1950 Bio fine dining, Hayingen-Ehestetten

 „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper.“ (Simon Tress)

August 2023

Es dürfte nicht vielen Gourmets aufgefallen sein, aber eine Sensation war es dennoch: in einer beispiellosen Aktion hatte der Gault&Millau in seiner jüngsten Ausgabe für 2023/24 das Urteil für ein Restaurant im Vergleich zum Vorjahr um sage und schreibe drei Noten von zwei schwarzen Hauben auf drei rote Hauben angehoben. Empfänger dieser unglaublichen Auszeichnung war das Restaurant 1950 Bio fine dining in Hayingen-Ehestetten – was die ganze Angelegenheit insofern noch verwunderlicher macht, da sowohl die Schwäbische Alb als auch das südlich davon gelegene Oberschwaben in den letzten Jahrzehnten einen kulinarischen Dornröschenschlaf hinlegten. Mit Ausnahme des Waldhorn in Ravensburg unter der Leitung des legendären und bereits verstorbenen Albert Bouley und dem seinerzeit vom begnadeten Bernhard Diers bekochten Schwanen in Haigerloch gab es in den all den Jahrzehnten keine weiteren Zweisterner zwischen Albtrauf und Bodensee. Selbst die Zahl der Einsterner konnte man meist an einer Hand abzählen, doch jüngst tat sich auch endlich in diesen Regionen etwas – das Esszimmer in Schwendi, das MARKOS in Weingarten oder das ursprung in Königsbronn stehen beispielhaft für einen gewissen kulinarischen Aufschwung auf beachtlichem Niveau.

Dank des Engagements vierer Brüder namens Tress hat die Alb nun endlich wieder beste Aussichten, ein weiteres in Zukunft bekanntes Lokal vorzuweisen, von dem man sich noch einiges erhoffen darf. Alle vier Brüder sind ins Familienunternehmen auf die eine oder andere Art eingespannt: so bewirtschaftet die Familie beispielsweise einen Gasthof an der südlich von Hayingen gelegenen Wimsener Höhle, der einzigen mit dem Boot befahrbaren Wasserhöhle Deutschlands. In allen vier (!) familieneigenen Restaurants wird allerdings konsequent auf biologisch-nachhaltige Art gekocht, wobei das Essen im Stammhaus Rose das Credo der Familie am besten beschreiben dürfte. Unerfahrenen oder noch skeptischen Essern sei diese Adresse vorbehaltslos empfohlen, wenn sie sich aus welchem Grund auch immer nicht trauen sollten, der fulminanten Hochküche im Fine Dining Restaurant gleich nebenan zuzusprechen. Bevor ich mein Augenmerk auf das Flaggschiff richte, sei noch darauf hingewiesen, dass die Arbeit nach Demeter-Vorgaben hier bereits seit 1950 Tradition hat, als der Großvater der vier Brüder Pionierarbeit leistete und den Bauernhof daraufhin neu ausrichtete – daher auch der Name des Restaurants. Die Produkte der Tress-Brüder sind Ihnen vielleicht auch schon mal in einem besser sortierten Supermarket begegnet, denn dank der Nudeln oder Suppen aus diesem Hause hat sich die Familie bereits durchaus einen Namen gemacht, der über die Region hinaushallt.

Simon Tress, der zweitälteste der vier Brüder, ist in seiner Rolle als Chefkoch des 1950 das bekannteste Gesicht der Familie: neben der Tätigkeit als Chefkoch tritt er auch öfters im bekannten ARD Buffet auf. Noch fehlt seinem Lokal der begehrte Michelin-Stern, doch angesichts einer so illustren Ausbildungsstätte wie der Traube Tonbach in Baiersbronn unter Harald Wohlfahrt scheint es schwer vorstellbar, dass dieser noch lange auf sich warten lassen könnte. Von der genuin französischen Stilistik des Ausnahmekochs Harald Wohlfahrt sind die lukullischen Darbietungen im Herzen der Alb allerdings weit entfernt, denn Gemüse und Kräuter geben hier den Ton an. Mit Ausnahme des Salzes kommen alle verwendeten Produkte aus einem Umkreis von maximal 25 Kilometern und garantieren so eine unvergleichliche Frische. Da die Viktualien entweder aus eigener Produktion oder von Erzeugern des Vertrauens stammen, die dem Chef alle persönlich bekannt sind, kann Simon Tress hier mit Lebensmitteln arbeiten, die ganz nach seinen Vorstellungen angebaut wurden und seinen Qualitätsstandards entsprechen. Die kürzeste Anreise haben übrigens die meisten Kräuter, da sie im sage und schreibe zehn Meter vom Lokal entfernten Gewächshaus angebaut und geerntet werden. Trotz der teils aufwendigen Verarbeitung produziert die Küche bei alledem im Laufe des Abends eine halbe Espressotasse an Abfall – das nennt man wohl nachhaltig und umweltschonend!

Die im Vorfeld recherchierten und vom Gault&Millau kolportierten Informationen haben uns gleichermaßen neugierig gemacht, weshalb der eigentlich für einen späteren Zeitpunkt geplante Besuch kurzerhand von uns vorverlegt wurde. So kehren wir zu dritt – nicht ohne zuvor bei der etwa zehn Kilometer entfernten Wimsener Höhle einen Abstecher zu machen – bei schauerartigem Aprilwetter mitten im Sommer hier ein und trösten uns damit, dass wir bei diesem Wetter ohnehin nichts anderes Sinnvolles hätten tun können. Reserviert wird übrigens im Voraus bei voller Bezahlung des Menüs – in Deutschland weiterhin eher unüblich, im Ausland längst gang und gäbe. Die Aufregung um diese Praxis kann ich nicht nachvollziehen – zumindest wenn man sich einmal die Mühe macht, die Kommentare von Drei-Sterne-Koch Christian Bau zu lesen, der sich angesichts massiver wirtschaftlicher Konsequenzen regelmäßig über die Flut an Absagen und die sogenannten No-shows ärgert. Ergo geht man hier mit der Zeit, streicht die Finanzen im Voraus ein und behält das Geld natürlich ein, wenn nicht rechtzeitig abgesagt wird – schade, dass ein paar schwarze Schafe unter den Gästen so etwas erforderlich machen, aber es geht nun mal nicht anders. Für die fünf Gänge des Abends werden pro Kopf übrigens € 111 abgebucht – ein mehr als fairer Preis, der unsere Vorfreude nur noch weiter steigert.

Das 1950 liegt in Ehestetten, einem Ortsteil von Hayingen am südlichen Rand der Schwäbischen Alb. Das Leben ist hier noch beschaulich und friedlich, doch angesichts dieses neuen Vorzeigerestaurants könnte sich der Zustrom an ortsfremden Gästen schon bald deutlich erhöhen. Das Restaurant selbst besitzt eine offene Schauküche, wo auch die Mehrzahl der Gerichte entsteht. Auffallend sind neben der sehr hohen, v-förmigen Holzdecke die vielen grünen Elemente, die raffiniert in von der Decke hängenden Blumenkästen platziert sind; außerdem baumeln auch etliche Lampen von oben herunter. Gespeist wird an blanken Holztischen mit bequemen Stühlen, und außerdem gibt es noch einen ganz stattlichen Weinschrank zu bewundern, so dass im Grunde genommen alle Voraussetzungen für ein zeitgemäßes Gourmetrestaurant gegeben sind, auch wenn hier nur maximal 16 Gäste pro Abend bewirtet werden. Der Chef offeriert übrigens ohne irgendwelche Anbiederung jedem Gast umgehend, sich gegenseitig zu duzen – etwas, das einigen Gästen gewöhnungsbedürftig erscheinen dürfte, aber in vielen „grünen“ Restaurants in Berlin längst Usus ist.

Zu einem alkoholfreien und recht herben Cocktail aus hausgemachter Limonade, Gurke und Thymian werden die ersten Aperos aufgetischt, die einen sinnstiftenden Übergang zum Menü schaffen sollen. Konkret bedeutet dies, dass schon in der Ouverture all die Produkte, die später zum Einsatz kommen, eingesetzt werden und ihr Potential andeuten dürfen.

Das Schälchen hinten entpuppt sich als Referenz zum ersten Gang und beinhaltet ein Chutney von Fenchel mit gebratenem Fenchel, Gel aus dem Fermentationssaft der Physalis und Crumble vom Fenchelgrün(!). Nachhaltigkeit und Verwertung von allen nur denkbaren Teilen der Pflanze werden hier bereits auf eine Art und Weise verdeutlicht, der nichts Kopflastiges anhaftet, sondern die absolut natürlich wirkt und mit unverfälschtem Geschmack geschickt verbirgt, welche Komponenten hier eingesetzt wurden.
Das trifft auch auf die Schale vorne links zu: Tomatencrème im Zucchinimantel mit Chutney und Crème von Zucchini paart die Küche mit getrockneten, fermentierten und frischen Tomaten. Ganze zwei Komponenten reichen schon für einen diffizilen, virtuos ersonnenen Apéro aus, der mit enormer Tiefe im Geschmack beeindruckt.
Im dritten Schälchen schließlich wird die Kombination von Blumenkohl und Karotte thematisiert: Crème brûlée von gerauchtem Blumenkohl mit geröstetem Blumenkohl kombiniert Simon Tress mit Chutney, Purée und Stroh von Karotte sowie Öl aus dem Karottengrün. In puncto Geschmack staunt man nicht schlecht, was der Chef – völlig unangestrengt wirkend – aus diesen zwei einfachen Viktualien zaubert. Vieles erinnert mich hier an das Nürnberger Essigbrätlein, wo das Prinzip der möglichst vollständigen Verwertung aller Teile ebenfalls schon lange praktiziert wird. Als ganz so minimalistisch und puristisch wird sich die spätere Menüfolge im 1950 nicht erweisen, aber offenkundige Parallelen drängen sich durchaus auf. Eines ist jetzt schon klar: hier auf der rauhen Alb geht es auf den Tellern um einiges rustikaler zu.

Als echter Höhepunkt entpuppt sich die Referenz zum Hauptgang: Risotto, Gebackenes von Dinkel mit Crème, Jus von der Lauchzwiebel und Zuckerschotensalat ist eine herrlich süffige Komposition mit leichter Süße. Das ist individuell ersonnen und handwerklich zudem sehr stark umgesetzt, belastet aber durch die clevere Portionsgröße nicht unnötig vor der eigentlichen Menüfolge, die es noch gehörig in sich haben sollte.

Das letzte Apéro, welches bereits eine Brücke zum späteren Dessert schlägt, besteht aus gestockter Johannisbeerencrème mit warmem Saft sowie Purée und Eis vom Apfel. Dieser säurebetonte Beitrag spielt geschickt mit Temperaturen und Konsistenzen, was die Vorfreude auf den späteren Ausklang des Menüs durchaus erhöht. Alles in allem stellt dieser einleitende Reigen schon mal eine beeindruckende Visitenkarte dar, die fraglos neugierig auf das Kommende macht.

Ab jetzt erhält der Gast übrigens zu jedem Gang kleine Kärtchen mit nützlichen Informationen zu den eingesetzten Produkten bzw. deren Erzeugern – eine schöne Hommage an die herausragende Arbeit dieser Produzenten, die oft nicht genügend gewürdigt oder von engstirnigen Zeitgenossen mangels besseren Wissens als zu teuer abgetan wird. Gesammelt werden die Karten in einem faltbaren Papierwürfel, der neben dem Aufdruck „Ihr Menü“ (sollte es nicht etwa „Dein Menü“ heißen?!) eine Zusammenfassung der Arbeitsweise von Simon Tress und die wichtigsten Prinzipien des Lokals darauf versammelt. Das Menü selbst ist auf einem kleinen Faltplan abgedruckt und gibt sich ähnlich kryptisch wie die Beschreibungen im Essigbrätlein – allerdings mit dem Unterschied, dass der Gast hier nach vollbrachtem Menü noch ein Blatt mit ausführlichen Hinweisen zu den Gerichten gereicht bekommt. Außerdem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Menü in diesem Etablissement stark saisonal ausgerichtet ist und daher vier Mal im Jahr wechselt. So weit nichts Neues, doch nun kommt der große Unterschied: laut Chef wird man ein hier verspeistes Gericht nie wieder essen! Das Menü im nächsten Sommer wird also – genau wie jedes andere jahreszeitliche Menü auch – stets aus neuen Gerichten bestehen, was die Existenz von Signature Dishes von vornherein ausschließt. Mit dieser ungewöhnlichen Maßnahme hält Simon Tress das Interesse an seinem Lokal jedenfalls hoch, da man es im Grunde genommen vier Mal pro Jahr besuchen muss, um nichts zu versäumen – nicht auszuschließen, dass sich einige Gäste darauf bereits einlassen, wenn sie in der Nähe wohnen!

Die mehr oder oder weniger konsequente Verwendung von nur zwei Hauptprodukten pro Gang durchzieht dieses Menü wie einen roten Faden und wird uns praktisch vom Anfang bis zum Ende begleiten. Im ersten Gang sind es Fenchel und Physalis, welche die Hauptrolle spielen: das nur dezent süße Eis von fermentierter Physalis wird sinnvollerweise à part gereicht, um das diffizil ersonnene Geflecht auf dem linken Schälchen nicht mit kaschierender Cremigkeit und übermäßiger Kälte zu beeinträchtigen. Es wäre auch schade gewesen, denn das monothematische Ensemble aus Fenchel tritt in allerlei verblüffenden Varianten (Crème, Crumble, Salat, gegrillt und in Öl confiert, Sauce, naturbelassen) auf. Abgerundet wird dieser fantastische Teller mit einem Öl von Fenchelgrün, das mit seiner leicht viskosen Konsistenz die reizvollen Kontraste bei den Texturen zusammenführt und dem Gang einen eleganten Touch angedeihen lässt. Das groß aufgespannte Spektrum von herb bis süßlich lässt den Gast über die Vielseitigkeit des (übrigens leicht zu ruinierenden) Fenchels staunen, zumal diesem Gang überhaupt nichts Verkopftes anhaftet. Nein, das wirkt vollkommen organisch, faszinierend und sehr durchdacht – ein wirklich großer Wurf gleich zum Auftakt! Was will man mehr?

Der nächste Gang widmet sich Tomate und Zucchini, wird diesmal sogar aber als Trio interpretiert. Die weiße Tomatenschaumsuppe ist schön heiß, wunderbar sämig und trotz minimaler Säure von unerhört tiefem Geschmack. Eine ähnliche Intensität schmeckt man auch beim Schälchen links davon: eine Nocke von Crème aus vollreifen Tomaten platziert Simon Tress auf Tomatenbiscuit und garniert das Ganze noch mit getrockneten Tomaten in Öl sowie einem kleinen Salat aus fermentierten Tomaten mit Basilikum. Als passenden Begleiter in dieser fast schon mediterran anmutenden Kombination ist gerollte Zucchini mit Ricotta-Zucchini-Crème vorgesehen. Außerdem gesellt sich noch süß-sauer eingelegte Zucchini hinzu, die auf flüssiger Crème aus gerauchten Zucchini und einer „echten“ Zucchinicrème ruht. Die heitere Umsetzung dieser Ideen gelingt ganz ausgezeichnet, zumal der Geschmack immer wieder mit verblüffenden Wendungen aufwartet und allenfalls noch dadurch optimiert werden könnte, indem die Vielzahl an weichen Texturen zugunsten etwas bissfester Konsistenzen ein wenig reduziert würde. Alles in allem erweist sich auch diese Trilogie als ein Einfall, der mir gehörigen Respekt abnötigt. Stark!

Am Tisch erweist sich der Chef übrigens als vollkommen geerdete Frohnatur, die authentisch und nah am Gast agiert. Selbstbewusst und voller Überzeugung erläutert er die Speisen meist höchstselbst und lässt sich bei der Arbeit nur allzu bereitwillig über die Schulter und in die Töpfe der offenen Schauküche blicken. Bei alledem wirkt Simon Tress jedoch so, dass er seine Entwicklung stets hinterfragt und weiterhin versucht, das Optimum aus seinen Produkten herauszuholen. Mein Zwischenfazit: er befindet sich auf einem guten Weg …

Nun gilt es, zwei für unsere Breiten typischen Gemüsesorten, nämlich Blumenkohl und Karotte unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Zum ersten Mal wird der Gang auf einem einzigen Teller zusammengeführt, was die Frage nach einer potentiellen Überfrachtung aufwirft, wenn diesmal eine vergleichbar hohe Vielzahl an Varianten auf engsten Räum gedrängt wird. Diesem Problem wirkt die Küche entgegen, indem das Gericht die Dimension der Höhe voll auskostet: die Basis bildet eine gestockte und gerauchte Blumenkohlcrème, welche von einem erdigen Karottensud – der in puncto Umami-Intensität ohne Weiteres aus roter Bete hergestellt worden sein könnte – umspielt wird. Darauf drapiert die Küche virtuos Segmente von eingelegtem Blumenkohl, gebackenem Blumenkohl, Karottenchutney und Karottenpurée. Reduktion aus der Karotte, Pesto von Karottengrün und gebratener Karotte sowie frisches Karottengrün veredeln den Gang zu guter Letzt. Allein die Tatsache, dass das fragile Türmchen nicht einstürzt, ist schon bemerkenswert, doch geschmacklich verbirgt sich dahinter weit mehr als eine optische Spielerei ohne Nährwert: die große Variabilität bei den Texturen (aus gerade einmal zwei Produkten!) lässt keinerlei Langeweile aufkommen und entpuppt sich als echtes Plädoyer dafür, die Vielseitigkeit von Gemüse auszukosten – man muss sie nur erkennen und verarbeiten können! Großartig!

Als nächstes steht der Gang ins Gewächshaus an, das zwar nur zehn Meter vom Lokal entfernt liegt, aber ohne Schirm an diesem Abend nicht trocken zu erreichen ist. Später setzte sogar noch stärkerer Regen ein, doch kein Vergleich zu den Hagelschauern, die Reutlingen und Aalen an diesem Abend heimsuchten und schwere Schäden anrichteten.
Jedenfalls erhält der Gast hier von einer jungen und sehr kompetent wirkenden Mitarbeiterin eine Unterweisung in Anbau und Verwendung diverser Kräuter, von Portulak über Zitronenverbene und Dillblüten bis hin zu Estragon – kaum etwas Einheimisches, das hier nicht gedeiht. Selbst die pure Verkostung dürfte für die Mehrzahl der Gäste schon ein seltenes Erlebnis sein, doch das noch im Gewächshaus angerichtete und gereichte steinerne Schälchen setzt noch eins drauf: Auf einem Sud von Zitronenverbene mit Estragoneis, Thymiancrumble, Bohnenkrautdressing und einer ausgeprägten Peru-Portulakcrème werden die soeben geernteten Kräuter darüber drapiert. Es schmeckt alles andere als süßlich, vollkommen unerwartet und dennoch vortrefflich in seiner Herbheit. So köstlich kann also gesundes Essen sein?!

Wie konsequent und geradlinig Simon Tress seine Linie durchzieht, wird beim Hauptgang besonders deutlich. Zwar gibt es Fleisch, doch wird dieses als „Beilage“ deklariert und bekommt so den Status einer kostenpflichtigen Zusatzoption (€ 22) verpasst, die für das Gelingen des Gerichts nicht unbedingt notwendig ist. Dennoch muss festgehalten werden, dass das gebratene Flanksteak unter Markkruste mit Ochsenschwanz-Ravioli, Zungensalat und Jus diesen Gang nicht nur auf stimmige Weise bereichert, sondern das Prinzip der Nachhaltigkeit auch beim anderswo oftmals stiefmütterlich behandelten Thema Innereien vorlebt. Im Fokus dieses Gerichts stehen allerdings Zuckerschote und Lauchzwiebel: aus erstgenanntem Produkt gewinnt die Küche Crème, Salat und Minzespuma, während das letztgenannte Produkt in gebratener Form, als Jus, Öl, Salat, Crème und in einer frittierten Variante interpretiert wird. Das schon vom Apéro her bekannte Dinkelrisotto mit seinen leicht nussigen Aromen schließlich schlägt eine Brücke zwischen den vegetabilen Aromen und den mineralischen Akzenten des Fleischs andererseits. Die stimmige Kombination im Verbund mit den vielen Überraschungen lässt mich auch dieses Gericht als sehr gelungen ansehen – und doch frage ich mich allmählich, ob eventuell zur Abwechslung mal eine geringere Zahl an Texturen nicht sogar ein noch besseres Ergebnis generieren könnte.

Der häufig in betont vegetarisch denkenden Restaurants kolportierten Forderung nach grünen Elementen auch beim Nachtisch kommt Simon Tress mit seinem Pré-Dessert schon einmal nach, denn er führt darin Brombeere und Gurke zusammen. Die Vielfalt der roten Elemente entsteht durch Mürbteig, Eis, Baiser und Sauce der Brombeere, welche auch in fermentierter Form eingesetzt wird. Den grünen Gegenpart dazu liefern Chutney, Saft und Sud aus fermentierten Gurken sowie eine naturbelassene Schnitte. So kreativ und ungewöhnlich diese Idee auch sein mag – als ganz so natürlich wie ihre Vorgänger empfinde ich diese Kombination zwar nicht, aber ihren Reiz hat sie fraglos dennoch. Die Fülle an Verarbeitungsmöglichkeiten erstaunt mich einmal mehr, wenngleich der häufige Rückgriff auf dieselben Methoden mit der Zeit etwas durchschaubarer als noch zu Beginn anmutet.

Optisch reduzierter wirkt da das offizielle Dessert, aber der hohe Aufwand dahinter wird dem Gast spätestens bei der Ankündigung wieder vor Augen geführt: Johannisbeere und Apfel kommen die Hauptrollen in diesem Ausklang zu, der durch die strikte Trennung der Komponenten allerdings an Kontur gewinnt. Im linken Türmchen wird die Johannisbeere in einem wahren Füllhorn durchdekliniert: zu Sauce, Crumble, weiße Crème, Espuma, Purée und getrockneten Kernen gesellen sich noch ein Guglhupf von gestockter Johannisbeere und fermentierte Johannisbeere. Den Gegenpol zu diesem fruchtig-herben Teil setzt der Apfel in Form von Crème, Eis, Salat und Staub. Hinzu gesellen sich noch getrockneter Apfel, in Rosmarin eingelegter Apfel und ein reduzierter Apfel-Minzsud, der unerwartet Körper ins Spiel bringt. Meine Aufnahmefähigkeit ist angesichts der Fülle an Details inzwischen merklich strapaziert, so dass das Fehlen von Petits fours nicht weiter stört. Isoliert betrachtet vermag auch das finale Dessert in puncto Konzeption und Kreativität zu überzeugen, doch mit dem wiederholten Rückgriff auf inzwischen üppig eingesetzte Texturen läuft dieser Beitrag im Kontext der Menüfolge schon Gefahr, erwartbar zu geraten. Jedenfalls sehe ich meine Spekulation im Vorfeld, wie der Gang wohl aussehen mag, im Großen und Ganzen bestätigt. Insofern bleibt zu konstatieren, dass dies der richtige Zeitpunkt für das Ende des Menüs darstellt. Mehr wäre eher kontraproduktiv gewesen. Die teils rauschhaften Eindrücke bleiben aber zum Glück bestehen!

So anstrengend das Verfassen dieses alles andere als routinemäßigen Berichts gewesen sein mag, so gerne denke ich immer noch an diesen außergewöhnlichen Abend mit dem persönlichen, ja herzlichen Service zurück. Die faire Bepreisung bei den Nebenkosten ist eine Sache – weit schwerer ins Gewicht fällt jedoch, dass unerfahrenen Gästen ganz behutsam die (unberechtigte) Angst vor dieser Stilistik genommen wird. Mit entwaffnender Ehrlichkeit und Transparenz wird hier alles erläutert, so dass die üblichen Klischees rund um Gemüse schnell widerlegt werden: keine Spur von verkopften Gerichten, langweiligen Geschmacksbildern oder wenig sättigenden Gängen. Diese Zeiten sind lange vorbei, und mit seiner – leider immer noch bis zu einem gewissen Grad – als Pionierarbeit zu bezeichnenden Philosophie geht Simon Tress mit gutem Beispiel voran und zeigt Wege auf, wie die Ernährung der Zukunft aussehen kann.

Nach vollbrachter Arbeit hält Simon Tress gar so etwas wie eine Vorlesung für seine Gäste, in welcher er nochmals die wesentlichen Facetten seiner Überzeugung und Arbeit erläutert. Die Konservierung von Lebensmitteln durch Fermentation oder Confieren spielt in seiner Küche naturgemäß eine tragende Rolle, doch die Behauptung, Frische wäre gar nicht so entscheidend, empfinden wir als glattes Understatement! Gerade der vollreife Geschmack der überaus saftigen Tomaten haute uns regelrecht um und erinnerte mich in so mancher Hinsicht an die legendäre Tomatenkollektion im prestigeträchtigen Hertog Jan bei Brügge, wo ja mit dem sogenannten Farm-to-table-Konzept eine ganz ähnliche Philosophie vorgelebt wurde. Geheimniskrämerei ist übrigens nicht die Sache von Simon Tress: bereitwillig erteilt er auf Nachfrage detaillierte Auskünfte und lässt den Gast gewissermaßen erst recht ratlos zurück, worin denn nun genau die Kunst besteht, wenn die vermeintlich einfach klingenden Ausführungen gar nicht so schwer umzusetzen sind. Dann probiert man es selbst – und scheitert natürlich auf ganzer Linie!

Simon Tress betont abermals, dass sein Küchenstil besser mit „lokal“ als „regional“ angemessen zu beschreiben ist, da der letztgenannte Begriff ihm in seiner Auslegung zu schwammig erscheint und von manchen so großzügig ausgelegt wird, dass selbst ein Müritzzander in Berlin noch als regional gilt. „Lokal“ trifft es schon deshalb besser, weil viele seiner Lebensmittel buchstäblich vor der Haustür im Gewächshaus oder auf umliegenden Äckern der Familie gedeihen. Weitaus beachtlicher erscheint aber noch, welches geschmackliche Potential Simon Tress seinen Produkten trotz einer relativ geringen Anzahl an Mitarbeitern entlockt. Der Meister kocht hier nach seinem eigenen Willen und sieht sich in der Umgebung auch keinerlei Konkurrenzdruck ausgesetzt. Dies gestattet ein unablässiges Tüfteln mit nachhaltig erzeugten Produkten, die in vielen Texturen verarbeitet werden und sich im besten Falle sogar selbst würzen können.

Ein klares Konzept und eine Vision von einer gesünderen, nachhaltigeren und letztlich einfach besseren Ernährung der Zukunft sind die hehren Ideale, denen man im 1950 huldigt. Binnen kürzester Zeit hat Simon Tress hier ein derart beachtliches Niveau erreicht (man denke an den Ritterschlag des Gault&Millau in der Einleitung), dass man schon relativ genau suchen muss, wo noch Verbesserungspotential steckt. Der bescheiden wirkende Chef weiß dies selbst am besten und suggeriert mir gegenüber unterschwellig, dass er gefühlt erst am Anfang steht und noch Großes vorhat – wenn das mal kein Versprechen für die Zukunft darstellt! Ein kleiner Mangel besteht beispielsweise noch in einer gewissen Vorhersehbarkeit, die sich im Laufe des Menüs manifestierte: durch die regelmäßige Wiederholung bestimmter Techniken und Konservierungsmethoden wurde das Maß an Überraschungen schleichend abgebaut und sorgte zum Dessert hin für eine erwartbare Interpretation. Ein weiterer, sehr viel schwerer zu erzielender Umstand ist die noch homogener wirkende geschmackliche Tiefe, da manche Gerichte schon optimal anmuteten, während bei anderen der Eindruck entstand, dass das Ende des Weges noch nicht erreicht war. Ich hege allerdings keinen Zweifel, dass die regelmäßige Beschäftigung mit den immer gleichen Produkten letztlich dazu führen wird, dass man sie mit der Zeit immer besser versteht und ihre allerbesten Eigenschaften zum Vorschein bringen kann. Zur Einordnung sei betont, dass hier Aspekte von mir moniert werden, deren Behebung für ein Urteil von 18 Punkten angestrebt werden sollten. Dazu fehlt wahrlich nicht mehr viel …

Die ländliche Umgebung des 1950 geht natürlich den denkbar größten Kontrast ein zu den urbanen Welten, von denen ähnlich vorgehende Lokale wie das Nürnberger etz, das Horváth in Berlin oder das Seven Swans in Frankfurt am Main umgeben sind. Diese Feststellung soll in keinster Weise die Errungenschaften dieser Lokale schmälern, sondern einfach nur verdeutlichen, um wie viel einfacher in logistischer Hinsicht die Besorgung und Anlieferung von Produkten wird, die buchstäblich vor der Haustür wachsen und gedeihen – den Vorteil der vielerorts so typischen Abgeschiedenheit der Alb weiß Simon Tress schon jetzt virtuos auszunutzen. Zugegeben: die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass sein Lokal ziemlich abseits der üblichen Gourmetpfade liegt, aber ein Tisch dafür meist (noch) mit wenig Vorlauf zu bekommen ist. Sollte es sich jedoch erst einmal herumsprechen, was hier geboten wird, und der überfällige Michelin-Stern hinzukommen, dann sollte sich das schon bald ändern. Was ein echter Gourmet ist, der nimmt auch mal eine Reise zu abseitig gelegenen Lokalen in Kauf!

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

1950 Bio fine dining
Aichelauerstr. 6
72534 Hayingen
Tel.: 07383/94980
www.tressbrueder.de/bio-fine-dining-restaurant-1950/

Guide Michelin 2023: –
Gault&Millau 2023: 3+ Hauben
GUSTO 2023: 7 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 2,5 F

5-gängiges Menü: € 111