La Villa de Camille et Julien*, Luxemburg-Stadt

„Charme ist Charakter, der sich von seiner schönsten Seite zeigt.“ (Lothar Schmidt)

Juli 2023

Eine Studienfahrt mit meiner Schule ins benachbarte Großherzogtum bot mir die Gelegenheit, auch noch eine weitere Adresse abseits der drei renommiertesten und bereits besuchten Adressen des Landes – Ma langue sourit, Mosconi und La Distillerie – zu besuchen. Die einfach besternte Villa de Camille et Julien liegt am Rande der Hauptstadt und kann vom Bahnhof aus bequem mit dem Bus erreicht werden, zumal der ÖPNV im gesamten Land Luxemburg ja seit nunmehr drei Jahren in der 2. Klasse komplett kostenlos ist. Das stattliche Gebäude mit der beigen Fassade ist dennoch vergleichsweise unscheinbar, da es an einer stark befahrenen Straße ins Zentrum liegt und angesichts der umgebenden dichten Besiedlung nicht besonders auffällt. Das Innere dagegen ist sehr individuell und durchaus geschmackvoll mit Parkettboden sowie jeder Menge ungewöhnlicher Design-Gegenstände eingerichtet. Es erinnert ziemlich an ein Atelier und bietet eine außergewöhnliche Bühne für das Essen hier. Im 1. Obergeschoss gibt es auch noch eine Raucherlounge, wo feinste Havannas auf Käufer warten. Die wenigen Wertungen der professionellen Guides fallen eher bescheiden aus, doch eine gewisse Neugier hatte mich dank der angeblich besonders schön drapierten Speisen dennoch gepackt.

Chef des Hauses ist Julien Lucas, der sich hier zusammen mit seiner Frau Camille Tardif nahe seiner Heimat in Lothringen niedergelassen hat. Monsieur Lucas stand schon Seite and Seite am Herd mit den Größten der Zunft wie Alain Ducasse, Bernard Loiseau und Joël Robuchon – schwerlich die schlechtesten Referenzen! Insgesamt pflegt er hier jedoch einen Stil, der nicht übermäßig artistisch ausfällt, sondern eher auf Natürlichkeit setzt und oft mit nur wenigen Produkten die vielfältige Qualität einzelner Lebensmittel auf einem einzigen Teller zelebriert. Da die Ansprachen überwiegend auf Französisch folgen (und ich dies auch so haben möchte), kann ich nicht ausschließen, dass mir im Laufe des Abends das eine oder andere Detail entgangen ist. Dass der Chef in einem ländlich geprägten Raum aufgewachsen ist und dank der Geburt in eine Familie von Gastronomen hinein von frühester Kindheit an mit diversen Lebensmitteln vertraut gemacht wurde, merkt man seiner Küche, die weitgehend ohne Luxusprodukte auskommt, deutlich an.

Ganz in diesem Geiste sind die Apéros gestaltet, die zur Einnahme auf der halboffenen Terrasse gedacht sind. Sie ist überdacht und nach vorne offen, doch der Straßen- und insbesondere der Fluglärm (das Lokal liegt direkt in der Einflugschneise des Flughafens Luxemburg) lassen leider keine echte Entspannung aufkommen. Die Einsteiger selbst sind teils sehr schlicht gestaltet und tragen auch nicht zu einem erhöhten Maß an Begeisterung bei: das simpel gestrickte Cornetto mit Radieschen und Salzbutter wird als Kindheitserinnerung des Chefs präsentiert, doch auch die übrigen drei Beiträge lassen noch keine hohe Meisterschaft erkennen: auf einer Honigmelone thront eine Masse aus getrockneten Preiselbeeren, die Tartelette ist gefüllt mit einer Pimento-Crème und die Salatgurke wird mit einem Lemon Curd gepaart. Jedenfalls würde keiner dieser Beiträge auch nur annähernd einen Michelin-Stern rechtfertigen, weshalb das Niveau gerne noch deutlich anziehen darf. Der mit Gewürzen verfeinerte Orangensaft ist ganz nett, vermag aber die ersten unterkühlten Eindrücke noch nicht zu entkräften. Das einzig Positive, das ich diesem Auftakt attestieren kann, ist ein hohes Maß an Natürlichkeit. Dem gegenüber steht allerdings eine grenzwertig einfache Idee, die sicherlich keinen Gast nachhaltig zu beeindrucken vermag.

Nach diesem fast schon erschreckend harmlosen Auftakt hoffe ich auf ein signifikant höheres Niveau, als es dann drinnen weitergeht. Angesichts der etwas schwülen Luft und des Lärms draußen empfinde ich diesen Schritt tatsächlich fast schon als eine Wohltat. Die Tische sind drinnen in großzügigem Abstand zueinander gestellt und erlauben jede Menge Rückzug, wobei ich etwas überrascht feststelle, dass an einem anderen Tisch in durchaus heiterem und recht lauten Tonfall Deutsch gesprochen wird. Luxemburg ist eben schon immer ein polyglottes Land gewesen! Man reicht mir sodann das Menü, das aus „séquences“ besteht – den Begriff „Sequenz“ oder wörtlich „Reihenfolge“ empfinde ich als etwas irritierend, da er nicht mit „Gängen“ gleichgesetzt werden sollte. Es wird von der Nomenklatur her nämlich kaum unterschieden zwischen Amuse, Pré-Dessert oder Käsegang. Jedes dieser Elemente stellt sozusagen unabhängig von der Portionsgröße einen Gang dar – ganz gleich, ob es sich nur um eine charmante Petitesse oder ein ausgewachsenes Hauptgericht handelt. Wenn man also – wie ich – hier sieben „Sequenzen“ zum Preis von € 150 bestellt, dann sollte man nicht überrascht sein, wenn es sich dabei in Wirklichkeit eher um fünf Gänge mit einem Amuse und einem Pré-Dessert handelt. Dementsprechend werden bei der alkoholfreien Getränkebegleitung zum Preis von € 50 auch nur fünf Gläser anstatt sieben ausgeschenkt, was auf mich wenig durchdacht wirkt. Da der Preis insgesamt vernünftig ist, will ich jetzt nicht mit Meckern beginnen, aber eine verwirrendere Bezeichnung der Gänge ist mir bislang nur selten untergekommen.

Sei’s drum – mit dem Auftragen der Brotauswahl ist der erste Ärger darüber schon wieder verraucht. Die bretonische Butter und das salzige Brioche sind von ausgezeichneter Qualität und erweisen sich als würdige Begleiter für das gehaltvolle Brot zur linken Seite, dessen genaue Sorte mir leider entgangen ist. Dass der Chef dank regelmäßiger Besuche beim Bäcker in seiner Kindheit ein Faible für dieses Lebensmittel entwickelt hat, merkt man dieser aparten Auswahl jedenfalls an.

Mit dem Amuse zieht das Niveau merklich an, denn das lauwarme cremige Süppchen von grünen Bohnen überrascht nicht nur durch versteckte Bohnen als Einlage und Texturgeber, sondern auch durch das winzige Salbeisorbet und klein gehackte Pistazie, welche überraschende aromatische Facetten zu einem scheinbar gut bekannten Gericht beisteuern. Dank des dichten Geschmacks und des unverkennbar finessenreichen Handwerks nähern wir uns langsam dem Level an, der einen Michelin-Stern rechtfertigt.

Letzte Restzweifel werden dann schließlich mit dem nächsten Teller endgültig ausgeräumt: die marinierte und kurz geflämmte bretonische Sardine punktet mit forscher, aber wunderbar pointierter Salinität, welche durch den Kaviar obenauf abermals potenziert wird. Umspielt wird das exzeptionelle Hauptprodukt (welch Schmelz und Fettgehalt!) von einem Tomatensorbet auf einem Keksring und einer Burrata mit mediterranen Gewürzen. Das wirkt in Summe ungleich durchdachter als vieles zuvor: die Kombination von hervorragendem Handwerk mit klug dosierten Begleitern, die wirklich etwas Nützliches zum Teller beisteuern, sowie das untrügliche Gespür für passende Begleitaromen lassen mich diesen superben Teller beim Vergleich mit den Vorgängern in einer eigenen Dimension ansiedeln: damit hat sich die Küche erstmals selbst übertroffen! Der Abend ist also nach dem schalen Auftakt in jedem Fall noch zu retten. Nicht unterschlagen möchte ich auch den flüssigen Begleiter, der zugleich mit Abstand der beste des Abends werden sollte: der großartige alkoholfreie Traubensaft „Scheidberg“ (2021) von der Domaine Clos des Rochers nahe Grevenmacher an der Mosel hat mich überzeugt wie nur selten ein anderer zuvor.

Wie zur Bestätigung, dass der Vorgänger kein bloßer Zufall oder Glückstreffer war, haut die Küche gleich noch einen höchst ästhetischen Knaller raus: auf der Haut gegrillte Rotbarbe mit Fenchel und Dillblüten labt sich an einem würzigen Fischfond, der auf höchst stimmige Weise von einem Ring aus Artischockencrème umrandet wird – bei dem Design könnte glatt Sven Elverfeld Pate gestanden sein! Der Fisch selbst verdient jedoch auch höchstes Lob, denn die körperbetonte Intensität harmoniert prächtig mit der mediterranen Umgebung. Dieser Teller allein hätte schon das Prädikat der Extraklasse gerechtfertigt, doch mit dem Schälchen à part krönt man diesen Gang: ein roh mariniertes Filet der Barbe wird in Kombination mit einer Krustentiercrème und salzigen Gewürzen zu einem Erlebnis ersten Ranges. Lediglich das Focaccia anbei (ohne Foto) erfüllt nicht ganz den gewohnten Qualitätsstandard – ansonsten prägt sich der bildschön drapierte Teller, für den sich auch wesentlich höher dekorierte Köche nicht schämen müssten, dauerhaft ein. Der flüssige Begleiter, nämlich fermentierter Tee mit Kombucha und Kräutern aus dem Gemüsegarten, kann dagegen das Niveau für meine Begriffe nicht halten. Trotzdem ist meine Enttäuschung vom Beginn inzwischen vollständig verraucht.

Beim bretonischen blauen Hummer erwischt die Küche den Garpunkt praktisch optimal und kleidet den Hauptdarsteller in ein Gewand aus karamellisierten Zwiebeln, geflämmten Frühlingszwiebeln und Krustentiersud, der mit Pfeffer aufgewertet wurde. Die bildschöne Umsetzung, die ausgewogene Balance zwischen den Komponenten und die Kreativität im Allgemeinen sorgen dafür, dass dieser Gang wenig vorhersehbar bleibt und trotz weniger Produkte eine beachtliche Variabilität an den Tag legt. Die pointierte Würze entfaltet dabei ihren ganz eigenen Charme, denn von den meist eher mild umgesetzten Krustentiergerichten andernorts ist dieser Teller doch ein gutes Stück entfernt, ohne dabei zu enttäuschen. Der Gurkensaft mit Pfeffer als Getränk ist ein passender, aber ohne nennenswerten Aufwand kredenzter flüssiger Begleiter, der schwerlich einen Preis von € 10 pro Glas rechtfertigt.

Ein ganz und gar ungewöhnliches Hauptgericht ist Kalbsbries mit Artischocke, Anchovis und Kaffee. Die cremige und knapp gebratene Innerei wird hier zwar ganz à la française interpretiert, doch das Kaffeegelée sowie die mit Kaffee verfeinerte Jus stellen alles andere als gewohnte Begleiter dar, die mit ihrer Bitterkeit allerdings besser harmonieren als gedacht. Es ist wahr, dass dieser Teller recht massig von dem Bries dominiert wird (und daher auf Dauer etwas eintönig wirken könnte), aber andererseits setzt das reizvolle Schälchen à part dem etwas entgegen. Die mit Segmenten von Anchovis versetzte Artischockencrème und ganz vorzügliche, herbe Artischockenchips, die mit Kaffeepulver bestäubt sind, bringen eine elegante und wenig rustikale, wenn auch leicht säuerliche Note ins Spiel, die mit dem Kaffee besser als erwartet korrespondiert. Innereien zum Hauptgang sind per se schon selten genug, aber bei dieser Begleitung trifft das erst recht zu! Aprikosensaft mit Minze liegt als Begleiter auch nicht gerade auf der Hand, doch der leicht viskose Saft korrespondiert mit der cremigen Konsistenz des Bries auf schlüssige Weise. Unterm Strich wegen der schieren Menge kein Highlight, aber allemal ein Gericht, das den kulinarischen Horizont erweitert.

Gurke, Minze und Gin zum Pré-Dessert legen den Verdacht nahe, dass hier eine Art Gin Tonic dekonstruiert werden soll. Was auf den Teller gelangt, mag vielleicht nicht besonders artistisch oder komplex sein, erfüllt seinen Zweck aber allemal: Sorbet und Espuma von grünem Apfel paart die Pâtisserie nicht nur mit den obigen Komponenten, sondern bettet das Ganze auf einem herben Selleriesud, der den feinen Gin-Noten allen Raum zur Entfaltung lässt. Dieses sorgsam ausbalancierte Dessert passt vorzüglich zur Jahreszeit und überzeugt durch die zweckmäßige Verwendung der Texturen, welche die Frische dieser fast zuckerfreien Petitesse betonen – ein starker Beitrag!

Einer der Höhepunkte des Abends in Sachen Design ist das finale Dessert, das hauptsächlich um Himbeere und Rose in heiterer Vielfalt kreist. Mit verschiedenen Texturen und Temperaturen sowie dem weitgehenden Verzicht auf zusätzlichen Zucker gelingt es der süßen Abteilung, den Eigengeschmack der Beere besonders zu betonen. Einen aristokratischen Feinschliff erfährt dieser Ausklang durch die zarten Aromen von Rose, die sich dezent und vollkommen organisch integrieren. Das bleibt trotz der scheinbaren Komplexität leicht fassbar und überzeugt mit einer cleveren Konzeption: Ästhetik durch nahezu monochromatische rote Farbe, Abwechslung durch überraschende Texturen und die würdige Begleitung mit Kirschsaft und Kombucha. Hier wurde eine im Grunde simple Idee launig und mit viel Phantasie schlüssig umgesetzt. Das kratzt schon am Niveau von zwei Sternen.

Die Mignardises bestehen aus einem ein Jahr lang im Fass gereiften Salbeisorbet, einem Macaron von Erdbeere und Minze, einer flüssigen Schokopraline und einer recht süßen Karamellpraline. Höhepunkt dieses Quartetts ist fraglos das Sorbet, während eine Spur weniger Zucker den anderen Petitessen gut getan hätte.

Dennoch wurde aus diesem Abend nach dem unterkühlten Auftakt noch eine absolut versöhnliche Stippvisite: die Küche fing sich rasch und besann sich speziell zu Beginn des Menüs auf ihre Stärken. Gerade die Sardine oder die Rotbarbe zu Beginn hängten die Messlatte im Vergleich zu dem mauen Beginn fast schon in ungeahnte Höhen. Insgesamt könnte man die Küche von Julien Lucas durchaus als Produktküche bezeichnen, die großen Wert auf qualitativ hochwertige Viktualien legt und mit wenig Chichi danach trachtet, das Beste aus den Produkten herauszuholen. In den meisten Fällen gelang dies auf überzeugende Art oder gar erstaunlich souverän, doch andere Beiträge wiederum verwässerten den grundsätzlich positiven Eindruck immer wieder mal. Dazu trugen fragwürdige flüssige Begleiter zu den Gerichten genauso bei wie teils simplistisch anmutende Gänge ohne echten Reiz, die keinen Stern hätten rechtfertigen können. Will sagen: die Schere zwischen den stärksten Gängen und den Apéros klaffte hier recht weit auseinander und sollte dringend geschlossen werden. Das Potential für höhere Bewertungen ist hier zweifellos gegeben und muss nur noch abgerufen werden.

Der Service ist leicht förmlich, aber im Gegenzug recht auskunftsfreudig, quirlig und aufmerksam. Die Fremdsprachenkenntnisse der Mitarbeiter sind durchschnittlich ausgeprägt, weshalb zumindest ein Durchkommen mit Englisch möglich sein sollte. Französisch wird allerdings klar bevorzugt, was wir in Luxemburg mehr als nur einmal erlebt haben. Die Nebenkosten sind übrigens recht hoch veranschlagt, was insbesondere von dem Cocktail zu Beginn behauptet werden kann.

Alles in allem kann man hier einen unbeschwerten Abend auf sich steigerndem Niveau erleben, den man leicht genießen kann. Manche Gerichte überzeugten mit großer Tiefe und Reinheit im Geschmack, während andere trotz bisweilen noch nicht optimaler Umsetzung neue Perspektiven aufzeigten. Die stärksten Gerichte waren fraglos die Fischgänge, die hier im Vergleich zu den anderen Tellern fast eine Klasse für sich darstellen. Obwohl es sich um alles andere als ein avantgardistisches Lokal handelt, ist die Villa de Camille et Julien immer für eine Überraschung gut – ob nun gewollt oder nicht. Ich würde daher keine Garantie für einen gelungenen Abend hier aussprechen wollen, da ein paar Unwägbarkeiten kein definitives Urteil zulassen, aber mit etwas Glück kann ein Besuch hier zu einem Ereignis werden, dessen Highlights noch lange nachhallen. Ich habe die Stippvisite letzten Endes keinesfalls bereut, auch wenn fraglos noch Luft nach oben bleibt.

Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten

 

La Villa de Camille et Julien
5 Rue de Pulvermuhl
2356 Luxemburg-Stadt (Luxemburg)
Tel.: 00352-2899-3993
www.lavilla.lu/fr

Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 14 Punkte

Menü mit 7 „séquences“: € 150