Le Moissonnier Bistro*, Köln

„Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass wir ohne Euch leben können!“ (Vincent Moissonnier)

Mai 2024

Regelrechte Schockwellen gingen durch das kulinarische Rheinland, als Vincent Moissonnier, der Patron des weit über die Grenzen Westdeutschlands hinaus bekannte Le Moissonnier, im Frühjahr 2023 verkündete, dass er sein mit zwei Michelin-Sternen dekoriertes Lokal nach 35 Jahren in der Spitzengastronomie wegen Erschöpfung schließen werde. Zwar trifft es zu, dass mir mein bis dato einziger Besuch im Herbst 2015 nicht wirklich zugesagt hatte, doch zum einen entbehrte ich damals der Erfahrung von heute, und zum anderen hatte ich zu jener Zeit weder verstanden, was den Reiz des Lokals ausmacht noch inwiefern der hier praktizierte Küchenstil die Gäste und Kritiker gleichermaßen zu solchen Elogen veranlasste. Ergo ließ mich diese Nachricht keineswegs kalt: im Gegenteil war in mir der Wunsch gereift, demnächst mal wieder hier einzukehren, doch stattdessen drohte dieser nun, krachend zu scheitern. Die Botschaft des Patrons in einem online veröffentlichten Video mit obigem Zitat erwies sich allerdings als erster Mutmacher, denn in der Tat wurde nur wenige Wochen später die erste Meldung zum Glück schon dahingehend relativiert, dass diese ganz im Jugendstil (selten genug in der Spitzengastronomie!) gehaltene Kölner Institution nun doch im Spätsommer als Bistro weiter machen würde – wenn auch mit etwas einfacherer Küche und nur noch nachmittags. Ich erhielt kurz vor der Wiedereröffnung sogar eine offizielle Einladung in Form einer Presseanfrage, musste aber wegen einer anderweitigen Terminkollision schweren Herzens absagen. Folglich war der erneute Besuch dieses Frühjahr überfällig, da mich schon ein schlechtes Gewissen zu plagen drohte.

An einem recht kühlen, aber sonnigen Werktag in den Pfingstferien ist es dann endlich soweit: nach meinem Gang durch den wenig attraktiven Norden der Kölner Altstadt stehe ich nach mehr als quälend langen acht (!) Jahren wieder vor diesem – keine Übertreibung! – deutschlandweit einmaligen Lokal, das eine kulinarische Insel der Glückseligkeit darstellt, auch wenn der Fairness halber ergänzt sei, dass das einfach besternte und von mir noch nicht besuchte Astrein in derselben Straße keine 100 Meter davon entfernt liegt. Als Einzelgast konnte man mir zwar nur noch einen Platz am Tresen bieten – was mir in Wirklichkeit aber hochwillkommen ist, denn von hier aus hat man einen optimalen Überblick über das Geschehen dahinter (z.B. die Anrichte von Crevetten oder Gillardeau-Austern) und genügend Platz für Notizen. Außerdem wird in diesem Lokal kein bisschen zwischen vermögenden und normalen Gästen entschieden: wer hier aufschlägt, bekommt ganz demokratisch einen Platz zugewiesen, den man zu akzeptieren hat. Diese Maßnahme fördert die lebhafte Kommunikation zwischen den Gästen und führt (wie auch schon im Gut Lärchenhof zu Pulheim erlebt) zu einer typisch ausgelassenen, quirligen und wuseligen Atmosphäre wie sie für das Rheinland nicht typischer sein könnte. Eine junge Familie mit zwei auffallend kleinen und superb erzogenen Kindern genießt die Darbietungen dabei auf gleichermaßen ungezwungene Weise wie so mancher Prominente oder die Geschäftsleute, die hier ihre Arbeit mittags für ein lukullisches Intermezzo der gehobensten Art eine Weile ruhen lassen. Glückliche Gesichter sind hier einfach eine allgegenwärtige Erscheinung!

Auch sonst hat sich erfreulich wenig geändert: das Ambiente schien völlig unangetastet geblieben zu sein, so dass all das, was das Lokal seit jeher auszeichnete – beispielsweise Spiegel und Emailschilder – auch weiterhin bestaunt werden kann.

Die exklusive Öffnung zur Mittagszeit führt zu einer spürbaren Entlastung der langjährigen Servicemitarbeiter, die bis in die Haarspitzen motiviert zu sein scheinen und sich gerne vom Charme des Patrons Vincent Moissonnier und seiner Frau Liliane anstecken lassen. Komplettiert wird das leitende Dreigestirn von dem provenzalischen Chef Eric Menchon, der noch im Jahr der Eröffnung, nämlich 1987, anheuerte und damit bereits genauso lange dabei ist. Die Entscheidung, wie das Lokal weiterhin mit einer Verschiebung der Prioritäten am Laufen zu halten wäre, wurde vermutlich schon durch die Corona-Pandemie beeinflusst: damals erfreute sich das aus der Not geborene Außer-Haus-Angebot zur Mitnahme derart großer Beliebtheit, dass es bis heute erfolgreich avancierte und somit ein essentielles Element im Portfolio des Lokals darstellt, das einen wesentlichen Anteil am Erhalt dieser Legende hat. Im Lokal vor Ort wird inzwischen neben einem Plat du Jour kein Menü mehr, sondern ein umfangreiches Angebot à la carte zu wirklich anständigen Preisen offeriert. Dabei kehrt die Küche erkennbar zu ihren Wurzeln zurück: nach insgesamt fünfzehn überaus erfolgreichen, aber leider auch ausgesprochen kraftraubenden Jahren mit zwei Michelin-Sternen besinnt sich Eric Menchon nun auf die Klassiker seiner mediterranen, südfranzösischen Heimat und weitere etablierte kulinarische Aushängeschilder der Grande Nation. Die Frage würde nur sein, auf welchem Niveau dies geschieht, doch genau darüber erhoffte ich mir durch meinen Besuch einiges an Aufschluss. Erfreulicherweise beginnt der Besuch gleich mit dem Erscheinen des Chefs, der trotz jeder Menge anstehender Arbeit noch rasch mein Buch aus der SZ-Reihe signiert und sich die Zeit für einen kleinen Plausch nimmt. Na, dieser Besuch fängt ja schon mal gut an …

Vincent Moissonnier trägt auch weiterhin konsequent Fliege und leitet sein Etablissement nicht nur mit größter Souveränität und Gelassenheit, sondern auch mit dem ihm ureigenen und absolut unverwechselbaren Charme. So lasse ich mir von diesem Vollblutgastronom aus dem Bilderbuch nicht nur einen Prisecco Nr. 11 von Jörg Geiger (unreife Äpfel und Eichenlaub) einschenken, sondern auch die üppige Karte reichen, welche dem Gast die Auswahl alles andere als leicht macht, zumal man ja ansonsten allenthalben auf die grassierende Ein-Menü-Politik trifft, welche dem Gast vorschreibt, was er zu essen hat. Mit anderen Worten: hier verdient die Speisekarte noch ihren Namen, denn sie breitet geradezu ein Füllhorn an verlockenden Optionen aus.

Auf Beigaben wie Apéros, Amuses oder Petits fours muss man zwar verzichten, doch darüber sieht man hier gerne weg – erst recht dann, wenn gleich der erste Gang mit solcher Opulenz aufwartet. Die überaus stilecht anmutende provenzalische Fischsuppe (€ 21) könnte genauso gut in Aix-en-Provence serviert werden und überzeugt dank mediterraner Aromen auf der Basis von Tomate, Paprika sowie Artischocke durch und durch. Die schaumige und ohnehin schon opulente Suppe wird durch die Beigabe von Aioli, Emmentaler und Croûtons noch weiter veredelt, zumal auch noch Brot (in einem schwarzen Säckchen) und Butter gereicht werden. Das in jeder Hinsicht mustergültig umgesetzte und schnörkellos interpretierte Gericht kommt ohne jede Akrobatik aus, denn an Authentizität ist das Gericht nicht zu überbieten. Eric Menchon ist hier fraglos ganz bei sich und beweist höchste Meisterschaft, wenn es um die kulinarischen Ikonen seiner Heimat geht.

Auch die nächste „Hürde“ in Form von Tartare de filet de bœuf à la Parisienne (Rindertatar Pariser Art) zu € 54 meistert Monsieur Menchon ohne Probleme: gereicht mit wunderbar knusprigem Stroh von Kartoffelrösti, punktet die Darbietung vor allem mit unerhörter Transparenz. Trotz der Vielzahl an Komponenten wie Senfsaat, Kapern, Gurken, Schalotten, Artischockenchips und Wachtelei kommen alle zu ihrem Recht und sind geschmacklich deutlich wahrnehmbar – bei weitem keine Selbstverständlichkeit, denn bei weniger versierten Köchen habe ich erleben dürfen, dass ein Scheitern meist auf eine zu breiige und wenig transparente Konsistenz zurückzuführen ist. Des Meisters Gespür für Proportionen und geschmackliche Balance macht hier den Unterschied aus, zumal diese wirklich ansprechende Umsetzung eines ultra-klassischen Gerichts mit einem vorzüglichen Dressing vollendet wird, über das sich die in den Beschreibungen ansonsten detaillierte Karte allerdings ausschweigt. Ich bezweifle, dass man aus dieser Disziplin mehr herausholen kann als das hier der Fall ist! Unumschränkt großartig!

Da ahnte ich freilich noch nicht, dass der größte Höhepunkt erst noch bevorstand: zum Hauptgang fiel meine Wahl auf Koteletts vom Sisteron-Milchlamm auf Thymianjus (€ 54). Eine große Überraschung erwartete mich schon beim Auftragen, denn normalerweise darf bei einem solchen Gericht von zwei bis drei Koteletts ausgegangen werden, während es hier sage und schreibe fünf Exemplare auf den Teller schaffen! Ich komme nicht umhin, diesem Fleisch das Prädikat der uneingeschränkten Weltklasse zu attestieren: neben einer kaum für möglich gehaltenen Konsistenz, den mineralischen Noten und der verführerischen Saftigkeit fällt auch die Tatsache ins Gewicht, dass die spezifische Aromatik nicht nur vorzüglich herausgearbeitet ist, sondern die stilsichere Jus und die Petersilienkruste (die eventuell noch Noten von Rosmarin aufweist) perfekt korrespondieren. Über den Wert der eher saisonalen als archetypischen Beilagen lässt sich vielleicht streiten, da mir Erbsen, Topinambur und Spargel unter einer recht mächtigen Hollandaise etwas zu dominant erscheinen. Sei’s drum – die Zubereitung des Fleischs ist ein Geniestreich und wetteifert meines Erachtens mit den allerbesten Lammgerichten, deren Genuss mir jemals vergönnt war. Diese stammen übrigens von solch überragenden Großmeistern wie Andreas Caminada, Franck Giovannini oder Thomas Schanz – anhand dieser Namen sollte ersichtlich werden, wie großartig diese Koteletts gerieten. Ich kann nicht anders als Madame Moissonnier unmittelbar nach dem Verzehr darauf hinzuweisen, welch unfassbares Meisterwerk die Küche hier schickte. Sie lächelt nur leicht, zuckt etwas verlegen mit den Schultern und stellt dann lakonisch fest, dass „wir einfach sehr viel Glück hatten, dieses exzeptionelle Produkt zu bekommen“. Mehr Understatement geht kaum: den Geschmack dieses Lamms habe ich auch ein halbes Jahr später noch auf der Zunge. Unvergesslich!

Den süßen Abschluss bildet Tarte du jour – wie der Name schon verrät, wechselt das Programm hier täglich, wobei es sich in meinem Fall als Limettentarte (€ 10) entpuppt. Das Baiser obenauf besticht mit ausgeprägten, aber zarten Mandelnoten, und auch die darunter befindliche, luftige Limettencrème führt zu leichtem, bekömmlichem Genuss. Erneut fällt auf, dass kleine, kaum zu enträtselnde Kniffe von Profis auch bei solchen Klassikern noch zu einer spürbaren Aufwertung führen, die zwar diesmal nicht so vordergründig sind, aber dennoch den Unterschied ausmachen. Ein federleichter Ausklang eines wunderbaren Nachmittags!

Beginnen wir ausnahmsweise mit dem Fazit: das Le Moissonnier ist zurück – und wie! Obwohl man hier keinen Michelin-Stern mehr haben wollte, bekam man ihn wenige Monate nach der Neueröffnung schon wieder überreicht, so dass das Le Moissonnier Bistro derzeit Deutschlands einziges nur nachmittags geöffnetes Sternerestaurant darstellt. Verdient ist die Auszeichnung nach dieser Parade ohne jeden Zweifel, zumal Eric Menchon nun unverblümt und mit großer Könnerschaft all das demonstrieren kann, was die Basis seines Handwerks ausmacht. Dabei scheint er sich wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser zu fühlen, denn manche der hier zelebrierten Gerichte habe ich – auch wenn es bislang bei der Zahl an aussagekräftigen Vergleichen meinerseits eher überschaubar zugeht – noch nicht besser erleben dürfen. Die zweifach besternte, hochvirtuose Akrobatik gehört nun eindeutig der Vergangenheit an, doch nach solchen Performances scheint dies niemanden im Geringsten zu stören. Im Gegenteil: hier kann man einige der ikonischsten französischen Gerichte in einer Qualität erleben, die außerhalb Frankreichs in dieser Konsequenz nahezu beispiellos sein dürfte.

Wer sich einst Sorgen machte, dass die angekündigte Reduktion des Aufwands zu einer Verwässerung des Niveaus im Le Moissonnier führen könnte, der sieht sich inzwischen aufs Angenehmste getäuscht. Ja, die Stilistik wurde verändert, aber mit einer Verschlechterung geht dies keinesfalls einher: es erscheint eher so, als würde ein Konzertpianist nach Jahren mit Rachmaninoff und Chopin im Repertoire zu der vermeintlichen Einfachheit eines Wolfgang Amadeus Mozart zurückkehren – nur um dann festzustellen, dass man bei Basisrepertoire noch sehr viel einfacher scheitern kann! Eric Menchon hat sein Handwerk jedoch von der Pike auf gelernt und darf hier nach vielen überragenden Jahren endlich demonstrieren, dass die Rückkehr zu seinen kulinarischen Wurzeln keine Degradierung für ihn darstellt, sondern stattdessen eine ausgesprochen wohltuende Wirkung auf ihn zu haben scheint. Der Grand Chef blüht offenbar richtig auf, wenn er sein makelloses Handwerk präsentieren und die nach großem Genuss lechzenden Gäste mit seiner leichtfüßig-souveränen Art becircen darf. Für weitere 35 Jahre am Herd wird es zwar eher nicht mehr reichen, aber die hoffentlich noch zahlreichen, uns bevorstehenden genussvollen Jahre sollten wir unbedingt weiter genießen.

Ende der 1960er-Jahre bedauerte der Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer bekanntlich, stets nach Frankreich fahren zu müssen, um gut französisch essen zu können. Während dieser damals aber zwecks Abhilfe erst das Tantris bauen lassen musste, können heutige Gourmets aus dem Rheinland dieses Problem viel einfacher beheben, indem sie einfach hier einkehren, um eine durch und durch frankophile Stilistik zu höchst anständigen Preisen genießen zu können. Mehr Frankreich hat Köln jedenfalls nicht zu bieten!

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

Le Moissonnier
Krefelder Str. 50
50670 Köln
Tel.: 0221/729479
www.lemoissonnier.de

Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2024: –
GUSTO 2025: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: –

4-gängiges Menü: ca. € 140