Anmerkung: nach den Vorwürfen gegen Christian Jürgens hat die Althoff-Gruppe die Zusammenarbeit mit dem Koch im Juni 2023 beendet. Das Restaurant ist geschlossen.
„Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ (volkstümliches Sprichwort)
Oktober 2019
Ein wunderbar sonniger Herbsttag soll den passenden Rahmen für den Besuch in einem der besten Restaurants der Republik liefern: malerisch schmiegt sich der kleine Ort Rottach-Egern an das südliche Ende des Tegernsees. Hier befindet sich das Althoff Seehotel Überfahrt, das zu den Leading Hotels of the World gehört. Dieses beherbergt auch Deutschlands südlichstes Drei-Sterne-Restaurant, das Überfahrt.
Chefkoch Christian Jürgens (vormals im Kastell auf Burg Wernberg in Wernberg-Köblitz) steht hier zusammen mit einer riesigen Küchenbrigade nun schon elf Jahre am Herd und darf sich seit 2014 durchgehend nicht nur mit den höchsten Weihen des Guide Michelin (drei Sterne), sondern auch mit denen der anderen Guides schmücken. Dies hat der Perfektionist jedoch nie zum Anlass genommen, das Erreichte zu zelebrieren und sich zurückzulehnen, denn die Konkurrenz im globalen Gourmetzirkus schläft bekanntlich nicht. Wer hier einkehrt, den erwartet eine zeitgemäße, teils geradezu elegante (und sündhaft teure) Küche, die sich in jüngster Zeit allerdings ein wenig mehr der klassischen Tugenden verschrieben hat.
Das in hellen Brauntönen gehaltene Esszimmer besticht durch edle Wände aus Hirschhautleder, einigen nostalgischen Schwarz-Weiß-Fotografien, blanken Holztischen, teuren Sesseln, einer gewagten Lampenkonstruktionen sowie zwei ausgehöhlten Baumstämmen, in denen Getränke kalt gelagert werden. Ansonsten gestattet die verglaste Wand zum Garten hin einen großzügigen Blick nach draußen, der speziell bei dem schönen Wetter erfreulich gerät – mein Fokus ist allerdings naturgemäß stärker auf das Essen fixiert. Christian Jürgens wird ganz gerne als Poet unter den großen deutschen Köchen bezeichnet, da seine phantasievollen, farbenfrohen Kreationen tatsächlich ein Gespür für Sinnliches erahnen lassen.
Hier wird wohl wegen des großen Aufwands nur ein Menü angeboten, das an drei Stellen jeweils Optionen zur Wahl stellt (wobei bisweilen eine der Optionen hochpreisiger als die andere ist und Zuschlag kostet). Ansonsten ist das Menü durchgetaktet und wird in angemessenem Tempo an die Tische gebracht. Zum Einstieg lasse ich mir ein Glas Sauvignon Blanc Traubensaft „Flein“ von den Brüdern Gross (Steiermark) einschenken. Dazu tischt man drei Petitessen in nicht essbaren Walnußschalen auf: eine davon ist gefüllt mit einer deftigen und herzhaft gewürzten Brathähnchen-Mousse. Die zweite wartet mit Auberginen-Relish und gepickelten Radieschen auf, während die dritte schließlich ein Gemüsetatar mit Enokipilzen beinhaltet. Die recht verspielte Optik ist dabei auf einer Höhe mit geschmacklich vielfältigen Eindrücken auf kleinem Raum – durchaus beeindruckend.
Der Gruß aus der Küche, „Hommage an Dieter L. Kaufmann“, ist dem ehemaligen, inzwischen 82-jährigen Chef der Traube in Grevenbroich gewidmet. Der Bezug zum Koch des damaligen Zwei-Sterne-Lokals in NRW leuchtet mir zwar nicht ganz ein, doch geschmeckt hat die Kreation umso besser: eine herrlich kühle und fluffige Störmousse wird mit etwas Gin-Fizz-Sorbet sowie Gurkensud und -perlen veredelt. Die Krönung ist die Nocke Kaviar obenauf, die mit salzig-jodigen Aromen einen wunderbar komplementären Geschmack beisteuert und dem eleganten Gericht eine wohltuende, aber keineswegs verkopfte Tiefgründigkeit verleiht. Zum Verzehr wird übrigens ein Löffel mit einer Laffe aus Perlmutt gereicht! Weitaus irdischer präsentiert sich dagegen die Brotauswahl, der hier – im Gegensatz zu früher – offenbar keine nennenswerte Aufmerksamkeit mehr geschenkt wird.
Der Einstieg ins Menü mit Ceviche von der Dorade, Fenchel und Limone gerät für meine Begriffe zurückhaltend. Die dezente Begleitung des zarten Fischs durch den Limonensud versprüht zwar eine gewisse Eleganz, doch kommt mir das Ceviche insgesamt zu blass daher. Der Fenchel dominiert die Kreation, während die Qualitäten der ultrafrischen Dorade dagegen nicht sonderlich gut zum Tragen kommen. Für meine Begriffe hätte man aus diesem verhaltenen Einstieg mehr machen können, wenngleich das Gericht nicht völlig enttäuschte. Schwamm drüber, denn es sollte der bei weitem schwächste Gang an diesem Nachmittag bleiben …
Alle Register ihres Könnens (und damit ist auch das folgende Tischtheater gemeint) zieht die Küche bei Hong Kong Cray Fish Tea: eine Kaffeemaschine Marke „Cona“ enthält im unteren Gefäß eine aromatisierte Brühe. Durch Erhitzen und Druckunterschiede wird die Essenz allmählich nach oben gezogen und dadurch mit Zitronengras, Ingwer und Rote Bete im oberen Behälter weiter aromatisiert. Anschließend wird die Flüssigkeit wieder abgelassen und darf im unteren Behälter weiter köcheln …
… bis sie schließlich in hocharomatischer Dichte auf einen separaten Teller mit Kaisergranat, Sesam und Kräutern aufgegossen wird. Am beeindruckendsten geriet beim Verzehr allerdings nicht die hochintensive, aromatisierte Brühe, sondern die umwerfende Produktqualität und mustergültige Zubereitung des Granats, der genau die richtige Konsistenz und Bissfestigkeit erlangt hatte. Wenngleich diese Inszenierung nicht eine Idee der Küche hier darstellt (andere internationale Restaurants haben dies schon vor dem Überfahrt so praktiziert), so begeistert die asiatische Frische und vielfältige Aromatik dennoch über die Maßen.
Den Gipfel seiner Kunst erlangt Christian Jürgens mit seinem Team bei Donaulachs (Huchen), Saiblingskaviar, Spitzkohl und Vin Jaune. Das in für Jürgens’sche Verhältnisse ungewohnt puristischer Inszenierung daherkommende Gericht platziert die großzügige Tranche des Huchens zentral auf dem Teller. Getoppt wird er dabei von leicht geschmolzenem Ceta-Kaviar und in einer unbeschreiblich tiefgründigen Sauce kongenial gebettet – abgerundet wird die Kreation von den feinherben Aromen des Kohls, die sich wunderbar einfügen. Die ungeheure aromatische Dichte und das perfekte Handwerk hieven dieses Gericht auf Weltklasseniveau – man möchte sich gar nicht ausmalen, wie vielen Stunden allein für die Herstellung der Sauce notwendig waren. Treffsicher empfiehlt die Sommelière dazu einen vollendeten Begleiter: Bergapfelsaft aus dem Hause Kohl (Südtirol). In Summe ist dies grandios, einfach grandios!
Ein Klassiker stimmt auf das Hauptgericht ein: die Kiste. Dahinter verbirgt sich ein quadratischer, mit flüssigem Eigelb gefüllter Kartoffelwürfel, der zentral auf dem Teller positioniert ist und mit etwas Trüffelsalat (Périgord) getoppt ist. Umspielt wird der Würfel von einer herzhaften Trüffelmousseline sowie einer aufgegossenen Madeira-Sauce, die das Gericht abermals würdig veredelt und zu einem herbstlich anmutenden Genuss ersten Ranges macht. Die erdigen Noten dieser Kreation erlangen perfekte Harmonie und faszinieren sowohl durch ihre Intensität als auch durch ihre texturelle Vielfalt, die von kross bis schmelzend reicht – völlig zurecht ein Signature Dish des Hauses.
Der Hauptgang „Blueberry Hill“ erfordert die volle Aufmerksamkeit des Essers, da die Qualitäten dieses Gangs nicht auf der Hand liegen und erst bei sehr bewusstem Verzehr voll zum Tragen kommen: der vermutlich lange Zeit geschmorte Rehrücken entwickelt eine schwere, herbe und leicht bittere Aromatik, die allerdings ausgesprochen aristokratisch gerät. Dazu wird obenauf eine hauchdünne, geschmolzene Schicht Boudin Noir (Blutwurst) platziert, die unfassbar subtil und keineswegs derb gerät; darüber werden marinierte Blaubeeren drapiert, die die herben Aromen wunderbar auffangen. Die klassischte aller Wildsaucen, die Sauce Rouennaise, gerät jedoch zur eindringlichsten Visitenkarte des Chefs, denn die mit Taubenleber gebundene und Segmente von Blutwurst beinhaltende Sauce könnte nicht mustergültiger geraten. Optimaler Begleiter des Hauptgerichts ist ein schwerer, alkoholfreier Zweigelt des Jahrgangs 2016 vom Weingut Bernhard Ott (Niederösterreich). Dieses in jeglicher Hinsicht ungewohnte Hauptgericht ist selbst für erfahrene Esser eine Herausforderung, der man sich allerdings gerne stellt. Fazit: viel gewagt und alles gewonnen!
Mit dem Käsegang beweist die Küche, dass ihr der Hang zu verspielten Kreationen doch noch nicht ganz abhanden gekommen ist – zum Glück, denn ich hatte mir schon ernsthafte Sorgen gemacht! Die Golden Eye 2.0 genannte Kreation platziert Fourme d’Ambert kreisrund um die halbflüssige zentrale Masse aus Apfelquitte, während karamellisierte Walnüsse nicht nur wohltuenden Biss, sondern auch eine angenehm dezente Süße beisteuern. Wie all diese Aromen in wunderbarer Harmonie auf dem Teller kooperieren, ist atemberaubend – definitiv eines der drei besten Käsegerichte in diesem Jahr!
Das Dessert „Oma Jürgens‘ warmer Himbeerkuchen“ gerät erfreulich individuell und kommt doch ohne abgehobene Attitüde daher: heiße glasierte Himbeeren bedecken eine Ganache aus Guanaja-Schokolade, die mit Pekannüssen verfeinert wurde. Dazu kommt noch ein Klecks „Milchmädcheneis“ (Vanilleeis) – klingt simpel, beeindruckt aber dennoch und ist nicht so banal wie es der Titel vielleicht vermuten ließe. So oder so – ein sympathisch daherkommendes Dessert. Anstelle von Petits fours gibt es in diesem Haus zum Abschluss traditionell ein Stück Torte zur Auswahl: heuer waren es Zwetschgendatschi, Malakoff-Torte und Sacher-Torte. Zwar bereue ich meine Wahl (Sacher-Torte) nicht, doch ist beim Verzehr inzwischen ein Grad an Sättigung erreicht, der keine vollständige Würdigung des Ausklangs mehr zulässt.
Sommelière Marietta Stegbuchner und ihr Kollege, Restaurantleiter Peter Nasser, machen einen aufmerksamen Job: speziell die empfohlenen Getränke passten selten gut zu den jeweiligen Gängen. Beide finden häufig die richtige Balance zwischen Pflicht und Leichtigkeit. Auf die übrigen Kellnerinnen trifft dies leider nur bedingt zu, denn die jungen Damen (gekleidet in schwarzen Hozen, weißen Blusen, schwarzer Fliege und Hosenträgern) wirken zumindest bei der Ansage der Gerichte ein wenig steif: man erfährt im Prinzip nur nochmals dasselbe, was bereits der Menükarte zu entnehmen war. Details zur Herstellung bleiben hingegen außen vor – fast so als wollte die Küche hier echte Geheimniskrämerei betreiben. Bei den vermutlich auswendig gelernten Ansagen sehe ich noch Optimierungsbedarf, aber ansonsten macht die Servicebrigade einen tadellosen Job.
Im Vergleich zum letzten Besuch hat sich die Stilistik von Christian Jürgens spürbar verändert: die Zahl der Spielereien ist deutlich zugunsten einer stärkeren Reduktion und Fokussierung auf das Wesentliche gewichen. Gab es vor ein paar Jahren beispielsweise noch hauchdünne Brotchips, die in kleinen Ritzen in einem Ast positioniert waren, sowie einen Brotaufstrich, der auf einem großen Kieselstein aufgetragen war, so braucht man über die heute konventionelle Brotauswahl dagegen längst nicht so viele Worte verlieren – was aber auch durchaus als Kompliment verstanden werden kann. Die Kreativität der Küche, die sich immer noch weiterentwickelt und keinen Stillstand duldet, der sich auf den Lorbeeren ausruht, äußert sich nun in eher kompakten, geometrisch ansprechenden Kreationen anstatt durch knallige Farben. Unterm Strich kommt dies dem Geschmack enorm zugute, da die hervorragende Güte der Produkte keine Sperenzchen nötig hat. Insgesamt ist eine Hinwendung zu stärkerer Produktorientierung festzustellen, die den Gerichten absolut gut tut. So poetisch geriet das Menü folglich gar nicht, doch die Balance zwischen Poesie und Sachlichkeit empfand ich als äußerst wohltuend. Eine sichere Bank bleibt außerdem seit jeher das Gespür des Grand Chefs für Saucen, bei dem er mittlerweile ein Niveau erreicht hat, das ihn für meine Begriffe auf eine Stufe mit dem legendären Heinz Winkler stellt. Genauso prägnant ist seine Fähigkeit, vergleichsweise rustikale heimische Produkte zu veredeln und immer wieder in den kulinarischen Adelsstand zu erheben – das macht ihm so schnell keiner nach!
Kein Wunder, dass die klassischen Gourmetführer praktisch seit Jahren an ihren Höchstnoten festhalten (lediglich der GUSTO verweigert den Bonuspfeil zu den zehn Pfannen weiterhin beharrlich). Der FEINSCHMECKER zählt das Lokal insgesamt sogar zu den hundert besten Restaurants weltweit. Falsche Zurückhaltung in Sachen Vermarktung ist jedenfalls nicht die Sache des Herrn Jürgens, der sich selbst nicht nur das Prädikat „Weltklasse“ bereits auf der Homepage des Lokals attestiert, sondern auch die Email-Schilder des Guide Michelin der drei vergangenen drei Jahre an die Eingangstür des Lokals anbringen ließ – quasi ein Neun-Sterne-Restaurant! Über den Sinn solcher Eitelkeiten kann man geteilter Meinung sein, doch solange die Küche überzeugt, stört mich das wenig. Ich selbst würde dieses Etablissement definitiv zur erweiterten Weltspitze zählen – für das Prädikat der absoluten Weltklasse fehlt mir hier und da noch ein Quentchen im Vergleich zu so manchem anderen Weltklasse-Lokal, das ich schon besuchen durfte. Dennoch soll diese Feststellung die Einschätzung eines sehr gelungenen Nachmittags nicht trüben, der allenfalls durch die geforderten Preise ein wenig relativiert wurde. Womit wir schon beim entscheidenden Thema wären …
Ein paar Worte über monetäre Aspekte lassen sich leider nicht vermeiden: selbstverständlich ist jedem, der auch nur ein wenig vorher im Internet recherchiert, klar, dass hier inzwischen ein Menüpreis von € 309 für das siebengängige Menü aufgerufen wird. Dennoch kann ich nicht verhehlen, dass die Preispolitik in diesem Etablissement ziemlich rigoros ist: bei meinem letzten Besuch im September 2013 – zwei Monate, bevor das Restaurant mit dem dritten Stern ausgezeichnet wurde – kostete ein siebengängiges Menü € 199. Ein Jahr später wurde wieder ein nahezu identisches Menü offeriert, aber diesmal zum Preis von € 249. Seither wurden pro Jahr mehr als € 10 aufgeschlagen, so dass das Überfahrt inzwischen die zweifelhafte Ehre genießt, als erstes Restaurant in Deutschland mit dem Menüpreis die 300-Euro-Schallmauer durchbrochen zu haben. Das ist ein Preis, den man sonst nur von Paris, der Schweiz oder Skandinavien kennt. Hinzu kommt, dass das Menü an manchen Stellen eine Wahl zwischen zwei Optionen anbietet, von der eine meist nochmals locker 50 oder 60 Euro Aufpreis kostet; auch bei den Nebenkosten wird kräftig zugeschlagen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist somit leider das mit Abstand schwächste in der gesamten Republik, zumal die Zahl der Extras auch nicht gerade üppig ausfällt. Selbstverständlich ist der Mehrzahl der betuchten Gäste der exakte Preis vollkommen egal (erst recht dann, wenn sie von Japan, Hongkong, Russland oder Arabien eigens anreisen), doch attraktiver wird das Lokal durch diese Praxis sicherlich nicht. Andererseits ist das Lokal ja auch so ständig ausgebucht, so dass diese Kritik vermutlich ohnehin einfach an den Betreibern abperlt. Dass die Pacht in einer solchen Region wie dem Tegernseer Tal natürlich horrend ist, leuchtet auch ein. Immerhin gibt es ja den Paradeblick auf den Tegernsee vom Hotel aus gratis dazu …
Dass das Überfahrt zu den zehn besten Restaurants von Deutschland gehört, steht außer Frage – dass es beim Preis bundesweit die Pole Position einnimmt, ebenso. Tatsache ist allerdings auch, dass es eines der ganz wenigen deutschen Spitzenrestaurants ist, die internationale Aufmerksamkeit erlangen konnten – da haben viele andere deutsche Dreisterner noch erheblichen Nachholbedarf in Sachen Vermarktung. Die Küchenleistung an sich rechtfertigt selbstverständlich einen Besuch jederzeit, nur leisten kann man sich das eben nicht ständig. Ansonsten: klare Empfehlung, gerade für besondere Anlässe!