The Jane**, Antwerpen

August 2018

Hierzulande käme wohl niemand auf die Idee, ausgerechnet in einer Kirche gehoben essen zu können. Was in Deutschland praktisch undenkbar erscheint, ist im Restaurant The Jane von Sergio Herman jedoch Alltag.

Sergio Herman zählt nicht erst seit der Schließung seines legendären Lokals Oud Sluis in Sluis im Jahre 2013 zu den prominentesten, einflussreichsten und besten Köchen der Welt. Doch auch wenn Herman den persönlichen Stress mit diesem Schritt reduzierte und damit etwas mehr Zeit für seine Familie gewann, so spiegeln sich seine Leidenschaft und Streben nach Perfektion nicht nur in seinem Küchenstil wieder, sondern auch bei der Selbstinszenierung (eine Dokumentation über ihn selbst trägt den bezeichnenden Namen Fucking Perfect), der beispiellosen Vermarktung seines Namens und bei der Suche nach neuen gastronomischen Wegen. Seit der Schließung des Oud Sluis hat Herman zwei Dépendancen eröffnet, und auch weitere Projekte sind dem Vernehmen nach bereits in Planung. Das eine Lokal ist das einfach besternte Pure C in Cadzand, direkt an der belgischen Grenze in den Niederlanden an der Nordsee gelegen. Das andere, wesentlich bekanntere Lokal ist The Jane im Süden von Antwerpen, das zu den meist-gehypten Restaurants der Welt zählt und folglich auch auf der ominösen Pellegrino-Liste der 100 besten Restaurants weltweit Erwähnung findet.

Nicht wenige der internationalen Gäste suchen den Weg nach Antwerpen mindestens genauso sehr wegen des revolutionären Konzepts wie wegen der Küche selbst auf: das Restaurant ist in einer ehemaligen Kirche untergebracht, die im Zentrum eines Areals steht, das einst ein Militärkrankenhaus beherbergte. Die ziegelroten Bauten ringsum würden nichtsahnende Spaziergänger keinesfalls auf die Idee bringen, hier eines der bekanntesten Restaurants der Welt zu suchen, wenn sie es nicht bereits vorher wussten. Das Konzept, das Herman hier etablierte, wäre in dieser Form wohl auch schon wegen bürokratischer Hürden in Deutschland kaum denkbar: im ehemaligen Altarraum befindet sich nun die große, vollverglaste Küche, in der ein selten aufgeregtes Treiben herrscht. Die ehemalige Orgelempore fungiert nun als Barbereich, der zudem per Lift erreicht werden kann, und die Fenster wurden durch moderne Glaswerke ersetzt, die allesamt eine kulinarische Thematik aufweisen. Zentrales Element des Raumkonzepts ist ein gigantischer schwarzer Lüster, von dessen Zentrum aus strahlenförmig gerade Stäbe mit Glühbirnen an den Enden einen mehr als nur sporadischen Blickfang darstellen. Laut Aussage einer Mitarbeiterin sei über der gläsernen Küche bis vor kurzem sogar noch ein überdimensionaler Totenkopf platziert gewesen, der aber inzwischen einer modernen, vergoldeten Plastik gewichen ist. Die Decke hingegen wurde nicht gerade von Michelangelo gestaltet – von ihr blättert ganz einfach der Putz ab. Mit welchem der zahlreichen Mitarbeiter man auch immer ins Gespräch kommt, sie alle bestätigen, dass sie sich derzeit nicht vorstellen könnten, woanders lieber zu arbeiten.

Einen marokkanischen Eistee zum Einstieg interpretiert die Upper Room Bar mit Aromen von Kardamom, Sakura (japanische Kirschblüte) und geeisten Litschi-Perlen. Das ist mal ein ungewöhnlicher Einstieg, nachdem einige der mir in Belgien präsentierten alkoholfreien Aperitifs nicht sonderlich zusagten!

Mit Muschel, weißem Knoblauch und Pan de crystal (katalanisches Brot) startet die Küche: eine optisch aparte Komposition in einem tiefen Schälchen mit klaren farblichen Segmenten (grüne Tomaten und Knoblauchcrème) und einem Muschel-Türmchen in der Mitte ist ein gefälliger, aber keineswegs überragender Einstieg.

Selbiges gilt auch für Chawanmuschi, Aal und Trüffel-Soja. Kurioserweise muss ich hier an Tohru Nakamura, den Chefkoch des Münchner Spitzenlokals Geisel’s Werneckhof denken, denn dieser stand während seiner Ausbildung auch schon bei Herman am Herd. Die auf dem Teller dargebotene Kreation erinnert mich stark an ein Gericht, das ich im Oktober 2017 bei Nakamura als Einstieg vorgesetzt bekam. Auch hier ist die japanische Eierstichsuppe mit herzhaften Aromen veredelt – und doch will sich auch hier noch keine rechte Begeisterung bei uns einstellen.

Dies ändert sich zum ersten Mal mit Petermännchen, Bouillabaisse und Pulpo. Ähnlich dem japanischen Kugelfisch gibt es auch bei diesem Fisch giftige Teile, so dass er wenig überraschend kaum auf Speisekarten zu finden ist. Das Gericht punktet jedoch mit einer überaus herzhaften Bouillabaisse und dem besten Tintenfisch seit dem Exemplar vor drei Jahren im Berliner Facil.

Ein echter Höhepunkt ist Arctica Islandica (Islandmuschel). Die erst am Tag zuvor geerntete Muschel ist ultrafrisch und ganz puristisch nur mit einem säuerlichen grünen Sud aufgegossen, dessen Zusammensetzung ich aufgrund des Lärmpegels bei der Ansage nicht verstanden habe. Ich tippe jedoch auf Salatgurke mit etwas Limette.

Hamachi, Avocado, Wassermelone und Huacatay (Tagetes) ist ein Teller, bei dem anstelle der Gelbflossenmakrele eher die Wassermelone in den Mittelpunkt geschoben wird, die den Teller in Form von Eis und dünnen Scheiben dominiert. Zusammen mit der cremigen Avocado ergibt dies einen ungewohnten, für mich schwer zu beurteilenden Kontrast.

Auster, Meeresalgen, Plankton und Meerrettich erinnert stark an die Ästhetik des Hertog Jan, das wir zwei Wochen zuvor besucht hatten (siehe Rezension). Das knallgrüne Gericht verdeckt die Auster fast komplett unter einem Eis von Algen, das mit geeisten Meerreetichperlen getoppt ist. Etwas Dill und Plankton verleihen diesem ausgezeichneten Avantgarde-Gericht die nötige Würze.

Rochen, Tintenfisch, Bumbu Bali (balinesischer Rindereintopf) und Thai-Sauce ist mir aus zwei Gründen in Erinnerung geblieben. Zum einen ist dies ein ungewöhnlich würziges Gericht und zum anderen lernt man an einem einzigen Nachmittag hier mehr Lebensmittel aus allen Winkeln der Welt als sonst in einem ganzen Jahr kennen. Es scheint, als habe sich Herman ein geradezu enzyklopädisches Wissen über die exotischsten Lebensmittel rund um den Globus angeeignet. Allmählich wird mir klar, dass vermutlich kein zweites Lokal auf dem Planeten eine solch große Bandbreite an Produkten binnen eines einzigen Menüs offerieren kann – schon allein aus diesem Grund lohnt sich ein Besuch hier definitiv.

Kaisergranat, Pakt-Pilz und Blumenkohl ist ein kleines Türmchen mit einer kleinen Tranche vom Fisch unten gepufftem Blumenkohl obenauf. Der sparsam eingesetzte Pilz hat kaum mehr als dekorative Funktion.

Menapier-Schwein (offenbar eine bereits von Kelten gezüchtete Art), Senfrauke und Guanciale (Schweinespeck) ist nicht zuletzt aufgrund der herzhaften Senfsauce und dem am Platz auf den Teller geriebenen Parmesan eine aromatische Wucht, die mit Sicherheit zu den allerbesten Eingebungen des Tages zählte.

Auch das Hauptgericht (das tatsächlich etwas größer portioniert war) in Form von Reh, Brokkoli und Estragon ist ein weniger ziseliertes Gericht als die Vorgänger, schmeckt aber trotz allem ausgezeichnet. Ich frage mich nur, welch geradezu banale Produkte hier auf einmal verwendet wurden?!

Zwei Desserts folgen noch: Inaya (ein balinesischer Kuchen), Mango und Passionsfrucht ist ein bildschön arrangiertes Gericht mit einem Mangoeis, geeisten Perlen aus Passionsfrucht und vielen weiteren dekorativen Elementen wie Meringe.

Pavlova „Fedin“ ist der Name des letzten Desserts. Pavlova ist eine Art Boden aus Meringe, „Fedin“ bezog sich wohl auf den Stil: jedenfalls war diese Variante garniert mit Segmenten von Kokosnuss, Schokolade und einigen weiteren – für mich nach fünf Stunden – nicht mehr näher definierbaren Elementen.

Als Gag zum guten Schluss, „a subtle impact“ genannt, kommt noch eine hausgemachte Tafel Schokolade, die man mit einem eigens dafür vorgesehenen und bereit gestellten Hammer in mundgerechte Stücke zertrümmern darf.

Ich gebe unumwunden zu, dass dies mit Abstand das bisher am schwersten zu rezensierende Lokal war, das ich je besucht habe. So viele der Erlebnisse lassen überhaupt keinen Vergleich mit anderen Restaurants zu, und die eingesetzte Produktpalette sprengt alle Grenzen der Vorstellungskraft. Ich wage die Behauptung, dass selbst viele professionelle Köche diese Zutaten nicht alle kennen würden. Wie schlicht oder auch exotisch die Zutaten gewesen sein mögen – die Küche machte stets etwas Bemerkenswertes aus ihnen, selbst wenn das Ergebnis nicht immer gleichermaßen überzeugend war. Der hier betriebene Aufwand (man denke allein an den Einkauf all dieser exotischen Produkte) ist schlichtweg beispiellos und erklärt das Gewusel in der Küche vollauf. Dass nebenher trotz allem zwei Mal 70 Gäste am Tag auf diesem Niveau bewirtet werden, ist dabei vielleicht das größte logistische Wunder. Fucking perfect war es noch nicht, aber einmalig auf jeden Fall!

Das von Herman verfolgte Konzept ist in seiner Gesamtheit revolutionär und absolut zukunftsweisend. Spitzengastronomie wird hier als ein Erlebnis zelebriert, das alle Sinne gleichermaßen ansprechen soll – eine Übertragung von Richard Wagners Schlüsselbegriff des Gesamtkunstwerks auf die Kulinarik scheint hier keineswegs vermessen. Trotzdem bleibt noch hier und da Luft nach oben: die langatmige Inszenierung des Nachmittags ließ die Konzentration des Gasts auf das Geschehen auf dem Teller des öfteren schwinden, denn nach fünf Stunden (Mittagessen wohlgemerkt) war der Speisesaal noch genauso voll wie um 12:30 Uhr – die ersten Gäste gingen de facto kurz nach 17 Uhr. Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass verteilt über den Nachmittag gut und gerne sieben oder acht verschiedene Servicekräfte an einem einzigen Tisch agieren. Zwar unterliefen der Servicebrigade nur kleinere Patzer, aber in logistischer Hinsicht scheint mir der aktuelle Zustand derzeit keine ideale Lösung des Problems darzustellen.

Und die Küche selbst? Schwachpunkte gab es keine, Höhepunkte dagegen schon punktuell. Vielleicht wäre die Wertschätzung des einen oder anderen Gerichts in einem anderen Kontext tatsächlich noch höher ausgefallen, aber so wie die Dinge lagen fiel es mir so schwer wie lange nicht mehr, die Gerichte angesichts dreizehn Häppchen angemessen zu bewerten. Chefkoch Nick Bril, der bereits unter Herman in Sluis dessen rechte Hand war, dirigiert eine auffällig große und teils hektisch agierende Küchenbrigade. Die Ästhetik, in nahezu jedem Gang ein Fisch- oder Meeresfruchtprodukt in den Mittelpunkt zu stellen und dieses dann mit etwas Gemüse und exotischen Gewürzen aufzuwerten, zog sich durch den Nachmittag wie ein roter Faden. Es dauerte allerdings auch bis zum letzten Häppchen vor dem Hauptgericht, ehe erstmals ein Fleischprodukt auf den Teller kam. Die objektive Bewertung fiel auch insofern schwer, als zwischen manchen Gängen eine sehr kurze und zwischen anderen wiederum eine auffällig lange Wartezeit festzustellen war – ohne dass es dabei allerdings einen offensichtlichen Grund oder thematischen Zusammenhang bei den Gerichten gegeben hätte. Angesichts eines aufgerufenen Preises von € 165 für diese einzigartige 13-gängige Parade und fairer Nebenkosten ist dieser Besuch sogar ein vergleichsweise erschwingliches Erlebnis, zumal auch die Nebenkosten keineswegs aggressiv kalkuliert sind. Wer in der Gourmetszene mitreden will, muss hier einfach mindestens einmal gewesen sein, denn wie man das Ergebnis schließlich beurteilt, ist absolut sekundär. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Guide Michelin dieses überaus fordernde Erlebnis – meines Erachtens durchaus zurecht – derzeit „nur“ mit zwei und nicht mit drei Sternen honoriert. Man könnte fast in Versuchung geraten zu behaupten, dass der Status quo sogar den besseren Zustand darstellt, bevor Herman das nächste Etablissement wegen des dritten Sterns schließt …