Deutschland wird derzeit von einem Lebensmittelskandal erschüttert – wieder einmal, muss man fast schon konstatieren. Diesmal ist es ein Wurstproduzent in Nordhessen, doch Namen und Örtlichkeiten spielen bei derartigen Skandalen offenbar längst schon kaum eine Rolle mehr. Vielmehr geht es um eine allgemeine Art Entsetzen, mit welcher Leichtfertigkeit Schindluder mit unserer Gesundheit getrieben wird. Auch diesmal ist die Empörung wieder groß – zu Recht? Die Antwort darauf von mir ist ein klares „Jein“.
Wir brauchen nicht ernsthaft darüber zu diskutieren, dass die Fleischindustrie in Deutschland mit einem außerordentlich negativen Image behaftet ist – sei es nun Massentierhaltung, Einsatz von Medikamenten, Ausbeutung von Mitarbeitern und Verkauf minderwertiger oder gar verdorbener Ware. Die Liste ließe sich nahezu beliebig fortsetzen, zumal neue Skandale in schöner Regelmäßigkeit die Mißstände nur aufs Neue belegen. Änderungen zum Besseren scheint es hingegen wenig bis keine zu geben, da die derzeitige Agrarpolitik in Deutschland ja in erster Linie offenbar darauf abzielt, die Interessen der Großkonzerne (nämlich Gewinnmaximierung) und nicht die Gesundheit der Verbraucher zu schützen. Zu allem Überfluss kommt noch hinzu, dass der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure jüngst eine zu geringe Personaldecke beklagte und konstatierte, dass im vergangenen Jahr dadurch nicht einmal die Hälfte aller Betriebe kontrolliert werden konnte.
Es wäre allerdings falsch zu glauben, dass der Endverbraucher diesem Treiben wehrlos ausgeliefert ist und ihm tatenlos zusehen muss. Wer auf diese Art und Weise argumentiert, der hat noch nicht verstanden, dass es zwar leicht ist, den moralischen Zeigefinger zu heben, doch bewirkt man damit meist wenig. Ich jedenfalls kenne keinen Kettenraucher, der dieses Laster nur deshalb aufgegeben hätte, weil ich ihm dazu geraten hätte. Was muss also stattdessen geschehen?
Uns Deutschen sind viele Dinge fast schon heilig: unser Auto, der Urlaub, das Smartphone und so weiter. Auch beim Thema Essen wollen wir auf die Wurst oder das Steak beim Grillen nicht verzichten. Doch selbst in Zeiten, in denen Ernährung und ihre Begleitumstände angesichts von Klimakrisen stärker denn je in den Fokus des Interesses rücken, scheint bei vielen in unserem Land keine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema stattzufinden. Dabei geht es mir noch nicht einmal um die Frage, ob wir noch Fleisch essen dürfen, sondern welches Fleisch wir essen wollen.
Seltsamerweise sind viele von uns Deutschen ohne mit der Wimper zu zucken bereit, viel Geld in unsere Vehikel oder den Sommerurlaub zu investieren. Längst hinterfragen die wenigsten, ob man im nächsten Jahr eventuell mal kein neues Smartphone bräuchte. Seltsamerweise ist uns unser Essen auch ausgesprochen wichtig, doch auf diesem Gebiet fehlt dagegen die Wertschätzung dafür. Während sonst häufig nur das Beste gerade gut genug ist, haben sich auf kulinarischem Gebiet längst Slogans wie „Geiz ist geil!“ oder „Hauptsache, viel auf dem Teller“ in unsere Köpfe geschlichen. In Deutschland wird seitens der Politik Geld in ein System gepumpt, das dubiose und moralisch fragwürdige Praktiken unterstützt. Machen wir uns jedoch nichts vor: die Unternehmen bedienen andererseits nur die Erwartungshaltung der Konsumenten, denn ansonsten würden sie ja kein oder jedenfalls viel weniger Geld verdienen. Und wie sieht nun diese Erwartungshaltung aus? Das Fleisch muss vor allem eines sein: günstig. Dass angesichts von spottbilligen, in Plastik verpackten Fleischbrocken in den Supermarktregalen die Qualität dabei zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss, ergibt sich dabei ganz von alleine, doch trotzdem wollen viele das nicht wahrhaben. Seit vielen Jahren schon müssen Milchbauern und Viehzüchter dem Preisdruck nachgeben und ihre Betriebe schließen, weil ihre Arbeit völlig unrentabel geworden war.
Die Marktmacht des Endverbrauchers ist dabei mindestens so groß wie die der Konzerne selbst. Wenn wir also den Zeigefinger auf die Konzerne richten, dann zeigen wir dabei immer gleichzeitig mit drei Fingern auf uns selbst. Wir müssen uns die Frage stellen, ob uns unser Fleisch mehr Geld wert sein muss. Die Antwort ist das klarste „Ja“, das man seit langem vernommen hat. Entweder wir haben ein Interesse an besseren Lebensmitteln und müssen die sich hieraus ergebenden Konsequenzen akzeptieren oder wir dulden die Praktiken zwielichtiger Konzerne weiterhin.
Ich selbst habe mir den Kauf von solch minderwertiger Ware längst abgewöhnt und nie bereut. Wann immer ich Personen, die mit der Spitzengastronomie noch nie in Kontakt gekommen sind, über mein Dasein als Gourmet einweihe, dann ergeben sich daraus meist recht erhellende Gespräche. Ich möchte mich jedenfalls niemals dafür rechtfertigen müssen, dass ich bereit bin, für bessere Produkte höhere Preise zu zahlen. Der Konsum von Lebensmitteln hat auf meine physische und psychische Verfassung offensichtlich eine ungleich höhere Auswirkung als jedwedes Smartphone oder Auto. Diese Verschiebung der Prioritäten hat mir bereits sehr geholfen – und ich wünschte, das wäre auch bei vielen anderen der Fall.
In vielen anderen westeuropäischen Ländern ist es längst Usus, dass Spitzenrestaurants staatlich subventioniert werden – ob man gleich so weit gehen muss, sei dahingestellt, doch besser als in Massentierhaltung ist dieses Geld allemal investiert. Gleichwohl bin ich mir sicher, dass ich diesen Tag wahrscheinlich nicht mehr erleben werde, in dem das in Deutschland Wahrheit wird. Als vor einigen Wochen der Hamburger Drei-Sterne-Koch Kevin Fehling in einem Interview den Vorschlag unterbreitete, die deutsche Spitzengastronomie ebenfalls subventionieren zu lassen, war die öffentliche Empörung ob dieses Vorschlags gefühlt noch weitaus größer als beim jüngsten Lebensmittelskandal – obwohl wir hier von einem vergleichsweise geringen Betrag reden. Diese Episode zeigt, dass wir gegenüber anderen Industrienationen in Europa jedenfalls noch gewaltigen Nachholbedarf beim Thema Wertschätzung fürs Essen haben – denn sollte uns die Wurst und deren Produktion eines Tages gar völlig wurscht werden, dann haben wir jedes Recht, solche Skandale zu verurteilen, selbst verwirkt.