Wie real ist die omnipräsente Krise der Gastronomie?

In den letzten Jahren hat das Wort „Krise“ angesichts vieler grassierender Probleme größerer und kleinerer Natur so selbstverständlich in den Kanon des deutschen Standardvokabulars Einzug gehalten, dass es inzwischen schon fast inflationär verwendet wird, zumal das Jammern – notfalls auch auf höchstem Niveau – ja ein urdeutsches Laster darstellt. Die Gastronomie wurde in den letzten Jahren fraglos nicht von problematischen Entwicklungen verschont, weshalb diese Vokabel gerade auf diesem Sektor derzeit besonders häufig bemüht wird. Basierend auf meinen eigenen Erfahrungen schildere ich mal aus der Sicht eines Gastes meine Beobachtungen und teile meine Einschätzungen, was vielleicht einen reizvollen Impuls setzt, sich differenziert und ernsthaft mit der meist aus der Sicht der Gastronomen erzählten Situation auseinanderzusetzen. Eingegangen wird dabei auf unterschiedlichste Probleme und Fragestellungen, um einen möglichst umfassenden Blick auf die allgemeine Lage zu bieten.

 

Kostenexplosion in den vergangenen Jahren

Fraglos handelt es sich bei den zuletzt massiv gestiegenen Kosten auf vielen Gebieten um eines der gewichtigsten Probleme der Gastrobranche: die stark erhöhten Ausgaben für Energie, die aufwendige Beschaffung von Lebensmitteln sowie merklich gestiegene Personalkosten belasten das Budget der Gastronomen spürbar – hinzu kommt noch der allerorten spürbare Fachkräftemangel. Die unausweichliche Konsequenz bestand darin, dass in der Mehrzahl der gehobenen Restaurants (und natürlich auch in gewöhnlichen Lokalen) die Preise in den letzten Jahren signifikant angehoben werden mussten, um das Überleben der Gastwirte zu sichern. Hinzu kommen natürlich noch die weiteren Belastungen durch die Pandemie, die hauptsächlich fehlender staatlicher Unterstützung und langen Schließzeiten mit ausbleibenden Einnahmen geschuldet waren. Nun droht am Horizont schon das nächste Unheil in Form der wieder angehobenen Mehrwertsteuer zum neuen Jahr, worum fraglos niemand in der Branche gebeten hatte. Auf diesen Aspekt wird allerdings noch gesondert eingegangen, weshalb zunächst einmal nüchtern festgehalten werden muss, dass die bisherigen Preissprünge für einen Restaurantbesuch nicht gerade wohlwollend von den Gästen, aber dennoch mit einer gewissen Akzeptanz zur Kenntnis genommen wurden. Ob sich das im nächsten Jahr abermals so verhält, bleibt allerdings abzuwarten. Vieles wird auch davon abhängen, wie sich die Gastronomen selbst in finanzieller Hinsicht den veränderten Bedingungen anpassen – doch dazu später mehr.

 

Angekündigte und vermeintlich bevorstehende Schließungen

Nicht erst seit der erwartbaren Ankündigung durch die Politik, den vergünstigten und während der Pandemie gewährten Mehrwertsteuersatz zum Jahresende auslaufen zu lassen, liest man allenthalben von bevorstehenden Schließungen. Besonders häufig bemüht wird derzeit das Bild von weiteren drohenden Geschäftsaufgaben, die hauptsächlich auf die Anhebung der Mehrwertsteuer zurückzuführen sind – doch stimmt das so?

Fraglos wurden die Gastronomen auch schon in der Vergangenheit mit einer Flut an teils wenig einleuchtenden und hemmenden Vorschriften drangsaliert, was sich zumindest dann erträglicher gestaltet hätte, wenn sich die Branche hierzulande im Gegenzug einer soliden Unterstützung durch die Politik erfreuen würde. Dass indes viele Gastronomen keinerlei Support dieser Art wahrnehmen, war allerdings auch schon vor der Pandemie zu beobachten. Die klare Bevorzugung der Industrie gegenüber der Gastrobranche während des Lockdowns tat ein Übriges und hat das Empfinden einer schmerzhaften, ungerechten Demütigung sicherlich nur noch weiter verstärkt. Dennoch stoße ich immer wieder auf Gastwirte, die allen Widrigkeiten zu trotzen versuchen und ihr eigenes Schicksal proaktiver denn je in die Hand nehmen – Hingabe und Leidenschaft allein werden zwar nicht ausreichen, können aber eine große Rolle bei der Bewältigung der aktuellen Situation spielen.

Es verwundert natürlich nicht, dass gastronomische Interessensverbände in dieselbe Kerbe hauen und sich über die zahlreichen Belastungen aktueller und künftiger Art beschweren, um mehr Aufmerksamkeit zu erzielen und bestenfalls ein größeres Maß an Verständnis beim Gast für die Probleme der Branche zu generieren. Gleichwohl ist klar, dass wir alle in der aktuellen Lage größere Lasten als in der Vergangenheit zu schultern haben und im Sinne der Soldarität jedes Individuum und jede Branche – auch die Gastronomie – ihren Anteil dazu beitragen muss. Vom Klagen allein lösen sich jedenfalls die wenigsten Krisen. Aus individueller Sicht ist der Verlust jedes einzelnen Lokals oft eine private Tragödie, aber aus rein kulinarischer Sicht bleibt natürlich auch festzuhalten, dass Lokale, die ausschließlich mit Convenience Food arbeiten und ihre Speisekarten mit mehr als hundert Gerichten überfrachten, keine wirkliche Bereicherung der Szene, sondern eher eine Notwendigkeit für all diejenigen darstellen, denen absolut nicht an einer qualitativ vorzeigbaren Mahlzeit, sondern nur an bloßer Nahrungsaufnahme gelegen ist.

 

Der Sonderfall Berlin

Richten wir den Blick zunächst auf die Hauptstadt – nicht nur, weil sich hier die Schaltzentralen befinden, in denen Entscheidungen von bundesweiter Tragweite für die Gastronomie getroffen werden, sondern auch, weil Berlin derzeit gerne als Beispiel bemüht wird, um den Abgesang der Gastrobranche in schrillen Tönen zu verkünden. Tatsache ist, dass in dieser Stadt jüngst mehrere Schließungen bereits erfolgt sind oder kurz bevorstehen, aber ein genauerer Blick zeigt mir doch deutlich auf, dass die Gründe dafür mitnichten nur in den gestiegenen Kosten und fehlender Rentabilität zu sehen sind. Lange Zeit wurde in Berlin jede neue Entwicklung noch so fragwürdiger Natur derart gehypt, dass die oft extravaganten und ach so hippen Konzepte schon als die Zukunft und gar die Rettung der Gastronomie angepriesen wurden. Schnell wurde den eher nüchterner denkenden Zeitgenossen allerdings klar, dass die vermeintlich so kreativen Ideen nicht selten einer gewissen Substanz spürbar entbehrten und in dieser Form in keiner anderen deutschen Großstadt reüssieren würden. Das fängt schon bei den teils schäbigen Fassaden der Lokale an und setzt sich beispielsweise mit der schnoddrigen Art so mancher Servicebrigaden, die dezidiert Berlin abbilden, fort. Das Ganze setzt sich fort bei verkopft anmutenden Gerichten, die mit blumigen Phrasen angepriesen werden und in Wahrheit oft wenig bemerkenswert geraten. Mit anderen Worten: der kolportierte Reiz mancher Ansätze nutzt sich mit der Zeit ohnehin ab, zumal die immense Konkurrenz in der Hauptstadt zu einem Buhlen um das Wohlwollen der Gäste führt, das fast schon groteske Züge annimmt. Außerdem sind die Gastronomen selbst in dieser Stadt oft lauter, flatterhafter und wankelmütiger als anderswo, da sie sich oftmals als Künstler verstehen und ständig etwas Neues ausprobieren wollen. Die Konsequenz dieser Denkweise besteht darin, dass viele Lokale in der Hochküche hier kaum mehr als fünf Jahre existieren und oftmals genauso schnell der Vergessenheit anheim fallen wie sie aufgestiegen sind. Mag sein, dass mein Blick auf die Gastrobranche der Hauptstadt für manchen Zeitgenossen zu kritisch ausfällt, aber repräsentativ für die Entwicklung in der Republik ist Berlin mit Sicherheit nicht.

 

Positive Gegenbeispiele

Es wäre kaum verwunderlich, würden angesichts der oben geschilderten Widrigkeiten viele Gastronomen einfach die Flinte ins Korn werfen. Natürlich wird dies nicht ausbleiben, weshalb in diesem Kontext auf der anderen Seite Neueröffnungen geradezu anachronistisch anmuten würden, doch anderswo erleben wir genau dies: so haben allein in Stuttgart jüngst nicht weniger als drei Lokale eröffnet, die allesamt als heiße Anwärter für einen Michelin-Stern gelten dürfen. Noch extremer stellt sich die Situation derzeit in München dar, wo selbst ein passionierter Gourmet sichtlich Mühe hat, mit den jüngsten Entwicklungen Schritt zu halten. Die Hochküche floriert in München derzeit wie noch nie, was sich an der Zahl neuer Lokale mit überaus ambitionierten jungen Chefs auch eindeutig belegen lässt. Angeführt vom neuen Zugpferd, dem Dreisterner JAN, finden Gourmets allein in der Altstadt eine derart hohe Anzahl an gehobenen Lokalen, dass das Werben der Lokale um Gäste zu einer Fragestellung von höherer Priorität denn je geworden ist. Vorbei sind die Zeiten, als das Tantris in Schwabing noch jeden Nachmittag mühelos alle Plätze an den Mann bringen konnte: das liegt natürlich zum einen an knapperen finanziellen Mitteln mancher Besucher, aber eben auch an der größeren Auswahl. Für die Gäste dürfte dies eine eher vorteilhafte Gestaltung der Preise nach sich ziehen, da die Konkurrenz das Geschäft spürbar belebt. So muten die jüngst aufgerufenen Preise im Tantris DNA wie ein Eingeständnis und bereits um einiges gastfreundlicher als noch vor zwei Jahren an.

Schauen wir noch in den Schwarzwald: anhand der Baiersbronner Schwarzwaldstube lässt sich wunderbar aufzeigen, was sich mit Zielstrebigkeit und Kampfgeist alles erreichen lässt. Nicht weniger als drei gewichtige Rückschläge musste diese weltberühmte Institution verkraften: zunächst die unwürdige Posse um den Abgang des ehemaligen Chefs Harald Wohlfahrt, dann der verheerende Brand des historischen Gebäudes mit dessen vollständiger Zerstörung und schließlich die leidige Pandemie. Keiner wäre verwundert gewesen, wenn dieser unheilvolle Dreiklang dem Aushängeschild der Haute Cuisine in Deutschland schlechthin den Todesstoß versetzt hätte. Doch bekanntlich ist nichts von alledem eingetreten: dank der Weitsicht und der Bereitschaft des Patrons Heiner Finkbeiner, diese Herkulesaufgabe unverdrossen anzugehen, steht diese unvergleichliche Veste des guten Geschmacks heute besser da als jemals zuvor: in dem französischen Ranking La Liste teilt sich die Schwarzwaldstube den weltweit ersten Rang mit sechs weiteren Lokalen – vier davon in New York, Paris, Hongkong und Tokyo. Wenngleich dies ein leuchtendes Ausnahmebeispiel darstellt, so fragt man sich schon, wie groß die Krise tatsächlich ist, wenn es einem Lokal in einem 15.000-Seelen-Ort gelingen kann, Gourmets aus aller Welt anzuziehen. Ähnlich Bemerkenswertes gäbe es auch über das Moseldorf Piesport mit seinen 2.000 Einwohnern zu berichten: seit Thomas Schanz hier den dritten Stern erringen konnte, wird der Ort von internationalen Gästen frequentiert, die man hier noch vor fünf Jahren niemals erwartet hätte.

Fakt ist, dass mit der Schwarzwaldstube, dem Victor’s Fine Dining und dem Sonnora drei deutsche Lokale in diesem Ranking extrem erfolgreich abgeschnitten haben und ergo zur absoluten Weltspitze gezählt werden dürfen – eine Leistung, die ihre Anerkennung durch die Gäste in Form von nach wie vor praktisch ausgebuchten Restaurants findet. Nur mit Verdruss und Resignation lassen sich solche Auszeichnungen jedenfalls nicht erlangen! Eine positivere Grundeinstellung täte uns diesbezüglich vielleicht gut.

 

Die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer auf den ursprünglichen Wert

Es steht zu befürchten, dass die vollständige Abwälzung der durch die Anhebung der Mehrwertsteuer neu anfallenden Kosten auf den Gast für viele Gastronomen eine alternativlose Möglichkeit darstellt. Ich konnte jedoch auch mit vereinzelten Gastronomen sprechen, die darin den Nährboden für ein spürbares Ausbleiben der Gäste sehen und daher nur eine partielle Beteiligung des Gastes an den Kosten erwägen. Mehrheitsfähig ist dieser Ansatz eher nicht, aber eine salomonische Verteilung der finanziellen Last auf Gastwirt und Gast gleichermaßen scheint mir zumindest dort, wo diese Option gegeben ist, ein gangbarer Weg zu sein.

Der Blick ins Ausland schmerzt bei diesem Thema besonders: etliche Länder wie Frankreich oder die Beneluxstaaten erheben von ihren Gastronomen signifikant niedrigere Steuern und verschaffen den Betreibern dadurch mehr Handlungsspielraum. Als Ergebnis dessen können Lokale in diesen Ländern attraktivere Angebote – gerade mittags – machen und so ständig mit ausgebuchtem Hause rechnen. Das hat fraglos auch mit einer erheblich ausgeprägteren Esskultur in diesen Ländern zu tun, doch angesichts eines Mehrwertsteuersatzes von lachhaften 3 % in Luxemburg kann man schon mal vor Neid erblassen. Tatsache ist auch, dass im Ausland hinter den erfolgreichsten Lokalen oft ein touristisches Potential erkannt wird, das großzügig – im besten Fall mit Subventionen – gefördert wird. Auf die Bereitschaft zu solchen Subventionen seitens der Politik hierzulande richte ich mein Augenmerk gleich noch, bevor ich am Rande noch einen weiteren Umstand thematisiere.

Dass sich die von der Politik einst in Aussicht gestellte Beibehaltung des niedrigeren Mehrwertsteuersatzes als reines Lippenbekenntnis entpuppen würde, dürften viele auch schon vor dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur rechtswidrigen Finanzierung des Haushalts geahnt haben, das lediglich einen dankbaren Vorwand für den Wortbruch lieferte. Da ein solcher Vorgang nicht gerade einen Präzedenzfall darstellt und viele leidvolle Erfahrungen in der Vergangenheit umsichtige Zeitgenossen längst zur Vorsicht beim Umgang mit solchen Versprechungen mahnten, kann ich mir nicht vorstellen, dass sich die komplette Branche in einem Anflug von Naivität kollektiv überrumpeln ließ und keinerlei Vorsichtsmaßnahmen für den Fall einer illusorischen Versprechung getroffen hatte. Es darf daher spekuliert werden, ob die ganz großen Preissteigerungen möglicherweise ausbleiben oder bereits zum Teil schon in den letzten Monaten umgesetzt wurden, damit sie weniger auffällig geraten.

 

Der Stellenwert guten Essens in Deutschland und gestiegene Lebensmittelpreise

Es kann keinen Zweifel geben, dass die Inflation bei den Lebensmitteln bestimmte gesellschaftliche Schichten hart trifft. Dennoch zählt Deutschland in Westeuropa immer noch zu den Ländern mit den niedrigsten Kosten und den geringsten prozentualen Ausgaben vom Gehalt für Lebensmittel. In weiten Teilen der Gesellschaft erlebe ich weiterhin keinerlei Priorisierung von Essen, denn hierzulande sind beispielsweise Autos, Urlaubsreisen, Handys und Sportevents vielen Zeitgenossen trotz ordentlicher finanzieller Möglichkeiten immer noch wesentlich wichtiger als eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Im Gegenteil: nicht selten werden Investitionen auf diesen Gebieten durch besonders geringe Ausgaben bei Lebensmitteln kompensiert. Insbesondere die Erhebung von zweierlei verschiedenen Steuersätzen darf als eine der Hauptquellen allen Übels angesehen werden: Lieferdienste und Fast-Food-Ketten mit Mitnahmeangeboten zahlen nicht nur weniger Steuern als klassische Restaurants, sondern produzieren auch noch mehr Müll und tragen weiterhin zur schleichenden Verschlechterung der Esskultur hierzulande bei – als ob es nicht schon genügend Personen gäbe, die sich schon jetzt gefühlt ausschließlich von Softdrinks, Tiefkühlkost und drittklassigen Fleischprodukten ernähren würden. Die gesundheitlichen Folgeschäden belasten unser Gesundheitssystem in einem ungeahnten Maße und ziehen weitaus mehr Kosten nach sich als es eine gezielte Förderung der Esskultur in diesem Lande jemals tun würde.

Allein ein gewachsenes Bewusstsein für mehr Qualität statt Quantität bei Lebensmitteln könnte schon helfen, etwas Grundlegendes zu verändern. Wo soll dieser Wandel indes herkommen? Hier ist Basisarbeit gefragt, denn kulinarische Bildung beginnt schon bei Kindern. Hier müssen Schulen und Elternhäuser aus meiner Sicht erheblich mehr leisten, wenn der heimischen Gastronomie nicht mittelfristig die Kunden ausgehen sollen. Das Mantra des großen Eckart Witzigmann passt in diesem Zusammenhang: „Essen hat nichts mit Luxus, sondern mit Geschmack zu tun. Der Gaumen muss geschult sein. Die Erziehung zum Essen muss deshalb schon in der Kindheit beginnen, damit sich echte Zuneigung entwickeln kann.“ Kochkurse für Schüler stellen für mich eine naheliegende Maßnahme dar, um hier gegenzusteuern – weshalb ich selbst ein solches Event jüngst an meiner eigenen Schule initiierte und auf keineswegs geringes Interesse stieß. Auch Eltern, die vorgeben, für ihre Kinder nur das Beste zu wollen, sollten für dieses Thema dringend sensibilisiert werden. Man fragt sich unwillkürlich, wie viele Fortschritte wir seit der 1971 im Tantris losgetretenen Revolution de facto erzielt haben.

Angesichts dieser signifikanten Rückstände gegenüber der internationalen Esskultur erscheint es nicht verwunderlich, dass die deutsche Hochküche im Ausland bislang noch nie als Trendsetter wahrgenommen wurde, aber dennoch keineswegs schlecht dasteht. Trotz des vergleichsweise geringen internationalen Interesses verbuchen wir inzwischen etwa 330 Sternerestaurants hierzulande – Tendenz steigend. Das macht doch trotz allem Hoffnung für die Zukunft, denn so viel machen wir offenbar doch nicht falsch.

 

Die Akzeptanz der Sternegastronomie und die Rolle der Politik

Gemäß meinem Empfinden sind Durchschnittslokale nach wie vor recht gut frequentiert, weil die Gäste eine solide Leistung im Allgemeinen nach wie vor honorieren und Preissteigerungen auf diesem Gebiet natürlich wesentlich geringer ausfallen als wenn ein Sternerestaurant seine Preise um denselben Prozentsatz erhöht. Der Erhalt der „gewöhnlichen“ Gastkultur wird dabei sogar recht oft als wünschenswert angesehen: so soll möglicherweise die vor allem in Süddeutschland anzutreffende Biergartenkultur in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen werden.

Mit der Hochküche freilich verhält es sich häufig hierzulande ganz anders: so sorgte im Frühjahr ein Vorschlag des Ministers für Landwirtschaft, Cem Özdemir, umgehend für einen Sturm der Entrüstung, als er anregte, in öffentlichen Kantinen einen Veggie Day einzuführen oder die Werbung von stark zuckerhaltigen Produkten einzuschränken. Was aus meiner Sicht recht vernünftig klingt und eine sinnvolle Diskussion hätte anstoßen können, wurde von anderen Kreisen als eine Bevormundung durch die Politik interpretiert und mit einem Shitstorm im Keim erstickt – ein Umstand, der viel über den Zustand unserer Esskultur aussagt. Es scheint undenkbar, dass in anderen westeuropäischen Ländern eine vergleichbare Diskussion mit derselben Schärfe geführt worden wäre. Dass es indes zu dieser Reaktion kommen würde, dürfte nur wenige gewundert haben, denn schließlich meiden Spitzenpolitiker die gehobene Gastronomie ja selbst wie die Katze das Wasser: diese gilt als abgehoben, nicht gesellschaftsfähig und dekadent. Für öffentliche Fotos von Top-Politikern macht sich bekanntlich jede Pommesbude besser, weil die symbolhafte Darstellung von Nähe zum Volk so wichtig ist. Es ist schwer vorstellbar, wie sich angesichts solcher Vorbilder etwas Grundlegendes an unserer Esskultur ändern soll.

Hierzulande gelten Sternerestaurants in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch als Tummelplatz für Reiche, die im Grunde genommen kein Mensch braucht (was übrigens auch auf SUVs zutrifft, wo es aber keine vergleichbaren Diskussionen gibt …). Insofern war es erwartbar, dass der Vorschlag des Drei-Sterne-Kochs Kevin Fehling vom Hamburger The Table vor vier Jahren nichts als Hohn und Spott ernten würde, als er Subventionen für die Hochküche anregte. Die fehlende Wertschätzung für die gehobene Gastronomie hierzulande macht so manchem Gastronomen, den ich sprechen konnte, noch viel mehr zu schaffen als alle anderen Widrigkeiten der jüngeren Vergangenheit. Die Unterschiede zum Ausland könnten auch kaum frappierender sein: in Frankreich oder Belgien sind Restaurants auch mittags unter der Woche noch rentabel, wie Vorlaufzeiten von vier Wochen bei der Reservierung beweisen. Hierzulande sind solche Zustände dagegen praktisch undenkbar.

Inzwischen sind wir sogar soweit, dass selbst gewöhnliche Gastwirte erwägen, künftig die in der Spitzengastronomie längst üblichen No-show-Gebühren für nicht eingehaltene Reservierungen zu erheben. Auch das sorgt bei vielen Gästen für Kopfschütteln, doch zeigt es nur, wie weltfremd, rücksichtslos und egoistisch der anmaßende Umgang mancher Gäste mit den Restaurants inzwischen geworden ist.

 

Die Causa Christian Jürgens

Kommen wir noch zu einem Fall, der im Frühjahr durch die Gazetten geisterte und den angeschlagenen Ruf der deutschen Hochküche weiter ramponierte. Als Ergebnis eines im Mai veröffentlichten SPIEGEL-Berichts, in welchem ehemalige Mitarbeiter dem Drei-Sterne-Koch Christian Jürgens Schikane und sexuelle Nötigung vorwarfen, wurde dem hochdekorierten, aber keineswegs unumstrittenen Chef der Stuhl vor die Tür gesetzt. In puncto Kommunikation gab sich sein Arbeitgeber, die Althoff-Gruppe, allerdings sehr schmallippig und sah wohl ihre Reputation durch diese Affäre gefährdet. Ein halbes Jahr später stellte die ermittelnde Staatanwaltschaft wegen mangelnder Beweislage die Ermittlungen zwar ein, was aber nichts daran änderte, dass bereits jede Menge Porzellan zerdeppert worden war. Vor allem entstand der Eindruck, dass ein Einzelfall, der zudem erst noch genauer untersucht werden musste, stellvertretend auf die gesamte Branche übertragen werden sollte, die in manchen Kreisen plötzlich unter Generalverdacht gestellt wurde.

Natürlich lieferte dieser Skandal (wenn es je einer war …) all jenen Vorschub, die es sowieso nicht gut mit der Hochküche meinen, um der Branche weiter zu schaden. Tatsache ist, dass die Diskussion weitgehend unsachlich geführt und von Personen befeuert wurde, die in ihrem ganzen Leben noch kein Sternerestaurant betreten haben, aber nichtsdestotrotz im Internet ihrer Profilierungssucht frönten und sich als Moralapostel aufführten. Die mit unnötiger Schärfe geführte Debatte erwies sich als weitgehend nutzlos, weil die Unschuldsvermutung in den Zeiten medialer Hetzjagden offenbar nichts mehr gilt und nur noch die grellsten Meinungen und Beiträge überhaupt noch Aufmerksamkeit erzeugen. In der heutigen schnelllebigen Zeit ebbte das Interesse an diesem Fall allerdings rasch wieder ab, nachdem es über längere Zeit nichts Neues zu vermelden gab und andere Themen das Geschehen diktierten. Stand jetzt reichten die Vorfälle, die zudem an der Grenze zur Verjährung standen, nicht aus, um dem Chef etwas nachzuweisen. Christian Jürgens plant nun die Neueröffnung eines eigenen Lokals im Tegernseer Tal in Rottach-Egern, von wo aus sein ehemaliger Arbeitgeber keinen halben Kilometer entfernt ist. Natürlich wird er im neuen Lokal unter verschärfter Beobachtung stehen, aber allein die Tatsache, dass seine Karriere durch diese Geschichte nicht vollständig ruiniert wurde, sollte ihm Auftrieb geben. Außerdem scheint es weiterhin Personal zu geben, das willens ist, unter ihm zu arbeiten, so dass man auf die weitere Entwicklung gespannt sein darf – wird es wieder aufwendige Spitzenküche oder Simpleres geben?

Dass Küchenchefs prinzipiell sehr anfällig für Vorwürfe solcher Art sind und sich kaum dagegen zur Wehr setzen können, haben auch jüngere Chefs erkannt. War die Küche früher noch so etwas wie das Heiligtum eines Restaurants, welches der Gast auf keinen Fall zu betreten hatte, sind gläserne Küchen oder gar offene Schauküchen heute extrem beliebt: der Kontakt der Köche mit den Gästen ist intensiver als je zuvor, und außerdem gestattet der Einblick in die Küche eine größere Nähe als es früher jemals vorstellbar gewesen wäre. Wer möchte, kann in solchen Lokalen dem Chef und seiner Truppe bei der Arbeit fast über die Schulter schauen oder auch mit dem Nachbarn am Tresen ins Gespräch kommen. Hier hat sich also bereits im Sinne der Transparenz einiges getan – nur haben das die allwissenden Kassandra-Rufer noch nicht mitbekommen …

 

Spekulation um Lösungsansätze

Bleibt noch die Frage, was sich in absehbarer Zukunft ändern muss, um aus der aktuellen Situation das Beste zu machen. Auch dazu gibt es einige Anregungen von meiner Seite, die vielleicht eine Überlegung wert sind.

Zunächst einmal ist es aus der Sicht des regelmäßig in solchen Lokalen einkehrenden Gastes ein bedauerlicher Umstand, dass eine große Zahl an Lokalen inzwischen an denselben Tagen geöffnet hat. Wer von Mittwoch bis Samstag auf der Suche ist, hat es derzeit nicht schwer, etwas Passendes zu finden, aber an den Tagen von Sonntag bis Dienstag sieht es dagegen vielerorts mau aus. Es leuchtet ein, dass sich kaum ein Restaurant die umsatzstärksten Tage entgehen lassen will (Freitag und Samstag), aber den fast wie eine heimliche Übereinkunft anmutenden Status quo empfinde ich durchaus als bedauerlich. Wer zum Beispiel an einem Montagnachmittag in einem Zweisterner einkehren möchte, dem bleiben gerade einmal zwei Optionen im ganzen Land. Ob es hier wohl Potential zur Veränderung gibt?

In einem Essay spekulierte Christian Bau vor etwas mehr als einem Jahr auch über die potentielle Renaissance des Mittagstischs. Das Angebot tagsüber wurde nach Einführung der genaueren Arbeitszeiterfassung im Jahre 2015 jedenfalls signifikant zurückgefahren, weil derartige Angebote fortan nur noch mit zwei Schichten umsetzbar sind. Meines Wissens gab es in Deutschland noch nie ein Sternerestaurant, das nur mittags geöffnet hatte – ein solcher Schritt würde sicherlich ein großes Wagnis darstellen, wäre aber andererseits eine echte Sensation und mitarbeiterfreundlich. Das würde unweigerlich den Verzicht auf starre Menüfolgen und ein flexibleres Denken als bisher bei der Zusammenstellung einer individuellen Speisenfolge voraussetzen, aber gelingen kann dies meiner Ansicht nach trotzdem. Gerade das Esplanade in Saarbrücken handhabt sein Angebot schon jetzt sehr flexibel und bietet seinem Publikum (das bezeichnenderweise zu einem gewissen Anteil aus Franzosen besteht) eine ganze Palette an Optionen nachmittags vom gehobenen Zwei-Gänge-Lunch bis zum großen Abendmenü – auch mittags wohlgemerkt. Dass die Branche ohnehin einem steten, aber derzeit noch rascheren als sonst empfundenen Wandel unterzogen wird, dürfte auch den Letzten nicht verborgen geblieben sein. Würde man diesen eher als Chance denn als Bürde interpretieren, kann daraus etwas Wunderbares geschehen.

 

Aussichten für 2024

Trotz einer Vielzahl an Widrigkeiten, mit denen Gastronomen zu kämpfen haben, sehe ich auch dem nächsten Jahr freudig entgegen, wissend, dass es immer noch so viele Optionen gibt, die mich reizen und die ich noch nicht von meiner Liste streichen konnte. Sollten mir die hiesigen Zustände doch gelegentlich mal zu bunt werden, dann richte ich den Fokus eben mal wieder auf Österreich, Benelux oder das Elsass, um mir frische Inspiration für meine Berichte zu holen. Gerade in diesen Regionen gibt es ein opulentes Angebot für alle Preisklassen, das jeden, der sich auch nur marginal für die Haute Cuisine interessiert, ansprechen sollte. Die Möglichkeiten sind vorhanden – man muss sie nur sehen wollen! In diesem Sinne schließe ich mit Rochefoucaulds berühmten Zitat: „Essen ist eine Notwendigkeit, Genießen eine Kunst.“

 

Ich wünsche Ihnen einen frohes und gesundes neues Jahr 2024!