ursprung*, Königsbronn-Zang (UPDATE)

„Niemand darf seine Wurzeln vergessen. Sie sind Ursprung unseres Lebens.“ (Federico Fellini)

Dass sich das ursprung in den knapp sechs Jahren seines Bestehens fraglos an die kulinarische Spitze des Landkreises Heidenheim gesetzt hat, werden Einheimische – so sie für Hochküche empfänglich sind – sicherlich bestätigen können. Dank der Erfolge eines nahegelegenen Fussballvereins scheinen sich ja neuerdings immer mehr Leute dafür zu interessieren, wo dieser seltsame Ort Heidenheim überhaupt liegt – ob es dem Lokal mehr Gäste einbringt, ist fraglich, aber immerhin dürften viele Touristen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas von der Ostalb hören. Die ganz großen Attraktionen der Schwäbischen Alb wie der Blautopf, die Burg Hohenzollern oder die Bärenhöhle liegen zwar nicht in dieser Region, aber ein Besuch im ursprung lässt sich durchaus mit einer Stippvisite im nahen Wental und dem Brenztopf verbinden. Wer etwas mehr Zeit mitbringt, sollte auch unbedingt im Eselsburger Tal und bei der Charlottenhöhle vorbeischauen. Dank des Weitblicks der engagierten Betreiber gibt es im Hotel Löwen, zu dem auch das ursprung gehört, nicht nur ein umfangreiches gastronomisches Angebot, sondern seit einigen Jahren sogar zwei Chalets, in den auch Familien bequem übernachten können.

Mastermind hinter diesem seit neun Generationen in Familienbesitz befindlichen Betrieb ist Andreas Widmann, der als Geschäftsführer und Chefkoch fungiert. Seine Frau Anna und Mutter Regina sind im Service eingebunden, und auch Vater Frank trägt beispielsweise mit privaten Kochkursen seinen Teil zum Erfolg des Unternehmens bei. Aufgrund seiner Funktion als Vizepräsident der Vereinigung Jeunes Restaurateurs ist Andreas Widmann zudem bestens in der Szene vernetzt und allseits bekannt. Ein ausführliches und sehr informatives Portrait des Lokals im FEINSCHMECKER-Magazin (März 2022) leistete dem Bekanntheitsgrad zudem weiter Vorschub. Der alljährliche Besuch meinerseits stand sowieso wieder an, doch zu meiner Überraschung hatte der kurz zuvor erschienene Gault&Millau eine Abwertung vorgenommen. Um nicht voreingenommen zu sein, verzichtete ich vor dem Besuch auf die Lektüre des entsprechenden Textes und holte dies erst später nach. Was steckte dahinter?

Äußerlich hatte sich jedenfalls nichts verändert: das fast nordisch anmutende, recht puristisch wirkende Lokal mit den massiven Holztischen und den bequemen Drehsesseln bot rein optisch noch immer dieselbe Bühne und lockte an diesem Sonntagabend etwa zehn weitere Gäste in das Lokal. Die auffälligste Neuerung war mit der Speisekarte verbunden, denn im Gegensatz zu früher hat man nun zumindest die Wahl zwischen fünf (€ 145) und sieben Gängen (€ 170) des einheitlichen Menüs. Inhaltlich bot die Lektüre dagegen nach wie vor die für diese Küche typischen Produkte, die praktisch ausschließlich von Produzenten aus der Region stammen, beispielsweise vom Schafhof Smietana in Steinheim oder der Forellenzucht in Oberkochen. Andreas Widmann ging es schon immer darum, in kraftvoller Direktheit die Vorzüge der heimischen Produkte ins beste Licht zu rücken und sie dabei durchaus recht gemüse- und kräuterlastig in Szene zu setzen. In der Zeit seines Bestehens konnte der Chef des ursprung seine Handschrift deutlich schärfen und einen absolut unverwechselbaren Stil etablieren, den seine Fans schätzen und im Schlaf erkennen würden.

Wie immer wird der Besuch hier mit drei Petitessen eingeleitet, die das Niveau noch nicht so hoch hängen, sondern in erster Linie einen Eindruck von der hier praktizierten Stilistik vermitteln sollen. Platziert sind sie wie immer auf den Logos des Lokals, die für Genuss (Besteck), Feldfrüchte (Ähre) und Viehzucht (Ochsenkopf) stehen. Folgerichtig findet man in dieser Reihenfolge eine Räucherfischcrème mit Sellerie und Bronzefenchel, dann Frischkäse mit gelber Bete und Haselnuss sowie zu guter Letzt ein Tatar von der Färse mit Rucola. Alles in allem ist dieser Einstieg recht mild abgeschmeckt und hätte mit etwas mehr Mut vielleicht mehr wohltuende Kontraste zutage gefördert.

Eine weitere Sammlung an Amuses bildet das eigentliche Vorspiel zum Menü: im Hintergrund ein Heidenheimer Hefeknöpfle (eine Spezialität der Region) mit einer Gemüsefüllung, dann von rechts nach links ein durchschnittliches Maibocktatar mit Rote Bete und Himbeere, als unstrittiger Höhepunkt eine Tartelette von Lauchasche mit Huchentatar und Räucherfischcrème sowie zum Abschluss ein Bohnensalat mit Joghurtschaum von unangenehm holziger Textur. Dass Andreas Widmann seinen Stil stets kritisch hinterfragt und kontinuierlich weiterentwickelt, ist fraglos löblich – dennoch bleiben dabei Rückschläge offenbar nicht aus, denn in Summe will nach dieser Parade noch keine rechte Begeisterung aufkommen. Speziell die bisweilen mutlos scheinende Aromatik und die seltsame Textur des Bohnensalats machen mich etwas ratlos, doch ein Glas Prisecco Nr. 23 von Jörg Geiger (Rhabarber, Apfel und Blüten) hilft vorerst darüber hinweg.

Deutlich besser gelingt der Auftakt ins fünfgängige Menü mit einem typisch für Andreas Widmann in Szene gesetzten Gericht: gebeizten Saibling von klarer Frische drapiert die Küche dabei kreisförmig auf einer federleichten Buttermilch-Schnittlauch-Vinaigrette. Unter etwas gepickeltem Rettich findet man zudem eine Brunoise von Gartengurke, etwas Saiblingskaviar für eine Prise Salinität sowie Holunderblüten. Zusammengehalten wird das Ganze von einer Frischkäsemousse, die für einen bekömmlichen und erfrischenden Einstieg ins Menü sorgt – und den Beweis antritt, dass die Ostalb mitnichten nur rauh ist. Bekömmlich und charmant: ein Einstieg wie ihn man sich wünscht.

Den zweiten Gang verkauft der Service scherzhaft als „schwäbische Carbonara“: die vermeintlichen Spaghetti bestehen in diesem Fall aber aus knackigem, hauchdünn geschnittenem Kohlrabi mit wohltuendem Biss (quasi al dente …). Unter der grenzwertig massigen, erdig-säuerlichen Pilzcrème findet man neben frittierten Kräuterseitlingen außerdem flüssiges Eigelb (in Demeter-Qualität) und eingelegte Blüten. Die direkte und kraftvolle Aromatik entspricht eher der kargen Umgebung als der Vorgänger, obwohl das Spiel mit den Texturen dem Teller trotz allem eine gewisse Eleganz verleiht. Noch besser wären diese allerdings zum Tragen gekommen, wenn die Crème ein wenig transparenter geraten wäre und nicht einen Großteil der subtilen Effekte zugekleistert hätte. So oder so ein launiger, augenzwinkernder und frühherbstlicher Teller.

Einer eingehenden Prüfung wurde offenbar die Brotzeit unterzogen, die letztlich zu einer deutlichen Aufwertung führte. Was nun aufgetischt wird, erinnert mich in puncto Stilistik an Andreas Döllerer, der übrigens der Gastkoch beim Roulette-Event der Jeunes Restaurateurs Anfang Oktober in diesem Hause werden sollte. Jedenfalls wurde die schon früher überdurchschnittliche Auswahl von Arnd Erbel aus dem mittelfränkischen Dachsbach weiter mit einer Beigabe von kleinen Aufmerksamkeiten aufgewertet: neben zweierlei Käse und Hirschschinken trumpft man auch mit einer Linsenmiso, eingelegter Bete und Schwarzwurzel auf. In Summe reicht dieses Intermezzo fast schon an den Status eines eigenen Gangs heran, der besonders darauf abzielt, Produzenten der Region bzw. deren Produkte ins beste Licht zu rücken. Wenn das die Idee dahinter war, dann hat sie bei mir ihre Wirkung jedenfalls nicht verfehlt.

Der nächste Gang kommt mir in anderer Auslegung noch vom Vorjahr bekannt vor – was in diesem speziellen Fall ausdrücklich als Kompliment zu verstehen ist, bildete doch der Gang mit dem Stör vom Ammersee im Vorjahr den Höhepunkt der damaligen Menüfolge. War es im letzten Jahr eine Paprika-Beurre-Blanc, welche den kraftvollen Fisch angemessen begleitete, so sind es diesmal Brokkoli als Julienne obenauf sowie Senfsaat in einer säuerlichen Beurre blanc, die diesmal nicht näher definiert wurde. Der Grund, warum mir die Variante vom Vorjahr noch besser gefiel, ist darin zu sehen, dass der eigentümliche Geschmack des mindestens eine Woche abgehangenen Fischs für meine Begriffe in einer möglichst puristischen Inszenierung am besten zum Tragen kommt. Die aktuelle Auslegung kommt nur mit etwas mehr aus, doch selbst die wenigen Begleiter drohen schon ein wenig, den Fokus vom Hauptdarsteller wegzulenken. Dennoch bleibt das Fazit vom Vorjahr im Wesentlichen dasselbe: der hier zur Schau gestellte Purismus tut den Tellern im Allgemeinen sehr gut, so dass dieser Beitrag auch heuer den Höhepunkt der Menüfolge bildete.

Der anschließende Hauptgang vermochte mich dagegen nicht zu überzeugen: zum einen drängt sich mir rasch der Eindruck auf, dass die mediterrane Begleitung des Fleischs von gegrilltem Weideochse (vom Biohof Dauner) per se schon wenig stimmig ist und zudem mit der Ästhetik des Hauses bzw. der Region arg fremdelt. Die Entourage aus Zucchini, Aubergine und fermentierter Tomate ist von durchschnittlicher Qualität und in jeglicher Hinsicht erwartbar, woran auch die Texturen nichts zu ändern vermögen. Der Geschmack des tiefroten, mineralischen Fleischs macht durchaus etwas her, aber die auffallend widerborstige Konsistenz irritiert ebenfalls: jedenfalls ist das Fleisch mit dem Messer nur sehr schwer zu durchtrennen. Mir drängt sich die Frage auf, ob der Aufenthalt am Pass etwa zu lang war. Die Jus entschädigt ein wenig für die genannten Mängel, aber in Summe bleibt festzuhalten, dass ich vergleichbare Gerichte schon unzählige Male und meist in signifikant besserer Qualität gegessen habe. Dieser Hauptgang ist jedenfalls schnell vergessen.

Das Dessert huldigt der Saison, bedient sich aber einer Auslegung, die ebenfalls recht profan ausfällt und eine zündende Idee vermissen lässt: ein Ragout von reifen Erdbeeren kombiniert die Pâtisserie mit einem Eis von unreifen Erdbeeren auf etwas Rahm und einer Art Biscuitboden. Am Tisch wird noch zusätzlich ein Sud von unreifen Erdbeeren aufgegossen, der dank einer Verfeinerung mit Estragon eine zu eindimensionale Süße gekonnt vermeidet. So trifft hier solides Handwerk auf recht wenig Esprit und führt damit zu einem durchschnittlichen Ergebnis auf Ein-Stern-Niveau.

Als hochwillkommenes Extra streuen die Gastgeber vor den Petits fours noch ein Stück vorzüglichen Rhabarberkuchen mit geflämmter Sahne und Vanilleeis ein, bevor der Gast final mit Pâte de fruit von Blaubeere, einem Macaron von Apfel und Sellerie sowie einer überraschend faszinierenden Praline von kandiertem Linsenpüree mit einer Ummantelung von Sonnenblumenkernen verabschiedet wird. Wenn es nach mir ginge, dann könnte diese kleine, aber ikonische Kugel umgehend den Status eines Signature Dishs einnehmen und fortan immer den Ausklang hier bilden.

Anhand dieser Rezension sollte zwischen den Zeilen deutlich geworden sein, dass das Niveau des bislang besten Besuchs in diesem Hause – nämlich derjenige vom Vorjahr – diesmal nicht annähernd erreicht wurde. Der Abstand zwischen den besten und den schwächsten Darbietungen geriet bei dieser Stippvisite überraschend groß und warf etliche Fragen auf. Warum beispielsweise fremdelt die Küche hier neuerdings mit stilistischen Anleihen aus anderen Kulturen, die ganz offenbar nicht ihr Metier sind? Wenn die Ostalb gemäß der Eigenwerbung so viele unerwartete Schätze und Möglichkeiten zu bieten hat, dann sollte die berechtigte Besinnung auf dieses Potential doch erheblich mehr hermachen als der Rückgriff auf exotische Anleihen wie beispielsweise beim mediterranen Hauptgericht. Kleinere handwerkliche Mängel trübten diesmal zudem das Bild, da die Konsistenz der Färse beim Hauptgang schwerlich so gewollt war.

An ein paar Stellen drängte sich mir auch der Eindruck auf, dass man der Kraft der eigenen Aromatik selbst nicht so recht zu trauen scheint – was mich insofern wundert als jeder Gast, der hier einkehrt, sicherlich erwarten darf, mit einer unverfälschten und kraftvollen Geschmackswelt konfrontiert zu werden. Eleganz und Gediegenheit stellen denkbar unpassende Attribute im Zusammenhang mit der Ostalb dar, die nun mal rauh und bisweilen auch wild daherkommt. Da scheint es wenig verwunderlich, dass die rustikale Brotzeit, die einen echten Zugewinn darstellt, diesem Hause weitaus besser zu Gesicht steht als einem Großstadtlokal. Dies ist schließlich das Kapital des ursprung, welches es in die Waagschale zu werfen gilt. Während anderswo Zurückhaltung und Ausgewogenheit gewünscht sind, sollte hier die direkte und zupackende Wucht der Gerichte im Mittelpunkt stehen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich bis heute an ein ungeheuer kühnes Dessert, welches ich vor vier Jahren im ursprung verkosten durfte: damals kombinierte Andreas Widmann Berberitze mit roter Bete und Original-Beans-Schokolade. Derart urwüchsige Gerichte sind es, die ich mir hier häufiger zurück wünsche – wie harmlos wirkte da im Vergleich das aktuelle Erdbeer-Dessert!

Der Service verrichtet einen unauffälligen Job und hat unter dem aufmerksamen Dirigat von Anna Widmann alles wie gewohnt im Griff. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist weiterhin als angemessen zu bezeichnen und stellt wahrlich keinen Hinderungsgrund für einen Besuch dar.

Natürlich ist Andreas Widmann schlau und auch erfahren genug, um immer wieder Lehren und Rückschlüsse aus den Rückmeldungen der Profi-Guides oder Gäste wie mir zu ziehen. Während es wahr ist, dass meine jüngste Stippvisite etwas ernüchternd geriet, so besteht weiterhin die berechtigte Hoffnung, dass das kleine Zwischentief überwunden werden kann und die stilistischen Irrwege schon bald wieder verlassen werden. Wären da nicht die spürbar aufgewertete Brotzeit und die Linsenpraline gewesen, so hätte ich auch erwogen, noch einen Punkt abzuziehen – mit diesen zwei Beiträgen, die definitiv in die richtige Richtung tendieren, deutete die Küche jedoch an, dass sie ihre Wurzeln nicht verleugnet und nach wie vor vermag, das Ruder in die richtige Richtung zu reißen. Ich bin sehr gespannt auf den nächsten Besuch …

Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten

 

ursprung
Struthstrasse 17
89551 Königsbronn-Zang
Tel.: 07328/96270
www.loewen-zang.de

Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 2 Toques
GUSTO 2023: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 3 F

5-gängiges Menü: € 145

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„Der Ursprung aller Dinge ist klein.“ (Marcus Tullius Cicero)

UPDATE (Juli 2022)

Das einzige Sternerestaurant im Kreis Heidenheim/Brenz hat sich in den nunmehr knapp fünf Jahren seines Bestehens rasch einen Namen gemacht und lockt nicht zuletzt dank einer Reportage des FEINSCHMECKER-Magazins im März 2022 weiterhin Gäste von einem immer größer werdenden Radius her – selbst so mancher Gast nimmt inzwischen die Reise von München auf die Alb für dieses Erlebnis in Kauf. Würde es sich dabei um eine typisch ländliche Küche im gehobenen Wirtshausstil handeln, dann müsste man wohl kaum viel Aufhebens um diese Adresse machen. Viel weiter von der Wirklichkeit entfernt könnte diese Aussage indes kaum sein, denn das kleine, fast schon nordisch eingerichtete Restaurant macht es seinen Gästen keineswegs leicht – ein starker Hang zu regionalen Zutaten erweist sich dabei als recht ausgeprägt, doch für ein Alleinstellungsmerkmal würde dies heutzutage natürlich längst nicht mehr ausreichen. Das besondere Augenmerk des Chefs Andreas Widmann richtet sich vor allem auf die Frage, mit welchen Methoden sich Lebensmittel fermentieren, konservieren und einmachen lassen bei gleichzeitig größtmöglichem Zugewinn an Geschmack. Wenn man all dies bedenkt, so rückt das Restaurant schon einigermaßen in die Nähe des Nürnberger etz, selbst wenn hier auf der Ostalb bislang nicht dieselbe Radikalität Einzug gehalten hat. Dadurch wirkten die Speisen hier einerseits meist etwas bekömmlicher, aber andererseits noch nicht konsequent umgesetzt wie im etz.

Das sechsgängige (und leider alternativlose) Menü zu € 148 wird hier seit einiger Zeit traditionell mit augenzwinkernden Einstiegen eingeläutet, deren hauptsächliches Ziel eher weniger in der Präsentation grandioser Qualität, sondern in der Verdeutlichung des hier zelebrierten Küchenstils besteht. So wundern sich Wiederholungstäter unter den Gästen hier schon lange nicht mehr, wenn zunächst „nur“ gesäuerte Kartoffelchips mit Petersilienemulsion, Bündnerfleisch oder roh marinierte Kohlrabi mit Shiitake-Pilzen aufgetragen werden. Das erfordert schwerlich Kochartistik, sondern soll eher den Respekt vor der Natur, ihren Produkten und der offerierten Qualität versinnbildlichen. Daran gemessen gelingt dieser ansonsten harmlose Einstieg jedenfalls gut. Passend dazu schenkt man an diesem heißen Sommertag PriSecco Nr. 11 von Jörg Geiger (unreifer Apfel und Eichenlaub) ins Glas.

Mit den „echten“ Apéros zieht das Niveau freilich an: das Tatar vom Maibock mit seinem ganz spezifisch herben Geschmack gerät dabei genauso ungewöhnlich wie das witzige Sushi auf österreichische Art, welches mit gebeiztem Saibling hergestellt wurde und zusammen mit einem Alblinsensud gereicht wird, der volle 24 Monate im Fass reifen durfte und erwartungsgemäß aromatisch voll einschlägt. Den gelungensten Einfall stellen jedoch die Zucchini-Nudeln dar, die durch die Beigabe von Knoblauch, Tzatziki und Johannisbeere (!) einen genuin griechischen Charakter bekommen und durch die subtile Verfeinerung durchaus Eindruck machen. Nicht unterschlagen möchte ich auch die Brotauswahl, welche inzwischen von der Bäckerei Arnd Erbel aus dem mittelfränkischen 1.000-Seelen-Dorf Dachsbach geliefert wird und in Sternerestaurants inzwischen bundesweit eine ausgezeichnete Reputation genießt.

Eröffnet wird die Menüfolge heuer mit einem auf einem Molkesud ruhenden Carpaccio von Lachsforelle, welches von einem optisch dominanten Bouquet aus Mairüben, Brunnenkresse und Blaubeeren fast in den Hintergrund gedrängt wird. Im Sinne der Nachhaltigkeit verwendet die Küche sämtliche verwertbare Teile der Rüben und sorgt allein dadurch schon für animierende Vielfalt bei den Texturen. In Summe ist dieses frische und bekömmliche Gericht von der Konzeption her zwar schlicht, selbst wenn die Optik recht auffällig wirkt. Es ist letztlich in der Umsetzung doch komplexer gehalten als es zunächst den Anschein haben mag, aber die ganz große Raffinesse fehlt zu Beginn noch – trotz allem ein solider Auftakt.

Andreas Widmanns immer wieder aufblitzendes Talent, auf der Karte scheinbar langweilig klingende Kombinationen zu etwas Originellem zu verdichten, gibt es im nächsten Gang zu bestaunen. Mais mit Heu, Chili und Minze klingt eher kryptisch, entpuppt sich aber zweifellos als einer der Höhepunkte des Abends: der mit Straussenschinken luxuriös veredelte Kartoffelring sorgt nicht nur dafür, dass eine überraschend würzige Heu-Hollandaise mit Bärlauchnoten an Ort und Stelle bleibt, sondern harmoniert auf gewinnbringende Weise mit dem kalt marinierten Maissalat unter der Hollandaise. Mit dieser ausgelassenen Idee, die einschlägige Erwartungen mühelos ad absurdum führt, gelingt der Küche ein großer Wurf, denn dieses deftig und durchaus herzhaft in Szene gesetzte essbare Schälchen macht aus dem Mais – der nicht gerade der Liebling vieler Chefs ist – etwas Besonderes mit einer individuellen Note, das auch dank der Optik noch längere Zeit im kulinarischen Gedächtnis verankert wird. Diesem mutigen und überzeugend umgesetzten Gang zolle ich jedenfalls meinen vollen Respekt.

Tatar und geschmortes Fleisch von der alten Milchkuh (vom Biohof Dauner) bilden sodann das Fundament für eine Kreation, die angesichts nur dreier annoncierter Komponenten weitaus komplexer als erwartet gerät. Neben zweierlei Aubergine (Pesto und Chip obenauf) gesellen sich zusätzlich zum angekündigten Spitzkraut noch Frischkäse und Honig (!) hinzu. Im Hinblick auf die ausbleibende Rechtfertigung für die Überhäufung des Gangs überwiegt der Eindruck eines diffusen Aromenbilds, das hauptsächlich auf das Fehlen eines roten Fadens zurückzuführen ist. Durch die Zugabe eines grenzwertig bitteren Rucola-Öls passiert endgültig zu viel, so dass dieser Teller trotz der knalligen Inszenierung schnell wieder vergessen ist und trotz an sich tadelloser Produktqualität leider von mir das Prädikat des schwächsten Tellers an diesem Abend verliehen bekommt.

Den denkbar größten Kontrast zum Vorgänger geht der vierte Gang ein, mit welchem ein Purismus zelebriert wird, der für dieses Haus aus meiner Sicht eher untypisch ist. Der Service verkündet, dass der sieben Tage lang abgehangene Stör vom Ammersee auf der Haut gegrillt wurde und nun in einer Paprika-Beurre-Blanc badet. Sollte bei der Ankündigung nichts Wesentliches unterschlagen worden (oder mir beim Verzehr etwas entgangen) sein, dann kommt dieser Gang ansonsten lediglich mit etwas Dill und ein paar Tropfen Thymian-Öl aus. Das klingt wenig aufregend – zumal Minimalismus nicht unbedingt ein Markenzeichen dieser Küche ist – und erweist sich als … das stärkste Gericht, das ich je hier verkosten durfte! Durch die Salinität des Fischs und die ungeheure Dichte der Beurre Blanc scheint hier ein Hauch Mittelmeer durch die Ostalb zu wehen! Da diesmal im Grunde nichts vom Wesentlichen ablenkt, erstrahlt die noch leicht bissfeste Konsistenz des Fischs in voller Leuchtkraft – so lenkt man die Aufmerksamkeit des geneigten Gastes auf die speziellen Konservierungsmethoden im Vorfeld und darauf, welche geschmacklichen Auswirkungen diese oder jene Methode hat. Wäre Andreas Widmann bekannter, dann würde dieser ergreifend schlichte Teller meiner Meinung schnell Gefahr laufen, ständig kopiert zu werden – wundern würde es mich jedenfalls nicht!

Nun, mit Ostalb-Lamm (vom Schafhof Smietana), Zwiebelgewächse und Spinat erhört die Küche meinen Wunsch offenbar nicht, doch trotzdem vermag dieses Hauptgericht durchaus mir zu imponieren. Im Sinne der Nachhaltigkeit reicht man à part einen mit Schalotten verfeinerten Salat von Lammzunge, während Schulter und Rücken des Hauptdarstellers in einer herzhaften Rosmarin-Minz-Jus vom Spinat und Zwiebeln in diversen Konsistenzen umspielt werden. Nicht zuletzt dank der Jus ist es dem Team hier mit ausgezeichnetem Handwerk gelungen, aus einem recht profan anmutenden Produkt so ziemlich das Beste zu machen, zumal gerade die ungewöhnliche Minznote eine kleine Überraschung darstellt.

Ganz in Grün und damit dem Zeitgeist huldigend gibt es ein Pré-Dessert der kühnsten Sorte: fermentierte grüne Erdbeeren gehen eine höchst ungewöhnliche Liaison mit Verbene, Matcha und Thai-Basilikum ein. Das mag im ersten Moment forciert originell wirken, doch der Gesamtklang ist wesentlich stimmiger als erwartet: dieser fast ganz ohne Zucker auskommende Einschub besticht mit seinen Kräuternoten und einem nicht zu bitteren, aber durchaus markigen Matcha-Sponge, auf dem sich ein ebenfalls recht herbes Crumble von Basilikum tummelt. Zumindest zeigt man hier nach wie vor keine Scheu vor ungewohntem Terrain: natürlich kann dabei nicht alles gleich gut gelungen, aber dieses Experiment schlägt voll ein, zumal der Brand von Mieze-Schindler-Erdbeeren von der noch jungen Brennerei Brezger aus Hermaringen (ebenfalls im Kreis Heidenheim gelegen) wunderbar harmoniert.

Das Hauptdessert kreist im wahrsten Sinne des Wortes um ein kreisrundes Törtchen aus Malz, auf welchem neben Eis und Baiser von Thymian auch Oxalis thront. Eine Brunoise von eingelegter Aprikose setzt dem schwäbischen Amaretto (aus Zwetschgenkernen) etwas Fruchtigkeit entgegen, doch am Ende wirkt es fast wie einem Tiramisu nachempfunden. Das muss an sich keinen Mangel darstellen, doch selbst wenn dieser frühherbstlich anmutende Ausklang mit etwas mehr geschmacklicher Tiefe durchaus noch an Profil hätte gewinnen können, so bleibt es doch ein solider Ausklang jenseits der Konventionen.

Zu meiner Überraschung zaubert die Küche für den Stammgast aber noch ein Kaninchen aus dem Zylinder: das optisch unschuldig anmutende Sorbet von Wassermelone paart Andreas Widmann recht verwegen mit Holunder, Gurke und Frischkäse. Was wie eine sommerlich leichte Petitesse anmutet, erweist sich unerwartet als zauberhaft umgesetzter Einfall mit einer selten gelungenen Kombination an Produkten, die zudem sehr durchdacht wirkt. Mit dieser unerwarteten Wendung legte die Küche nochmals eine echte Schippe drauf!

Drei Petits fours bilden darauf den wirklichen Abschluss: links Rahm mit Holunderblüten und Wacholder verfeinert, in der Mitte eine Crème mit frischen Waldbeeren und rechts ein Heidenheimer Knöpfle mit fermentiertem Rhabarber für einen abschließenden Säurekick. Keine Highlights, aber mehr als vorzeigbar.

Andreas Widmann und seinem kleinen Team ist die Lust am Experiment deutlich anzumerken: die Techniken selbst mögen teils bewährt oder gar fast altmodisch wirken, während die kulinarischen Ergebnisse selbst sich voll am Puls der Zeit bewegen. Wann immer die Küche den Fokus am stärksten auf die Produktqualität richtete, überzeugte sie dabei am meisten. Da kommt das Ergebnis der Maßnahmen, die lange getroffen wurden, bevor das Produkt schließlich in der Küche landet, besonders deutlich zum Vorschein – der tagelang gehangene Stör darf als grandioses Beispiel dafür herhalten. Dem gegenüber stehen Momente, in denen man fast meinen könnte, dass die Küche dem qualitativen Endergebnis dieser Maßnahmen selbst noch nicht recht zu trauen scheint und dann beginnt, die Teller teils mit abenteuerlichen Konstellationen zu überfrachten und davon abzulenken. Im Falle der Maiskreation trug das Wagnis ganz eindeutig Früchte, während beispielsweise der Gang darauf schlicht überkonstruiert wirkte. Keineswegs soll dies bedeuten, dass die Küche an der Komplexität grundsätzlich zu scheitern droht, aber eine Reduktion hier und da möchte man tatsächlich anraten. So muss man derzeit zwar mit einigen Schwankungen rechnen, aber die Qualität der besten Einfälle hat hier inzwischen ein Niveau erreicht, das auch die bisher stärksten Gerichte in der Vergangenheit kaum zu erreichen vermochten. Stillstand ist somit das Letzte, das sich die Küche nachsagen lassen möchte – und das ist auch gut so, denn gemäß der Philosophie des Hauses ist Stagnation gleichbedeutend mit Rückschritt und Mut zu Neuem ein unverzichtbares Element des Fortschritts.

Der zumindest Stammgästen gegenüber ziemlich persönlich auftretende Service besteht meist nur aus ein oder zwei Kellnerinnen unter dem Dirigat von Anna Widmann, der Ehefrau des Chefs. In einer Mischung aus Herzlichkeit einerseits und Zielstrebigkeit andererseits verkörpert sie den typisch ländlichen Charme einer Gastgeberin, die das Geschehen jederzeit im Griff hat. Die nach wie vor moderaten Nebenkosten stellen ebenfalls keinen Hinderungsgrund für einen Besuch dar.

In der Zwischenzeit hat Andreas Widmann übrigens sein erstes Kochbuch veröffentlicht, welches eine Hommage an die Heimat darstellt und auch hochwertige Erzeuger unterschiedlichster Produkte aus der Region porträtiert. Selbstverständlich kommen in dem mit starken Bildern ausgestatteten Kompendium Rezepte der ersten Jahre nicht zu kurz, wobei auch dem Stammlokal Widmann’s Löwen ein gebührender Anteil an Platz eingeräumt wird und so manches Gericht für ambitionierte Amateure nicht so schwer nachzukochen sein sollte. Man spürt jedenfalls, dass Andreas Widmann noch längst nicht am Ende angekommen ist und weiter an der Schärfung seiner Fähigkeiten arbeitet – ich bin jedenfalls auf die weitere Entwicklung gespannt.

Die noch etwas unsteten Eindrücke bezüglich der Küchenleistung sollten jedenfalls nicht über die allgemeine Steigerung hinwegtäuschen, die in den besten Fällen zu bereits wirklich beglückenden und einprägsamen Erlebnissen führt. Insofern kann ich mit einigem Stolz verkünden, dass ich zum ersten Mal hier die 17 Punkte zücken darf und dem Lokal damit meine Anerkennung für den gezeigten Mut und die stetige Weiterentwicklung zolle. Aufgrund der Nähe zu meinem Wohnort fällt es mir sowieso nicht schwer, die weitere Entwicklung im Auge zu behalten, doch lohnenswert dürfte dies auch dann sein, wenn man weiter weg wohnt. Die Münchner wissen schließlich, warum sie anreisen!

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

ursprung
Struthstrasse 17
89551 Königsbronn-Zang
Tel.: 07328/96270
www.loewen-zang.de

Guide Michelin 2022: *
Gault&Millau 2022: 2+ Toques
GUSTO 2022: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 3 F

6-gängiges Menü: € 148

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„In der Krise beweist sich der Charakter.“ (Helmut Schmidt)

UPDATE (Juli 2021)

Aufgrund hoher Inzidenzen im östlichen Württemberg mussten viele Lokale noch geschlossen bleiben, während in Baden schon etliche Etablissements wieder öffnen durften. Nach einer gefühlten Ewigkeit von siebeneinhalb Monaten war es dann endlich soweit: wenige Tage nach der Wiedereröffnung wollte ich mir umgehend ein Bild von der aktuellen Lage im Vorzeigelokal der Ostalb schlechthin machen. Während der Lockdown-Phase hielt man sich hier so gut es ging mit dem Verkauf vorgekochter Speisen und sonstiger hochwertiger Produkte über Wasser. Außerdem wurde das Schmuckstück des Gasthauses, der rückseitig gelegene Biergarten während dieser Phase ausgiebig saniert und erweitert – eine lohnende Investition, wenn man bedenkt, was für ein Andrang an einem sonnigen Sonntagnachmittag hier herrscht. Ohne Reservierung geht in so einem Fall dann gar nichts, denn auch das Niveau des Zweitrestaurants Widmann’s Löwen ist so hoch und gleichzeitig gutbürgerlich, dass hier scharenweise Gäste eintrudeln.

Mein Hauptaugenmerk galt natürlich dennoch dem kulinarischen Flaggschiff, dem seit 2019 mit einem Michelin-Stern geschmückten ursprung. Trotz eines relativ geringen Vorlaufs bei der Reservierung ist das Lokal auch unter der Woche anständig gefüllt und offenbar schnellstmöglich darum bemüht, die Gästeklientel wieder anzulocken. Dennoch werden die Auswirkungen des langen Lockdowns noch ein wenig nachhallen, wie mir bei der Lektüre der Speisekarte rasch ersichtlich wird: wegen diverser Einschränkungen bietet man hier derzeit nur ein fünfgängiges Menü ohne Auswahl zum Preis von € 109 anstelle der gewohnten acht Gänge an. Ansonsten hat sich rein äußerlich nicht viel verändert: das nach wie vor mit viel Holz und sehr bequemen Drehsesseln ausgestattete Lokal wirkt immer noch sehr natürlich und – nun ja – ursprünglich.

Zum Einstieg reicht man wie immer kleine Petitessen, die die Philosophie des Hauses unterstreichen sollen – ausführliche Details dazu in meinen früheren Berichten. Diesmal handelt es sich um Kuhschinken, gepickelten Spargel und Radieschen sowie Kartoffelchips mit einem Petersilienchip – ein Entrée, das mit Konventionen wenig zu tun hat, aber leider auch nicht sonderlich anspruchsvoll gerät.

Erheblich besser wird es da schon bei drei Amuses, die kleinteiliger und aufwendiger geraten: Gartenkräuter, Malz und Kombucha auf einem Brotchip, dann eine gewagte Kreation um Maibock, Himbeere und Rote Bete sowie zu guter Letzt eine Neuinterpretation des Klassikers „Strammer Max“ mit Saibling, Gurke und Eiweiss-Schaum. Alle drei augenzwinkernde Amuses kommen erstaunlich aromensatt, deftig und rustikal daher, doch zu diesem Landhausstil passt es ausgezeichnet. Nach dem verhaltenen Einstieg beeindruckt das schon erheblich mehr.

Die Auswahl von Roggen- und Sauerteigbrot mit aufgeschlagener Süßrahmbutter sowie Crème fraîche überzeugt vor allem durch die Qualität des Brots und die amüsante Inszenierung. Außerdem lasse ich mich durch den Abend von zwei halben Flaschen Prisecco aus dem Hause Jörg Geiger (Nr. 27 – Birne, Gurke, Quitte – und Nr. 7 – Hauszwetschge, Gelbmöstler Birne und Zitronenverbene) ansprechend begleiten. Es kann losgehen!

Bayrischer Huchen (auch bekannt als Donauwaller) mit Fenchel, Buttermilch und Apfel bildet den Auftakt zur offiziellen Menüfolge. Der Fisch kommt in zweierlei Form auf den Teller: zum einen in einer Art Sülze unter dem Blutampfer, zum anderen in kurz geflämmter Form unter Texturen von Fenchel, Dill, Leinsamen und Apfel. Eine Buttermilchvinaigrette soll die Komponenten stimmig verbinden, aber trotzdem schneidet die Sülze besser als ihr Pendant ab. Die Frische und Leichtigkeit dieses Tellers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geflämmte Variante aromatisch arg blass bleibt, selbst wenn der recht zarte Süßwasserfisch ein eher dezenter Vertreter unter seinesgleichen ist. Nicht wirklich schlecht, aber noch ausbaufähig – daraus könnte man noch mehr machen.

Ungleich präsenter kommen gebratene Pilze mit Bärlauch und Eigelb daher. Unter einem Limettenschaum und gebeiztem Eigelb findet man Limonenseitlinge und Austernpilze, die nicht nur gebraten, sondern auch gedämpft oder gegrillt wurden. Den durchaus gehaltvollen Charakter dieses erdigen Gangs unterstreicht die braune Butter obenauf. Seinen Reiz bezieht dieser Gang in erster Linie aus den vielen Konsistenzen bei den Pilzen und dem dezent säuerlichen Geschmack, der ein gar zu eindimensionales Aromenbild verhindert. So wird aus diesem recht intensiven und fast herbstlichen Beitrag doch noch ein Gericht mit sommerlicher Attitüde. Was hier wieder einmal besonders gut gelingt, ist die Veredelung vermeintlich simpler Viktualien zu einem Kunstwerk von ungeahntem Geschmack.

Das trifft erst recht auf den spontanen und nicht in der Karte erwähnten Einschub zu: in einer launigen Neuinterpretation des schwäbischen Klassikers „Linsen und Spätzle“ findet man die Spätzle mit glasig angedünsteten Zwiebeln und etwas Käse veredelt als Füllung des Wickels. Eingelegte Alblinsen sowie ein nicht näher definierbares gepufftes Topping geben dem kompakten Speckwickel etwas Biss, so dass sich rasch der Wunsch nach mehr davon einstellt – nicht nur der bisher originellste, sondern auch der überzeugendste Gang des Abends!

Nach diesem überraschend gelungenen Einschub geht es nun im offiziellen Teil mit gedämpftem Rheinwaller weiter. Klein gestoßene fränkische Haselnuss ummantelt nicht nur auf texturell sinnvolle, sondern auch auf geschmacklich einleuchtende Weise den sanft gegarten und saftigen Fisch, der überdies von bemerkenswerter Qualität ist. Etwas Kohlrabischaum und eingelegter Kohlrabi sowie Radieschen genügen schon, um diesen ziemlich puristischen Gang demütig, aber gelungen abzurunden. Dennoch hätte man mit etwas mehr Mut auch hier sicherlich ein noch besseres, weil weniger gefälliges Ergebnis erzielen können.

Zum Hauptgang tischt man Färse vom Demeterhof Dauner auf. Diese variiert man auf dem Teller in Form von Rücken und ungleich präsenterem Short Rib. Dazu gesellt sich ein mediterran anmutendes und herzhaft-intensives Défilée aus Zucchini, Auberginen und Tomatenpüree. Das ist in Summe ein solides und wohlschmeckendes Hauptgericht, das allerdings nicht auf demselben Niveau wie die bisher besten Eingebungen, die ich hier jemals verkosten durfte, steht. Vermutlich setzen diverse Einschränkungen (reduzierte Zahl an Küchenmitarbeitern, verzögerte Lieferungen bei Produkten etc.) dem Betrieb doch stärker zu als erwartet. Ich nehme daher schon einmal vorweg, dass ich diesen Umständen Rechnung tragen werde und nicht zu harsch urteilen möchte …

… zumal das Dessert zum Höhepunkt des Abends werden sollte: Erdbeeren, Buchweizen, Honig und Rahm gestaltet die Küchencrew als kompaktes und optisch aufs Wesentliche fokussiertes Gericht mit einer gewissen Langzeitwirkung. Dazu trägt die optimale Reife der Erdbeeren in gleichem Maße wie die subtile Begleitung bei, denn der heimliche Hauptdarsteller unter dem Crumble ist ein Flan, der mit etwas Rahmeis und Erdbeervinaigrette charmant umspielt wird. Das ist von entwaffnender, sommerlicher Leichtigkeit und überzeugt auf ganzer Linie, zumal auch die Vielfalt bei den Texturen aus diesem Ausklang einen Abschluss der Extraklasse macht, der für viele der vorherigen, marginal schwächeren Eindrücke entschädigt.

Die Ausklänge bestehen aus einem Beerentörtchen, einem Estragon-Marshmallow und einem Pâte de fruit aus Aprikose. Highlights setzt man damit keine mehr, aber nach diesem Dessert erschiene es fast vermessen, das noch zu verlangen.

Stellenweise konnte dieser Abend den Verdacht nicht vollständig entkräften, dass unter den gegebenen Umständen die volle Leistungsstärke derzeit nicht zu erzielen ist. Immerhin gibt sich Frau Widmann schon zu Beginn des Abends diesbezüglich vollkommen transparent und erläutert, warum die derzeitige Menügestaltung von der gewohnten Form momentan etwas abweichen muss. Das leuchtet auch vollkommen ein, solange die in Kauf zu nehmenden Abstriche nicht zu große Ausmaße annehmen – was natürlich nicht der Fall war.

Der Service selbst agierte unauffällig und präzise, verrichtete einen tadellosen Job und zeigte sich dann doch einmal mehr als kooperativ: beim Dessert hatte ich vergessen, ein Foto zu schießen, weshalb ich den Chef Andreas Widmann bat, mir ein Foto des Desserts am Küchenpass zu machen (hier zahlte es sich aus, dass ich der erste Gast an diesem Abend war!). Da ich in diesem Hause inzwischen gut bekannt bin, wurde dieser Bitte ohne Umschweife entsprochen und mir die Kamera danach umgehend wieder ausgehändigt – mein Dank dafür! Außerdem sind die Nebenkosten nach wie vor recht gastfreundlich kalkuliert, so dass ein Abend hier bei überschaubaren Zusatzausgaben bleiben sollte.

Dass das etwas tiefer als gewohnt anzusiedelnde Niveau zu Beginn gegen Ende nochmals spürbar anzog und in dem starken Dessert kulminierte, ließ mich dann doch von meinem temporären Vorhaben, einen Punkt abzuziehen, wieder abrücken. In Summe hat der Abend damit durchaus wieder einiges Interessante zu bieten gehabt, doch wem das Lokal bereits vertraut ist, der muss eben derzeit mit spürbaren Einschränkungen Vorlieb nehmen. Hoffen wir, dass dieser unselige Zustand demnächst wieder Geschichte ist und man hier bald wieder aus dem Vollen schöpfen kann – man würde es sich für diese individuelle Küche auf jeden Fall sehr wünschen!

Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten

 

ursprung
Struthstrasse 17
89551 Königsbronn-Zang
Tel.: 07328/96270
www.loewen-zang.de

Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 16 Punkte
GUSTO 2020: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 3 F

5-gängiges Menü: € 109

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„Das Haus, die Heimat, die Beschränkung – die sind das Glück und sind die Welt.“ (Theodor Fontane)

UPDATE (April 2021): Beide Lokale in diesem Gasthof, Widmann’s Löwen und ursprung, wurden in der jüngsten Ausgabe des Guide Michelin (2021) mit dem grünen Stern für Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Die Lokale sind derzeit selbstverständlich geschlossen, aber der kleine Laden im Rezeptionsbereich bietet jede Menge herausragender (teils schon verzehrfertiger) Viktualien zu fairen Preisen. Für mehr Infos siehe die Homepage des Lokals.

UPDATE (Dezember 2019)

Würde Fontane in der heutigen Zeit auf der Ostalb leben, dann wäre er über das Restaurant ursprung vermutlich entzückt, weil es seine Kriterien allesamt wie kaum ein anderes Spitzenrestaurant in Deutschland erfüllt. Seit der Verleihung des ersten Sterns im Februar 2019 hat es zumindest in der Region Ostalb für einige Furore gesorgt – kein Wunder, denn es ist nicht nur das erste Sternerestaurant im Kreis Heidenheim überhaupt, sondern auch ein Lokal, dessen Entwicklung in der Küche in fast schon atemberaubenden Tempo fortschreitet. Seit meinem jüngsten Besuch vor neun Monaten hat sich hier nämlich schon wieder einiges getan: der Gault&Millau hob das Lokal binnen eines Jahres um gleich zwei Zähler von 13 auf 15 Punkte an (ein höchst seltener Vorgang), und die ganz radikalen Experimente vom Frühjahr schienen zugunsten einer stärkeren Fokussierung fast schon wieder etwas abgeschwächt worden zu sein. Gleichzeitig beschränkt und bekennt sich der Küchenstil klar zu den Produkten der Heimat und vergisst bei alledem dennoch die Tradition des Hauses, einem Familienbetrieb (in früheren Tagen noch mit hauseigener Metzgerei) in dreizehnter Generation, nicht. Dass trotz dieser Selbstkasteiung immer noch verblüffend kreative, zeitgemäße und alles andere als landgasthof-typische Hochküche gelingen kann, mag dabei die größte Überraschung darstellen.

Das Menü für uns sieben Personen bietet zwar lediglich die Auswahl zwischen fünf (€ 98) oder acht Gängen (€ 120), vermag aber – soviel sei schon vorweg genommen – zu überzeugen. Zum Einstieg tischt man zu einem Glas PriSecco „Weissduftig“ von Jörg Geiger drei Kleinigkeiten auf, die dem Gaumen schmeicheln und ihn auf Betriebstemperatur bringen: gebratene Entenleber auf einem Chip, ummantelt mit einem Kirschgelée bildet den gelungenen Einstieg. Es geht weiter mit Kürbiskrokette und schwarzer Nuss, Kohlrabiröllchen mit Meerrettich, rote Bete mit Ayran (ohne Foto) und schließlich einem intensiven Dinkelchip – das ist durchaus gemüselastig, aber sehr fein heraus gearbeitet und durchdacht. Die Brotauswahl ist wegen der großen Gruppe dagegen eher überschaubar.



Den offiziellen Anfang macht Forelle mit Winterrettich und Senfsaat. Trotz einer relativ kleinteiligen Dekoration sind die Türmchen mit dem Fisch als Fundament und dem dünn geschnittenen Rettich sowie Gemüseasche obenauf absolut frisch und ausgewogen. Das natürliche Geschmacksbild wird durch Tatar vom Fisch noch weiter verfeinert, während eine frische Kräutersauce das Gericht würdig abrundet. Die Forelle bezieht man übrigens von der namhaften Zucht am Kocherursprung, nur etwa 15 Kilometer von Zang entfernt. Trotz der vergleichsweise rustikalen Präsentation hat dieses Gericht erstaunlich viel Stil.

Petersilienwurzel und Quitte mit Frischkäse als zweiter Gang erweist sich als vorzügliches vegetarisches Gericht, das auch höchst originell in Szene gesetzt ist: in dem frittierten Nest aus der Wurzel verstecken sich Frischkäse und ein Quitteneis, während das Nest selbst auf einer leichten Beurre blanc ruht, die den Gang perfekt begleitet. Höchst individuell und dabei überhaupt nicht forciert – wunderbar!

Tiroler Garnele mit fermentiertem Sellerie stellt das Hauptprodukt puristischer als bisher in den Mittelpunkt des Geschehens, der in glasig gegarter Form auf den Teller kommt. Dennoch machen auch die Texturen von getrocknetem und fermentiertem Sellerie sowie einer aufwendig auf der Basis von Sellerie zubereiteten Sauce durchaus etwas her. Auch dies ist alles in allem ein überzeugender Gang – trotz der wenigen Komponenten, aus denen er besteht.

Rheinzander ruht auf einem Ragout von Kalbsschwanz und einem Schaum aus gelben Winterbeten, der der opulenten und aromensatten Tranche des Fischs eine Bühne bereitet. Hier trifft unverfälschter Geschmack auf eine mutige Kombination, doch das Kalkül geht auf. Nach dem eher leichtgewichtigen Gang zuvor stellt dieser gewichtigere Beitrag einen reizenden Kontrast dar, der außerdem nicht so elaboriert und schlichter wie manch anderer Gang ausfällt.

Dünn geschnittene Scheiben vom Schweinenacken und Cassoulet von Linsen und Süßkartoffeln vom Bodensee besticht durch farbige Optik und relativ plakativen, leicht verständlichen Geschmack. Handwerklich gibt es an diesem eher unkomplizierten Gericht allerdings überhaupt nichts auszusetzen – ein launiges Gericht, das Spaß macht. Es muss nicht immer Wagyu sein …

Wildentenbrust und -keule wird zwar nicht mengenmäßig, aber von der Zahl der weiteren Zutaten her diffizil umspielt: eine mit Perlgraupen veredelte Selleriecrème sowie ein „Kissen“ aus Schwarzwurzel mit Wacholder und dünn gehobeltem Spitzkraut obenauf sind recht herbe Begleiter des kräftig gebratenen Hauptdarstellers, der zudem mit klein gestoßenen Nüssen getoppt ist. Die Zubereitung des Fleisches ist hier besonders gelungen, doch auch die fast schon säuerlich-herbe Begleitung zeugt von kulinarischem Mut.

Käse “milk to cheese“ mit Radicchio erweist sich als wunderbar modernes und verblüffendes Käsegericht: ein Eis von Beurre blanc sowie eine mit Grünkohlessenz gedopte Sauce von Beurre blanc verbindet die übrigen Komponenten gekonnt: die mit Radicchioblättern getoppten Häufchen des körnigen Frischkäses und die vegetarischen „Frikadellen“ von Grünkohl harmonieren so vorzüglich miteinander, dass man sich angesichts dieser umwerfenden Darbietung schon fragt, weshalb ein vergleichsweise niedrig eingestuftes Restaurant solch grandiose Käsegänge kreieren kann und höher eingestufte Lokale auf diesem Gebiet regelmäßig mit Einfallslosigkeit oder gar völliger Verweigerung „glänzen“. Andreas Widmann zeigt hier spielerisch leicht, wie eine vorzügliche Käse-Darbietung gelingen kann. Chapeau!

Doch es kommt noch besser: die Krönung dieses Defilées war das Dessert! Man erlebt wahrlich selten genug, dass der Spannungsbogen zum Ende hin seinen Höhepunkt erreicht, doch hier bekommt man stets inspirierte Beiträge vorgesetzt. Diese können mal (wie beim letzten Besuch) durchaus avantgardistisch anmuten und andermal weniger verstören, doch immer liegt ihnen eine klare Idee zugrunde. Zu einem Eichenblatt geformte Segmente von Birne ummantelt die Küche mit einem Glühweingelée. Des weiteren tragen fränkische Haselnuss (in Form eines Chips), Zuckerrübensirup sowie Granité von Lemberger zu einem absolut weihnachtlich anmutenden Gericht mit Grandezza bei. Großartig!

Zum Ausklang reicht man noch ein Schälchen Eis von Hagebutte mit Schlehe und einem Hanfchip – auch dies bemerkenswert gut. Selbiges gilt auch für die alkoholfreie Begleitung mit den vorzüglichen Produkten vom Weingut Zwölberich an der Nahe.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: dieses feine Lokal treibt ein ausgereiftes und konsequent zur Schau gestelltes Konzept voran, ohne dabei forciert oder abgehoben zu wirken. Der Bezug zur Region ist stets erkennbar, ohne dabei sklavisch zu sein und die Tradition des Hauses wird bewahrt, ohne dabei angestaubt zu wirken. Chefkoch Andreas Widmann nimmt sich für unsere siebenköpfige Gruppe einige Zeit, um auch den Premierenbesuchern die Philosophie und die Leitlinien des Hauses genau zu erklären. Dabei wirken die Erläuterungen ausgesprochen schlüssig – selbst dann, wenn es gar nicht um den Küchenstil, sondern um bauliche Veränderungen oder die Inneneinrichtung geht. Auch die kleine Servicetruppe (gewöhnlich unter der charmanten Leitung von Anna Widmann, der Ehefrau des Chefs, die diesmal allerdings kurz vor der Entbindung steht) kommt ihren Aufgaben ohne Hast oder abgehobene Attitüde nach, wirkt stets freundlich und kompetent, schafft eine Wohlfühlatmosphäre und geleitet entspannt durch den Abend.

Ich gebe es unumwunden zu: war ich hier nach meinem allerersten Besuch im März 2018 noch skeptisch bezüglich der Tragfähigkeit des Konzepts, so hat sich dies seither komplett gewandelt. Ohne großes PR-Brimborium entsteht hier abseits der ausgetretenen Gourmetpfade in der Provinz Baden-Württembergs für meine Begriffe eine Haute Cuisine, die allemal das Potential für höhere Weihen hat und von Andreas Widmann konsequent weiterentwickelt wird. Bereits jetzt empfinde ich die vom G&M vergebenen 15 Punkte schon wieder als zu niedrig – speziell im Hinblick auf die Leistungen anderer Landgasthäuser, die ich in jüngerer Zeit besucht habe und die höher bewertet sind (Rezensionen folgen). Da dieses Lokal gefühlt vor meiner Haustür liegt, werde ich mit Sicherheit weiterhin hier regelmäßig aufkreuzen und genau hinschauen. Allen anderen sei dies ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen – es wird hier von Ma(h)l zu Ma(h)l immer besser!

Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten

 

ursprung
Struthstrasse 17
89551 Königsbronn-Zang
Tel.: 07328/96270
www.loewen-zang.de

Guide Michelin 2019: *
Gault&Millau 2020: 15 Punkte
GUSTO 2020: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 2,5 F

8-gängiges Menü: € 120

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UPDATE (März 2019)

Ein Jahr ist seit meinem letzten Besuch vergangen – und meine Prognose von damals ist inzwischen auch eingetreten: dieses engagierte und durchaus ambitionierte Lokal ist mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet worden und setzt die Ostalb damit wieder auf die kulinarische Landkarte. Es scheint allerdings so, dass die meisten Gäste des Landgasthofs Widmann im beschaulichen Königsbronner Ortsteil Zang davon entweder noch nichts mitbekommen haben oder nichts davon wissen wollen: während die beiden anderen Lokale des Etablissements, in denen auf leicht überdurchschnittlichem Landgasthof-Niveau gekocht wird, sich ungebrochener Beliebtheit erfreuen, gilt dies zumindest unter der Woche für das neue Flaggschiff ursprung noch nicht wirklich. Dann zumindest stellt es überhaupt kein Problem dar, einen Tisch zu bekommen – was für die Betreiber schade ist, denn das geschmackvoll eingerichtete Lokal (für Details siehe untenstehend meine erste Rezension) hätte mehr Gäste verdient. Immerhin waren es an diesem Abend mit widrigem Winterwetter inklusive meiner Wenigkeit zwei Gäste mehr als beim letzten Mal, nämlich insgesamt drei …

Der Guide Michelin hatte im Rahmen einer Pressemitteilung verlauten lassen, dass bei der Vergabe der begehrten Michelin-Sterne künftig mehr darauf geachtet würde, welche Lokale ein klares Konzept verfolgen und dem Zeitgeist huldigen. Dies könnte letztlich der entscheidende Punkt für die Auszeichnung des ursprung gewesen sein, denn auf diesem Gebiet kann das Lokal sicherlich punkten. Um es gleich vorweg zu nehmen: man rechnet in einer solch ländlich geprägten Gegend auch nicht unbedingt mit einem so modern anmutenden, teils avantgardistischen Konzept, das die Gäste schnell aus ihrer Komfortzone heraus zwingt und sie einlädt, sich auf ein Erlebnis einzulassen, bei dem Vergleiche trotz bekannter Produkte (oder auch nicht, weil sie schon in Vergessenheit zu geraten drohen) schwerfallen. Tatsächlich sind auch alle anderen Sterne-Etablissements in der näheren Umgebung (vielleicht mit Ausnahme des Seestern in Ulm) aus nachvollziehbaren Gründen erheblich konservativer eingestellt, um nur ja keine langjährige Stammkundschaft zu überfordern oder gar zu vergraulen. Momentan scheint es jedenfalls im ursprung bedauerlicherweise so zu sein, dass dieses Lokal ohne die finanzielle Sicherheit, die die beiden anderen Restaurants und der zugehörige Hotelbetrieb versprechen, nicht lange überleben würde: die Vorbehalte unter sparsamen und konservativen Schwaben sind eben hoch und müssen erst einmal abgebaut werden!

Das achtgängige Menü kann auf bis zu drei Gänge reduziert werden und fällt preislich mit € 108 in die billigste Kategorie unter den Sterne-Restaurants. Zum Einstieg reicht man eine wenig aromatische Roulade aus getrocknetem Meerrettich mit Senfgurke gefüllt, bei der die Füllung übermäßig dominiert. Besser gefallen Kässpätzle mit fermentierter Molke und Steckrübe – eine augenzwinkernde und schmackhafte Einstimmung als Hommage an die Heimat, die qualitativ gesehen Lichtjahre von der Standardkost anderer Lokale entfernt ist. Die Brotauswahl sowie ein Prisecco Nr. 23 von Jörg Geiger runden die Einstimmung angemessen ab. Im Laufe des restlichen Abends behelfe ich mir übrigens wieder mit den schon vom letzten Jahr bekannten alkoholfreien Getränken vom Weingut Zwölberich an der Nahe – Riesling und Dornfelder machen sich während dieses Menüs jedenfalls ausgezeichnet und werden (wie im Grunde genommen alles hier) auch zu fairen Preisen angeboten.

Kalbshaxe und Rettich mit Brotzeitaromen ist schon ein erstaunlich mutiger Beginn, denn Rettich-Eis und dry-aged Kalbsroulade, die in ein Rote-Bete-Röllchen gefüllt ist, setzen aromenstarke und überraschende Akzente. Ein hauchdünnes Knäckebrot auf diesem Röllchen trägt noch weitere dekorative Elemente wie Crème fraiche und Radieschen, die aus dieser kalten Vorspeise ein unerwartet raffiniertes und durchdachtes Experiment machen, das mich schnell von meiner Befürchtung befreit, das Menü könnte langweilen.

Mit Schwarzwurzel, Schwarzwald-Miso, Biotalmilch und Haselnuss-Müsli verlässt die Küche endgültig die ausgetretenen Pfade und serviert einen Teller sowie ein Schälchen. Auf dem Teller dominiert die Schwarzwurzel in vielerlei Texturen (z.B. getrocknet oder confiert) und wird elegant von der rustikalen Miso-Paste begleitet. Das Müsli, das neben Haselnuss weitere Texturen von Schwarzwurzel sowie eine mit Schwarzwurzel aromatisierte Milch offeriert, ist eines der extremen Experimente des Abends, das mich nicht ganz überzeugen kann. Immerhin: in all den knapp acht Jahren seit Beginn meiner Leidenschaft habe ich abends noch nie in einem Sterne-Lokal gefrühstückt …

Einwandfrei dagegen wieder der nächste Gang: geräucherte Kartoffeln mit Forelle und Hefe kokettiert mit einer leichten Petersilien-Vinaigrette, die einem intensiven Gericht alles Rustikale gekonnt raubt. Eine halbe Kartoffel dient als Bett für feine Texturen der butterzarten Forelle, während eine vermeintliche Sepia-Kartoffel ebenfalls mit Fisch gefüllt ist. Eine Kohlrabi-Brunoise (wenn ich mich richtig erinnere) verleiht dem Gericht zudem dringend benötigten Biss und fügt sich organisch ein. Ausgezeichnet gelungen!

Freiland-Ente, Fichtensprossen, Blaukraut und Demeter-Ei erweist sich als aromatisch ungeheuer dichte Komposition. Die knusprige Haut der Ente und der tiefgründige Sud rücken das Fleisch des Hauptdarstellers in den Mittelpunkt, doch wird dieser kongenial von den anderen Komponenten begleitet – speziell das cremige Ei macht geschmacklich enorm viel her.

Zander, Raclette-Käse, Grünkohl und Radicchio-Nudeln ist der vorläufige Höhepunkt an Kreativität dieses Abends. Die Befürchtung, der Fisch könnte mit diesen Begleitern fremdeln, erweist sich als unbegründet. Käse und Radicchio wetteifern im Gegenteil fast um die Gunst des Zanders, der allerdings von allen Komponenten profitiert und weitaus stimmiger umspielt wird als die Beschreibung vielleicht befürchten ließ. Der Zander thront auf einem Bett aus dem Kohl, den Nudeln sowie recht massig eingesetzter und bitterer Radicchio-Crème – erst zum Schluss wird der viskose, heiße Käse von Hand rund um die Kreation aufgegossen. Es schmeckt hervorragend und viel besser als erwartet.

Trockengereiftes Färsenfilet, (separat gereichtes) Ochsenmark und gegrilltes Wurzelgemüse gerät zu einem etwas konservativeren Teller mit bemerkenswert viel Geschmack. Insbesondere das Ochsenmark, das in gratinierter Form gereicht wird, hat enorm viel Körper. Ein bisschen herzhafter Sud und einige Texturen des Gemüses reichen erstaunlicherweise vollkommen aus, um dieses keineswegs hochpreisige Produkt auf dem Hauptteller angemessen in Szene zu setzen und ein Gericht zu kreieren, das seine Stärken aus der Klarheit der Präsentation und der konsequent umgesetzten Philosophie des Hauses bezieht.

Ein Spannungsabfall bei den Desserts würde jetzt niemanden überraschen – dabei kommt der avantgardistischste Teil erst jetzt! Petersilienwurzel, Löwenzahn, Alblinsen und Buchweizen klingt nicht nach sonderlich viel Süße und stellt die Petersilienwurzel in allen nur denkbaren Texturen in den Mittelpunkt – besonders auffällig die großen, kreisrunden Scheiben des knackigen Gemüses, von denen man sich leicht vorstellen kann, dass das manchen Gästen zu weit gehen könnte. Das Eis desselben Hauptdarstellers federt dies ab, doch auch die anderen Begleiter steuern eher Biss als Süße bei und machen aus diesem Dessert ein alles andere als überzuckertes und völlig ungewöhnliches Dessert mit Langzeitwirkung im Gedächtnis – ganz gleich, ob man es nun missraten oder gelungen findet. Mein Urteil: interessant, aber ausbaufähig.

Das zweite Dessert toppt jedoch alles an Kühnheit an diesem Abend: geeiste, dünne Tafeln von roter Bete und Original-Beans-Schokolade sind auf dem Teller in einer Art und Weise verkeilt und angeordnet, dass es mich spontan an die Eisschollen in Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde Das Eismeer erinnert. Doch damit nicht genug der Avantgarde: nicht nur die Präsentation, sondern auch das Aromenbild verzichtet so sehr auf jedwede Süße, dass der Begriff „zartherb“ fast schon neu definiert werden muss. Die „Schollen“ thronen auf einem herben Rote-Bete-Sorbet, und auch die Berberitze-Beeren steuern erwartungsgemäß säuerliche Aromen bei. Unterm Strich ist dies das ungewöhnlichste Dessert seit Äonen – und damit etwas, das man hier weiß Gott nicht erwarten würde. Ich zolle Herrn Widmann jedoch meinen Respekt, sich derart weit aus dem Fenster zu lehnen und seinen Gästen jede Menge Anregungen zum Nachdenken mitzugeben. Ein Kürbis-Financier und ein falscher Baumstamm (an Details erinnere ich mich nicht mehr) runden ein überraschendes Menü bescheiden, aber angemessen ab.

Die Steigerung gegenüber dem Vorjahr war außerdem überraschend deutlich, denn dieses Menü hatte es wahrlich in sich: Vorhersehbarkeit, Langeweile und Konvention hatten hier absolut nichts zu suchen. Trotz eher altmodischer und bewährter Küchentechniken werden hier Gerichte kreiert, die zeitgemäß und unverkrampft wirken – im letzten Jahr schien manches noch längst nicht so ausgereift. Der Verzicht auf Luxusprodukte macht dieses Menü um keinen Deut schwächer, sondern schärft sogar eher noch das Profil der Küche, die – wenn sie so weiter macht – bald unverwechselbare Gerichte schaffen wird. Auch dem aufmerksamen und charmanten Service sei ein Kompliment ausgesprochen, denn schwäbische Herzlichkeit wird hier nicht nur vorgeschoben, sondern auch gelebt. Speziell die charmante Ehefrau des Chefs, Anna Widmann, ist ein echter Gewinn für dieses sympathische und engagierte Haus.

Bezeichnenderweise kam ich mit den beiden anderen Gästen, einem Ehepaar um die Mitte 50 aus dem Raum Stuttgart, gegen Ende des Abends immer mehr ins Gespräch und stellte dabei fest, dass ein Geschenk ihrer Tochter in Form eines Arrangements (Essen und Übernachtung) der Anlass für sie gewesen war, den Weg trotz miserablen Wetters in die Provinz anzutreten – was sie nach eigenem Bekunden niemals aus freien Stücken getan hätten, aber im Nachhinein keinesfalls bereut haben. Das Essen hier hätte ihnen beispielsweise erheblich besser zugesagt als im Landgasthof Feckl in Ehningen oder gar in der Stuttgarter Zirbelstube. Die weitaus weniger gourmet-erfahrenen Gäste am Nebentisch attestierten dem Lokal jedoch eine wohltuende und modern anmutende Experimentierlust, die absolut ungewöhnlich sei. Dem kann ich mich nur anschließen, auch wenn selbst mir, dem weitaus erfahreneren Gast, die endgültige Beurteilung der Leistungsschau keineswegs leicht fällt.

Was der junge Koch Andreas Widmann hier auffährt, ist meiner Meinung nach handwerklich solide und von einer klaren Dramaturgie durchdrungen. Die originelle Verarbeitung weitgehend heimischer Viktualien wirkt hier sehr organisch und weniger verkopft als beispielsweise im umstrittenen Sosein im fränkischen Heroldsberg, das seit diesem Jahr übrigens zwei Sterne sein Eigen nennt. Die Produkte werden hier nicht bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, sondern allenfalls in ungewohnter Form präsentiert. Dabei bleibt eine klare geschmackliche Aussage stets im Mittelpunkt des Interesses, so dass die 13 Punkte im Gault&Millau für meine Begriffe schon zu niedrig angesetzt sind. Das ursprung hat jedenfalls schon jetzt weitaus mehr zu bieten als die meisten anderen Lokale mit dieser Bewertung, die zwar häufig überdurchschnittliches, aber vorsehbares Landgasthof-Niveau zu bieten haben. Wer Neuerungen gegenüber aufgeschlossen ist, sollte hier mit Sicherheit vorbeischauen, denn in dieser nicht gerade mit herausragenden Restaurants gesegneten Region ist dieses Lokal in der Tat etwas ganz Besonderes. Ich für meinen Teil bleibe mit Sicherheit am Ball …

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März 2018

Mit dem altersbedingten Ruhestand des damals 73-jährigen Chefs Josef Bauer ist es seit der bedauerlichen Schließung des legendären Landgasthofs Adler in Rosenberg im Oktober 2016 in kulinarischer Hinsicht auf der Ostalb sehr ruhig geworden. Das ohnehin schon spärliche Angebot an Hochküche wurde noch weiter dezimiert – mit der Konsequenz, dass seit 2017 kein einziges Sternerestaurant mehr in den Landkreisen Ostalb (Aalen) und Heidenheim an der Brenz existiert. Doch dies könnte sich nun bald wieder ändern …

Als die Betreiberfamilie Widmann ihren Landgasthof Löwen im beschaulichen Königsbronner Ortsteil Zang letztes Jahr einer ausführlichen, zweimonatigen Renovierung unterzog, dachten sich viele Gourmets dabei wohl kaum etwas Besonderes. Der Landgasthof genießt in der Region eine gewisse Bekanntheit, doch trotz allem war dies allenfalls in Sachen Hotellerie eine wirklich gehobene Adresse. Kulinarisch gesehen bot das Lokal gutbürgerliche und bestenfalls etwas gehobene Küche, die allerdings keinerlei Ambitionen nach oben erkennen ließ.

Dies hat sich nun alles geändert: mit der Rückkehr des Junior-Chefs Andreas Widmann und dessen Frau Anna in die heimatlichen Gefilde war es nun möglich, eine Adresse mit weitaus höheren Ansprüchen zu etablieren als der bisherige Gasthof es tat. Das klassische Gasthaus Widmann’s Löwen existiert weiterhin, doch muss man kein Prophet sein, um zu behaupten, dass das ursprung ihm den Rang des kulinarischen Aushängeschilds rasch ablaufen wird. Nach Stationen bei Steffen Metzger, dem damaligen Chefkoch des Münchner Atelier und bei Tohru Nakamura im Münchner Geisels Werneckhof verschlug es Andreas Widmann bis nach Neuseeland, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Seine Frau, eine gebürtige Tirolerin, war bereits ebenfalls stellvertretende Restaurantleiterin im Münchner Atelier und kann ebenfalls auf eine beachtliche Vita verweisen. Das Ergebnis der ohnehin stets geplanten Rückkehr des Sohns an den heimatlichen Herd ist nun das neue Restaurant ursprung.

Den Betreibern ist Nachhaltigkeit und ein Bezug zum Brauchtum der Familie ein wichtiges Anliegen: so kreierten sie eigens zwei hölzerne Präsentationsblöcke in Gestalt von Kuhkopf und Ähre. Die Kuh symbolisiert dabei die kontrollierte Aufzucht und Erzeugung von Produkten höchster Qualität, die Ähre steht dagegen für den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Des weiteren soll das Design der Teller laut Betreiber für „genussvolles Essen auf der Basis von traditionellem und querdenkendem Küchenhandwerk“ stehen. In der Tat wird hier schnell deutlich, dass man sich rasch von einigen Konventionen verabschieden kann und dass mancher Teller durchaus ein überdurchschnittliches Maß an Aufmerksamkeit erfordert, damit man seine volle Tiefe erfassen kann.

Das kleine Restaurant (mit Platz für maximal 20 Personen) ist überwiegend in Brauntönen und Grau gehalten. Holz ist ein durchaus üppig eingesetzter Werkstoff in diesem Lokal, das seinen Reiz vor allem aus der sorgsamen Ausleuchtung und den bequemen Drehsesseln in Grau bzw. Aubergine bezieht. Die mit Lasur überzogenen Holztische und der massive Block, der zum Ausschank von Getränken dient, sind weitere Blickfänge. Alles in allem ein durchaus stylisches Ambiente, das sogar am Eingang mit einer schmiedeeisernen Arbeit des Bruders der Chefin veredelt wird – für die eher konservative Ostalb ein recht unkonventionelles, aber gelungenes  Interieur. Erfreulich auch, dass der angrenzende „normale“ Restaurantbereich durch eine Schiebetür mit Bewegungsmelder getrennt wird. Jetzt muss nur noch das Essen passen …

Da das Lokal im November 2017 öffnete und damit den Redaktionsschluss der allermeisten Guides für 2018 verpasste, fehlen praktisch noch erste Urteile der gängigen Guides. Der GUSTO sprang als erster auf den Zug auf und vergab gleich zum Einstieg immerhin schon einmal stolze 7 Pfannen – kein schlechter Start für ein neues Restaurant. Ansonsten begab ich mich völlig vorurteilsfrei an diesem klirrend kalten Frühlingsabend mit winterlichem Wetter in den wie ausgestorben wirkenden Ortsteil Zang, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Soviel vorweg: ich blieb an diesem Abend der einzige Gast des Lokals …

Den (überschaubaren) Einstieg bilden zweí Grüße aus der Küche, die jedoch recht überzeugend geraten: zum einen eine hauchdünne Tasche mit Saiblingstatar und etwas Avocadocrème obenauf und zum anderen eine Kartoffelrolle mit einer Blutwurstcrème und erfrischenden Rieslingperlen obenauf – vor allem das letzte Element setzt einen schönen Kontrast. Dazu lasse ich mir Prisecco Nr. 23 von Jörg Geiger (Rhabarber, Apfel und Blüten) einschenken. Offensichtlich vertraut man in diesem Hause ganz gerne auf Erzeuger aus der Region – und das durchaus nicht zum Nachteil des Gastes. Die Brotauswahl besteht aus einem Roggenbrot mit Heumilchbutter, die ein ungewöhnliches und natürlich nach Rahm schmeckendes Aroma beisteuert. Zur Auswahl steht ein bis zu achtgängiges Menü für € 98, bei dem ich später auf den Käsegang wegen der bereits eingetretenen Sättigung verzichte. Außerdem lasse ich mir im Laufe des Abends einen ausgezeichneten alkoholfreien Riesling sowie einen alkoholfreien Dornfelder vom Weingut Zwölberich an der Nahe einschenken. Der biodynamischen Anbau der Trauben kommt deren Qualität spürbar zugute – und so schmeckt man dies auch intensiv im Glas. Nur ein wenig kühler hätte der Dornfelder trotzdem sein dürfen.

Forelle, schwarzer Rettich, Quittenessig, rehydriertes Dörrobst und Zuckerhut bildet den Einstieg. Was opulent klingen mag, erweist sich auf dem Teller als konzentrierte Präsentation, in der die einzelnen Komponenten nicht alle gleich gut zum Tragen kommen. Der ultrafrische Fisch harmoniert prächtig mit dem Zuckerhut (einer Art Chicorée) und den prägnanten Rettich-Aromen. Dem Dörrobst fehlt es hingegen an Präsenz im Zusammenspiel, so dass der recht großflächig als Carpaccio eingesetzte Rettich das Gericht ziemlich dominiert und dem Gericht in erster Linie eine bitter-säuerliche Note verleiht, die indes die Geschmackspapillen durchaus fordert und auf Betriebstemperatur bringt.

Winterbete vom Albgärtle mit Honig-Met ist eine nahezu monothematische Komposition, die ihren Reiz vor allem aus den verschiedenen Texturen und Konsistenzen der Bete bezieht. In gekochter und geschmorter Form schwimmt die Bete auch noch in einer Rote-Bete-Sauce, die durch eine sehr herbe Hollandaise aus Honig-Met in ihrer Süße abgeschwächt wird – ein ungewöhnliches und die volle Aufmerksamkeit des Gastes forderndes Gericht, das zu einem gewagten Spiel rund um ein einziges Produkt gerät.

Topinambur, Crusta-Nova-Öl und eingelegte Ackertomaten verfolgt nahezu denselben Ansatz wie der Vorgänger: auch hier wird der vegetabile Hauptdarsteller sehr in den Vordergrund gedrängt. Durch verschiedene Zubereitungsarten soll wohl hier das Potential des Wurzelgemüses unterstrichen werden. Es gelingt nur bedingt, doch glücklicherweise springt die gekochte, hocharomatische Tomate unversehens in die Bresche und steuert dringend benötigte aromatische Tiefe und Vielfalt bei, die das ansonsten etwas fad wirkende Gericht dann doch noch überzeugend retten.

Gebeiztes Eigelb, getrocknete Milchkuh, Portulak, Gewürzgurke und Bauernhofkartoffel ist das erste Gericht des Abends, das mit einem Satelliten begleitet wird. Das à part gereichte Eigelb schwimmt in einem leichten Schaum und ist eine wirklich stimmige Ergänzung zu dem sorgsam komponierten Hauptteller, auf dem Kartoffelsegmente, von dem hauchdünnen Schinken ummantelt, sich mit dem Portulak und der Gewürzgurke tummeln. Die Aromenvielfalt dieses Gerichts übertrifft ihre Vorgänger, wirkt aber keineswegs überladen. Erfreulich auch, dass man hier – ähnlich wie im Nürnberger Essigbrätlein – immer wieder auf fast schon vergessene Küchenkräuter wie Portulak zurückgreift und stimmig in Szene setzt. Zu meiner nicht geringen Überraschung wird nach diesem Gang ein Schälchen mit hocharomatischem Beef-Tee gereicht.

Richtig gewagt wird es bei gegrilltem Ostalb-Lamm-Bauch mit gebackener Karotte und Heu-Dashi, denn ein so rustikales Grundprodukt will erst einmal veredelt werden. Der Mut zum Risiko zahlt sich dennoch aus: die Karotte wird nicht nur à part in gebackener Form serviert, sondern als auch facettenreicher Begleiter des Bauchs auf dem Hauptteller. Die klare Brühe schwächt den derben Charakter des Bauchs wohltuend ab, und das kleine Kügelchen aus Frischkäse, das mit verkohltem Lauch ummantelt ist, erweist sich als toller Einfall, der prächtig mit dem Bauch harmoniert. Alles in allem ein überraschendes Gericht, das nicht so rustikal geriet wie man es befürchten musste.

Albgockel (Brust und Keule) mit Spinat, weißen Bohnen und gekochtem Joghurt schraubte die Portionsgröße, die zu Beginn der Menüfolge überschaubar war, weiter in die Höhe – leider durchaus nicht zum Vorteil des Gerichts. Dies lag weder an der ausgezeichneten und nur dezent begleiteten warmen Galantine noch an dem originell im Rahmspinat versteckten Fleisch der Brust, sondern an den hoffnungslos überportionierten weißen Bohnen, deren recht eindimensionaler und in diesem Kontext eher befremdlicher Geschmack schnell durchschaubar wurde. Die Überfrachtung des Gerichts durch wenig ausgeklügelte Proportionen erwies sich hier als substantielle Schwäche. Schade drum – wahrscheinlich wäre der völlige Verzicht auf die Bohnen hier eine Überlegung wert gewesen.

Das Dessert hingegen war wieder mit einer deutlichen Steigerung verbunden: Emmer und Apfel mit Biotal-Vollmilch klang nicht sonderlich aufregend, stellte sich aber als kreativer Ausklang dar, der mit überraschenden Facetten zu punkten wusste. Auf dem kreisrunden Getreidebett tummelte sich Apfel in verschiedenen Formen (Eis, Scheiben, fermentiert) mit einer Art Schäumchen. Konzentrierter Geschmack auf kleinem Raum – sehr ansprechend.

Zwei Ausklänge – geeiste Schokoladenpraline mit Süßkartoffel (!) und ein Mini-Ofenschlupfer – standen am Ende eines Abends, an dem die ausgetretenen Pfade des öfteren verlassen wurden. Vom Service unter der Leitung von Anna Widmann lässt sich dies nicht behaupten – ein wohltuender Service ohne Schwächen mit den Konventionen eines Sterne-Restaurants. Offensichtliche Patzer gab es keine, und schon zu Beginn wurde mir eine Auswahl an Zeitschriften zur Verfügung gestellt. Newcomern unter den Gästen, denen man oft Angst vor steifem oder biederem Getue des Service nachsagt, können hier absolut ohne Sorge einkehren, zumal sich Frau Widmann nicht scheut, ausgiebig vom Dialekt ihrer Heimat Gebrauch zu machen.

Mit wechselndem Erfolg wird im ursprung experimentiert, inwiefern sich rustikale Grundprodukte ansprechend, doch ohne jede Künstlichkeit in Szene setzen lassen. Das im Werbetext propagierte „querdenkende Handwerk“ ist durchaus erkennbar, wenn auch selbiges hier und da noch Wünsche offenlässt (speziell beim Hauptgericht). Allerdings wäre es auch verwunderlich, wenn ein Restaurant mit so einem aus der Reihe tanzenden Konzept bereits nach einem halben Jahr schon völlig ausgereift wirken würde. Das größte Verbesserungspotential sehe ich momentan bei der Aromentiefe an sich und sorgsamer durchdachten Proportionen. Dessen ungeachtet erkenne ich hier ein Lokal mit einem beachtlichen Potential, dessen Werdegang mich weiter beschäftigen wird.

Alles in allem könnte es 2019 vielleicht schon mit einem Michelin-Stern klappen. Wenn der Gault&Millau sich ebenfalls einschaltet, würde ich persönlich mit 15 Punkten einsteigen. So oder so hat die Ostalb jedenfalls endlich wieder eine Adresse, die aus der Masse herausragt und speziell aufgeschlossenen Gästen durchaus empfohlen werden kann.