.
76. Moran – Franco, Gijon 1955
Stellung nach dem 15. Zug von Schwarz
Bis dieser hochkomplexen Stellung, die zwischen zwei Amateuren (der Schwarzspieler war natürlich nicht der gleichnamige Diktator Spaniens zu dieser Zeit) zustande gekommen war, hatten beide Spieler nicht immer optimal agiert, doch in diesem Moment begann der Anziehende, über sich hinaus zu wachsen und traumhafte Züge aufs Brett zu bringen. Anstatt hier Schwarz nach irgendeinem Damenzug mit dem Springer auf e5 nehmen zu lassen, favorisierte Weiß zurecht 16. e5xf6!! Sf3xd2 17. f6xe7. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Weiß hier die unglaubliche mögliche Antwort 17… Sd2-b3+!! auf dem Schirm hatte, aber glücklicherweise kann Weiß mit dem erzwungenen 18. Kc1-b1! (sonst fällt der Läufer samt dem schönen Freibauer mit Schach) 18… Tf8-c8 19. Td1-d5 Sb3-c5 20. Lg5-e3 immer noch großen Vorteil behalten.
Schwarz zog aber 17… Sd2xf1, weil er nach 18. e7xf8+=D Kg8xf8 19. Lg5-f4 (stärker ist zunächst 19. Td1-d5! Da5-a6 und erst dann 20. Lg5-f4 nebst 21. Td5-d1) 19… Sf1-g3! hoffte, den eingeklemmten Springer befreien zu können. Auf 20. Th1-g1! Sg3xe4 (nicht 20… Sg3-h5 wegen 21. Tg1-g5!) 21. Sc3xe4 Da5xa2 scheint die Stellung unklar, doch Weiß spielte ungeheuer stark zu Ende: 22. Le5-d6+ Kf8-g8 (oder 22… Kf8-e8 23. Se4-f6+!) 23. Tg1xg7+!! war die weiße Idee. Nun hilft 23… Kg8xg7 Schwarz nicht wegen 24. Td1-g1+ Kg7-h6 25. Ld6-f4+ Kh6-h5 26. Tg1-g5+ nebst 27. Tg5-g4+ mit Matt im nächsten Zug. Schwarz versuchte daher, unbesorgt zu wirken und setzte mit dem scheinbar besseren 23… Kg8-h8 fort. Nach 24. Tg7-g8+!! musste er jedoch aufgeben.
Ein beeindruckendes Feuerwerk!
77. Porat – Larsen, Moskau 1956
Stellung nach dem 14. Zug von Weiß
Dass der dänische Großmeister Bent Larsen zu den beliebtesten Schachspielern aller Zeiten gehört, ist zu einem nicht geringen Anteil auf seinen ewigen Optimismus, seine überbordende Kreativität und seine Dreistigkeit zurückzuführen. Beim legendären 6-0 Fischers gegen Larsen im Kandidaten-Halbfinale 1971 wurden ihm allerdings von dem humorlosen Amerikaner die Grenzen klar aufgezeigt – ein Schock, von dem sich Larsen nie mehr so richtig erholte.
Weiß dürfte in dieser Stellung mit einigen Zügen gerechnet haben – mit dem Schlagen auf d5 oder einem Zug des schwarzen Königs etwa. Obwohl Larsen sein Ruf vorauseilte, ist davon auszugehen, dass Weiß den Partiezug überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, denn sonst hätte er von seinem soeben geschehenen Zwischenzug 14. Dd1-b3? nämlich Abstand genommen. Dem entsetzten Anziehenden wurde hier der Tiefschlag 14… c5xd4!! verpasst. Diesen „unspielbaren“ Zug wollte Weiß natürlich mit 15. d5-d6+ bestrafen, doch nach 15… Lc8-e6! (nicht 15… Dc7-f7?? 16. Le2-c4) 16. Db3xe6+ Dc7-f7 17. De6xf7+ Tf8xf7 18. e3xd4 Tf7-d7 verlor Weiß im Getümmel einfach einen Bauer, für den auch das weiße Läuferpaar leider keine ausreichende Kompensation darstellte. Larsen machte im 33. Zug den Deckel drauf und siegte problemlos.
78. Zurakhov – Koblents, Tbilissi 1956
Stellung nach dem 56. Zug von Schwarz
Unterverwandlungen kommen schon selten genug vor – statisch gesehen handelt es sich dabei meistens um Umwandlungen in einen Springer mit gleichzeitigem Schachgebot. Dieser Umstand allein verdeutlicht schon, wie selten die Situation auf dem Brett hier einzuschätzen ist. Weiß spielte hier in seinen Gewinnbemühungen den einzig erfolgsversprechenden Zug 57. g7-g8=S!, der aber wohlgemerkt ohne Schachgebot erfolgt und daher so selten ist. Allein dieser Umstand und der konkrete Zug hätten die Aufnahme in diese Sammlung schon gerechtfertigt, doch schauen Sie mal auf die Stellung, die 22 Züge später entstanden war:
In dieser Stellung war es nicht strikt notwendig im Gewinnsinne, aber dennoch einfach, effektiv und vor allem höchst ästhetisch, schon den zweiten Bauer in dieser Partie in einen Springer umzuwandeln: nach 79. c7-c8=S+! Ka7-b8 80. Kb5-b6 streckte Schwarz die Waffen.
In einer Partie zweimal einen Bauer in einen Springer umzuwandeln und damit zu verhindern, dass der frisch umgewandelte Bauer sofort wieder verloren geht (was bei einer Umwandlung in eine Dame der Fall gewesen wäre), dürfte ziemlich einmalig in der Schachgeschichte sein.
Zur Einordnung: der hier unterlegene Alexander Koblents war ein langjähriger Trainer des späteren Weltmeisters Mikhail Tal, und die Partie wurde bei einem Halbfinal-Qualifikationsturnier für die UdSSR-Meisterschaft gespielt. Nicht gerade amateurhaftes Niveau!
79. Petrosian – Simagin, Moskau 1956
Stellung nach dem 44. Zug von Schwarz
Es ist gewiss ein merkwürdiger Zufall, dass Tigran Petrosian in der berühmten 10. Partie des Wettkampfes um die WM-Krone im Jahre 1966 (Beitrag Nr. 88 in 100 berühmte Damenzüge) auf praktisch identische Weise die Dame opferte wie schon zehn Jahre zuvor in dieser Stellung. Allerdings sollte Weiß hier besser nicht mit 45. Da8-h8+?! beginnen, da die scharfsinnige Antwort 45… Kg7-g6! seine Träume platzen lässt und eine ausgeglichene Stellung ergibt.
Nach dem einleitenden Streich 45. Lh2xe5+!! sieht die Sache jedoch ganz anders aus, denn nach 45… Dd6xe5 46. Da8-h8+!! kann Schwarz das Opfer diesmal nicht ablehnen und fällt damit einer tödlichen Gabel zum Opfer, die Weiß letztlich eine Mehrfigur beschert. Schwarz gab nach dem Verlust der Dame folgerichtig auf.
80. Tal – Tolush, Moskau 1957
Stellung nach dem 29. Zug von Schwarz
Spätestens mit seinem sensationellen Sieg bei der UdSSR-Meisterschaft 1957 im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren betrat Mikahil Tal, der „Zauberer aus Riga“, die Weltbühne des Schachs. Sein spektakulärer Angriffsstil, der im denkbar schärfsten Kontrast zur eisernen Logik eines Mikhail Botwinnik stand, brachte ihm sofort zahllose Anhänger und stürmische Ovationen ein. Auf dem Weg zu diesem denkwürdigen Sieg (außer Botwinnik und Smyslov, die sich für die Weltmeisterschaft vorbereiteten, fehlte kaum ein namhafter Spieler) spielte Tal seine beste Partie in der allerletzten von 21 Runden gegen den bis dahin punktgleichen Alexander Tolush, der letztlich Fünfter wurde und Spieler wie Petrosian und Korchnoi hinter sich ließ. Gegen den kometenhaft auf der Bühne erschienen lettischen Meister wurde er jedoch vorgeführt.
Sicherlich hätte Tal seine überragende Stellung wohl auch mit dem einfachen 30. Lg5-d2 sichern und einen mittelfristigen Sieg einfahren können. Das Wort „Rückwärtsgang“ schien in jenen Jahren in Tals Vokabular allerdings gar nicht zu existieren, weshalb ich mir sicher bin, dass er diese Option nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Der für seinen stürmischen Impetus und sein Gespür für Ästhetik bekannte Tal wollte dieses Partie natürlich stilgemäß beenden und setzte hier fort mit dem Räumungsopfer 30. e4-e5!!, das die letzten untätigen weißen Figuren auch noch in den Angriff einbezieht: der Läufer auf b1 bekommt freie Sicht, und das Feld e4 erweist sich als ideales Sprungbrett für den weißen Springer. Mehr kann man von einem Zug kaum verlangen! In seinem großartigen Buch über die UdSSR-Meisterschaften kommentiert Mark Taimanov diesen Moment, indem er feststellte, „dass Tal in solchen Stellungen unaufhaltsam war“. Nach 30… Te8xe5 31. Lb1xg6 Tb8-b7 32. Sc3-e4! hatte Weiß seinen Angriff entscheidend verstärkt. Die Partiefolge 32… f6xg5? 33. Tg1-f1! erwies sich als aussichtslos für Schwarz, der letztlich im 42. Zug aufgab. Allerdings hätte mittelfristig auch das etwas bessere 32… Te5xg5 33. Lg6-f5 keinen echten Anlass mehr für Hoffnung geboten.
Der Applaus für den Sieger dieser Partie und des Turniers schien laut Taimanov überhaupt kein Ende nehmen zu wollen – verständlich, denn die Energie, die Tal hier an den Tag gelegt hatte, war einfach unnachahmlich und unwiderstehlich.
Wer möchte nicht einen Turniersieg mit so einer würdigen Glanzpartie krönen?!
Damit, lieber Schachfreund, ist Etappe dieser Reise beendet. Ich hoffe, die gesammelten Beiträge haben wieder inspirierende und erhellende Momente geboten. Noch stehen aber acht weitere Teile aus, auf die Sie ebenfalls gespannt sein dürfen.
Schon bald geht es weiter mit Teil 3 der Serie.