„Heic laetitia invitat post balnea sanum – Freude empfange dich hier, entsteigst du gesundet dem Bade.“ (Inschrift am Kurhaus in Heiligendamm und deutsche Übersetzung)
UPDATE (August 2024)
Siebzehn Jahre ist es nun her, dass sich die mächtigsten Staatenlenker der Welt zum gigantischen G8-Gipfel in der weißen Stadt an der Ostsee trafen und über das Weltgeschehen berieten. Heute hingegen scheint sich der mondäne Badeort fast wieder zu einem Geheimtipp hin entwickelt zu haben, denn prominentere Orte wie Warnemünde oder Heringsdorf auf Usedom haben sich in der Zwischenzeit zu deutlich populären Urlaubszielen entwickelt. Im Grunde genommen bleibt das jedoch eine schwer verständliche Entwicklung, denn nicht nur das kleine Heiligendamm mit seinem mondänen Grand Hotel hat eine Menge Attraktionen wie das Kurhaus, eine Galopprennbahn oder das Schloss Hohenzollern (nicht zu verwechseln mit der namensgleichen und wesentlich bekannteren Burg auf der Schwäbischen Alb!) zu bieten. Auch Bad Doberan, zu welchem Heiligendamm heute gehört, verfügt über eines der bedeutendsten Münster von ganz Norddeutschland und verbindet Heiligendamm sowie Kühlungsborn mit der Stadt durch die Schmalspurbahn Molli. Zugegebenermaßen litt die Infrastruktur der Region zu DDR-Zeiten so sehr, dass noch immer ein gewisser Nachholbedarf erkennbar ist, doch gerade eine Anreise mit der reizenden Schmalspurbahn hat etwas ganz Zauberhaftes an sich. Das mondäne Luxushotel ist fraglos die Trumpfkarte der Region schlechthin und offeriert wenig überraschend auch eine gehobene Küche. Zur Zeit des Gipfeltreffens kochte hier noch Tillmann Hahn groß auf, den ich glücklicherweise jüngst auch kennenlernen durfte, doch schon im Jahr darauf verließ der damalige Chef das Restaurant in Richtung der Yachthafenresidenz Hohe Düne in Warnemünde. Auf dem Posten des Chefkochs in Heiligendamm folgte ihm Ronny Siewert nach, der hier seither das Sagen hat und somit schon seit sage und schreibe sechzehn Jahren hier groß aufkocht.
Fans seiner Küche wissen längst, dass hier ein durch und durch klassisch geprägter Küchenstil gepflegt wird, der aber keinesfalls angestaubt wirkt. Nicht wenige wundern sich schon lange über den ausbleibenden zweiten Stern – ein Eindruck, der sich auch mir schon an meinem ersten Besuch vor knapp fünf Jahren aufdrängte. Im Sinne der Erlangung des zweiten Sterns wurde in der Zwischenzeit die Küche ganz erheblich um- und ausgebaut, so dass dem engagierten Team nun erheblich mehr Optionen zur Verfügung stehen. Untermauert werden die Ambitionen des Chefs auch durch die Tatsache, dass für dieses Jahr gleich zwei Four-Hands-Cooking-Events an Land gezogen werden konnten – und diese haben es ganz schön in sich.
Als erster Gast trat hier im Juli kein Geringerer als Thomas Bühner an, der seit der Schließung seines Dreisterners La Vie in Osnabrück im Jahre 2018 öffentlich nicht mehr als Koch selbst in Erscheinung getreten war, sondern eher als Berater und Entrepreneur auf sich aufmerksam machte. Das zweite Kaliber kann sich ebenso sehen lassen: inspiriert von einem privaten Besuch im Frühjahr, sagte Siewerts enger Freund Christoph Rainer aus dem IKIGAI in Elmau seine Teilnahme an einem weiteren Event dieser Art am Samstag, den 7. September 2024, zu. Für das in ein Arrangement eingebettete Event sind sogar noch Plätze verfügbar, weshalb dies gerade betuchte Gourmets aus dem Norden, welche die lange Anreise in die Alpen scheuen, ansprechen sollte. Nach dem Erfolg des ersten Events verspricht auch das zweite ein absoluter Volltreffer zu werden, denn Christoph Rainer ist für mich schon lange der heißeste Anwärter auf den nächsten Dreisterner in Deutschland …
Da ich ohnehin schon seit langer Zeit endlich mal die besten Adressen der Region kennenlernen wollte, bot sich eine erneute Einkehr ins Friedrich Franz natürlich auch ganz ohne Event an, da die andere mir noch unbekannte Location, nämlich Der Butt in Warnemünde, nicht sehr weit entfernt von Heiligendamm liegt. Außerdem hatte ich nicht nur die Küche, sondern auch den Service unter dem langjährigen Maître Norman Rex in bester Erinnerung, weshalb die Vorfreude bei meinem zweiten Besuch übrigens nicht nur meinerseits, sondern auch seitens der Gastgeber spürbar war. Ich sehe mich umgehend in meiner Ahnung bestätigt, denn nach dem umgewohnt warmherzigen und ziemlich wortreichen Empfang werde ich wieder an denselben Platz wie damals geleitet – ich wusste sogar noch das Datum von damals ohne nachzuschauen! Rein äußerlich hat sich ansonsten nichts geändert: immer noch punktet das Lokal mit seinem unverwechselbar maritimen Flair in hellen Farben. Hier, im linken Seitenflügel des Kurhauses, wird noch eine selten gewordene Tischkultur mit Porzellan, Kerzen, Silberbesteck, Leintuch und hohen Stuckdecken zelebriert, die von den Gästen wohl auch so erwartet wird. Diese trudeln auch unter der Woche durchaus zahlreich ein, so dass eine recht ausgelassene Stimmung an diesem Abend herrscht.
Leider hat man sich auch hier inzwischen dem Trend der Ein-Menü-Politik angeschlossen, doch wenigstens steht dafür das Signature Dish des Hauses, welches es schon damals auf meine Menüfolge des Jahres 2019 schaffte, stets auf der Karte. Dem Gast steht dabei zur Auswahl, ob er das sechsgängige Menü zu € 270 in Gänze erleben oder die Darbietung auf bis zu vier Gänge reduzieren möchte. Letztere Option kommt angesichts der weiten Anreise für mich selbstredend nicht infrage, weshalb der Abend nach den Einstimmungen dankenswerterweise mit dem schon erwähnten Signature Dish beginnen wird.
Die ersten Häppchen des Abends bestehen aus einem Kartoffelbällchen mit Matjes (vor dem Blumengesteck), einem Rote-Bete-Macaron mit Räucheraalcrème und Balsamico sowie Ostseelachs auf einer Garnitur von Kopfsalat – eine erste, eher noch harmlose Kostprobe des Könnens der Küche, aber durchaus nicht ohne Charme. Auch dem fast zeitgleich gereichten Sauerteigbrot mit Nussbutter als Aufstrich misst man hier offenbar keine allzu besondere Bedeutung bei, während hingegen der alkoholfreie Gin Tonic zu diesem warmen Sommerabend perfekt passt.
Deutlich filigraner und anspruchsvoller wird es beim Amuse, welches eine für klassische Verhältnisse doch recht kühne Optik und Kombination von Produkten aufweist: unter der Garnitur aus eingelegtem Kraut aller Couleur befindet sich eine Gazpachosphäre, die nach dem Anstechen deutliche Noten von Tomate und etwas weniger präsente Aromen von Paprika erkennen lässt. Spätestens mit dem begleitenden Oliveneis bekommt das Gericht eine typisch mediterrane und durchaus spannungsgeladene Note, wobei die Intensität der Aromen insgesamt eher elegant und vorsichtig als zupackend gehalten ist – dennoch ein recht erstaunlicher Beitrag, den ich (zumal an der Ostsee) in dieser Form so nicht unbedingt erwartet hätte.
Dann ist es soweit: mit der ikonischen Trilogie vom Kaluga Kaviar kommt der unantastbare Dauerbrenner des Hauses auf den Teller. Erwartbarerweise hat sich gegenüber der Darbietung vor fünf Jahren nichts geändert: im Döschen befindet sich nicht nur Kaviar, aber unter der durchaus üppigen Schicht obenauf freut man sich auch über Rindertatar bester Konsistenz mit Schalottencrème. Das gläserne Ei beherbergt Kartoffel-Nussbutterpurée und Sauerrahm samt Kaviarnocke, während zur rechten Ostseeaal mit Kaviar in einem Meerrettichespuma glänzen darf. Absoluten Klassikerstatus beansprucht diese Trilogie vollkommen zurecht, denn dank eines erfreulich fettarmen Aals oder eines aromensatten Tatars wird dieses ohnehin schon grandiose Gericht auch in allen Details sorgsam abgerundet. Nicht verpassen, denn ohne diese Visitenkarte wäre ein Besuch hier einfach nicht vollständig!
Beim nächsten klassischen Produkt, der Foie gras, bewegt sich Mittvierziger Ronny Siewert ebenfalls am Puls der Zeit. Das Eis im begleitenden Schälchen auf einem animierend säuerlichen Holunderblütensüppchen wird von erdigen Noten wie frittiertem Topinambur und australischem Wintertrüffel sowie etwas Meringue begleitet, während es auf dem Hauptteller mit Mousse und Terrine klassischer, aber keinesfalls vorhersehbar zugeht. Die qualitativ hochwertige und handwerklich sicher umgesetzte Terrine imponiert mit einer Einlage von Trüffeln, während die Mousse auf einer eingedickten Pilzbouillon ruht. Begleitet wird das Ganze eher herkömmlich mit Haselnüssen, essbaren Blüten und Brioche, aber ich denke, der Spagat zwischen mehr Wagemut beim Eis einerseits und sicherem Konservativismus bei der Terrine andererseits, um es der Mehrzahl der Gäste recht zu machen, gelingt hier ganz ordentlich: wo es zu bewährten und bekannten Konstellationen kommt, schafft dafür eine durchaus überraschende Temperierung innerhalb des Gerichts Abhilfe gegen etwaige, aufkommende Langeweile. Ausgezeichnet!
Helgoländer Hummer ist meiner Wahrnehmung nach inzwischen ein selten gewordenes Produkt und wird hier noch seltener im Caesar Style begleitet. Qualität und Garstufe können angesichts des knackigen Fleischs mit Fug und Recht als optimal bezeichnet werden, doch die kühne Entourage wertet das Gericht noch spürbar weiter auf: als Tatar wird der Hummer nämlich auch zur Farce für das Raviolo, während eine süßes Krustentier-Sablé mit Strandkräutern aus frittierten Parmesanchips als Hülle nicht nur eine logische Brücke zur Caesar-Salatgarnitur schlägt, sondern eine kontrastierende Note ins Spiel bringt. Die begleitende Krustentiernage ist handwerklich einwandfrei, doch spätestens mit dem grandiosen Einfall der wahrlich exzellenten Orangenvinaigrette bekommt das Gericht einen Hauch von genialer Exotik. Die fruchtbetonte, leichte Säure steht dem auch optisch vorzüglich gestalteten Gericht wunderbar zu Gesicht und rundet ein echtes Meisterwerk würdig ab. Fraglos ganz hervorragend!
Mediterran interpretierter Loup de mer stellt per se natürlich nichts Neues dar und droht damit zum potentiellen langweiligsten Gericht zu werden. Doch auch hier weiß Ronny Siewert Abhilfe: zum einen sind die typischen Begleiter wie Anitpasticrème, Sauce rouille, Muschel und Calamaretti sowie Fenchel handwerklich so makellos in Szene gesetzt, dass ein aufmerksamer Verzehr dem Gast immer noch reichlich Dividenden einbringt und dem Fisch trotzdem nicht die Schau gestohlen wird. Mit dem Vanilleessig bekommt der Teller zudem doch noch einen eigenen Anstrich à la Siewert, welcher der Gemüsenote des Gangs durchaus schmeichelt. Optisch wandelt der Gang am Rande der Überfrachtung, doch weiß die Küche offenbar um diese Gefahr und erreicht ein trotz allem erstaunliches Maß an Transparenz. Gebettet ist die Kreation zudem auf einer Bouillabaisse-Safran-Velouté, die nichts zu wünschen übrig lässt, vorzüglich gelingt und für den letzten Feinschliff in einem erneut großartigen Gang sorgt.
Das Hauptgericht gelangt sogar unter einer Cloche an den Platz des Gastes! An dem optisch deutlich reduzierter auftretenden Hauptgang überrascht vor allem die schlanke Aromatik des Garimori Iberico Pluma Bellota: wenig Deftigkeit und viel Mineralität – das muss man auch erstmal so hinbekommen. Weiterhin durchdekliniert wird das Fleisch auch als Backen-Terrine und BBQ-Rillette, was zu einem geschickten Spiel mit Intensitäten führt. Der Auberginen-Espuma tritt dabei deutlich präsenter als die Spitzpaprikamarmelade auf, doch nicht unterschlagen möchte ich auch die schlanke Mangojus, die sich homogen einfügt. Mag sein, dass dieser Gang nicht dasselbe Maß an Faszination in mir wie die beiden Vorgänger weckte – zumal es der zweite mediterrane Gang ensuite war – aber grundsätzlich gab es nichts daran auszusetzen. Lediglich im Hinblick auf die Dramaturgie hätte mir ein Gericht mit mehr Heimatkolorit wohl eher zugesagt.
Zum Pré-Dessert ein Wort vorweg: die schräg balancierende Baiserscheibe im Bild ist kein gewagter Einfall der Küche, sondern dem Umstand geschuldet, dass das eigentlich waagrecht platzierte Detail genau im Moment des Auftragens am Platz nachgab und so fast schon unfreiwillig für einen Hingucker sorgte, zumal die dünne Scheibe in dieser Position bis zum Verzehr vollends ausharrte!
Andernfalls hätte die Baiserscheibe aus Himbeer zunächst das Sauerkleesorbet, den Cheesecake darunter und das Himbeersüppchen, in dem er badet, verdeckt. Ich kann mich täuschen, glaube aber zu meiner Verblüffung auch Kiwi in dem Chessecake auszumachen – jedenfalls würde es der grundsätzlichen Idee, ein Spannungsfeld zwischen der herben Süße und der markigen Säure des Sauerkleesorbets zu kreieren, nicht schaden. Mit diesem Einfall von klassischen Proportionen gelingt es der Küche, überraschende Kontraste unter einen Hut zu bringen und so einen kurzweiligen Übergang zum eigentlichen Dessert zu schaffen. Beachtlich!
Etwas verdutzt war ich beim Dessert schon bei der Ankündigung, denn zum Zeitpunkt meines Besuchs schien mir die Saison für Erdbeeren eigentlich schon verstrichen zu sein. Ich wäre auch nicht überrascht gewesen, wenn sich das, was so profan und vertraut als Dessert von der Erdbeere mit weißer Original-Beans-Schokolade und Basilikum annonciert wird, als öde und uninspirierte Kost erwiesen hätte, denn schon allzu oft habe ich genau diese Konstellation als ideenlose Ansammlung von Banalitäten erleben dürfen. Der vorliegende Beitrag erweist sich jedoch nicht nur als überraschend aromenstark, sondern auch als der vielleicht größte Hingucker des Abends. Wie die Küche das geschafft hat? Nun, zum einen breitet sie ein wahres Füllhorn an kreativen, doch stets zweckdienlichen Texturen über dem Teller aus: so wird beispielsweise das Basilikum als Blätter, Sphäre und Hülle für die Ganache von weißer Schokolade interpretiert. Bei den Erdbeeren selbst geht es noch ausgelassener zu, denn die Spirale, die Schäumchen, die Früchte, das geeiste Crumble und die zentral versteckte Crème zeigen das geschmackliche Potential der Beere souverän auf. Außerdem wurde die Erdbeervinaigrette heimlich mit zwei Tropfen Essig belebend aufgewertet und wird damit wohl kaum gedankenlos verzehrt. Zum anderen kontrastiert das Schälchen à part, indem es unter der Basilikumblume Eis und Erdbeeren in denkbarer Schlichtheit präsentiert. Was die Pâtisserie somit aus der höchst ökonomischen Zahl von gerade einmal drei erkennbaren Produkten zaubert, hat absolut Stil und Klasse – definitiv eines der besten Desserts des Jahres!
Die Petits fours habe ich aus welchem Grund auch immer vergessen abzulichten, weshalb sie zumindest verbal an dieser Stelle nachgereicht seien: eine Yuzu-Praline mit essbarem Papier aus Zucker, eine Praline mit Chessecake-Füllung und das Highlight – ein Macaron von Lavendel und Earl Grey – halten das Niveau bis zum Schluss angemessen hoch.
Ich muss nicht lange um den heißen Brei herumreden, dass sich der Ausflug in die weiße Stadt wieder gelohnt hat: die Küche von Ronny Siewert ruht ganz in sich selbst und setzt meist auf bewährte Produkte der Hochküche in zeitgemäßen Inszenierungen. Dank eines motivierten Teams und verlässlichen Handwerks sind hier Ausrutscher die absolute Maßnahme, so dass eine mehr oder weniger konstant gleichbleibende Qualität garantiert wird. Vielleicht möchte man der Küche hin und wieder noch zu etwas mehr Mut oder Kraft bei den Gerichten raten, doch fußen diese Empfehlungen eher auf persönlichen Vorlieben als auf objektiven Schwächen bei den Gerichten. Zählt man seine Zeit im Rostocker Chezann mit, bringt Ronny Siewert die Gelassenheit und Routine von inzwischen gut zwanzig Jahren Berufserfahrung in leitender Funktion mit – was man seinen gereiften Gerichten auch deutlich anmerkt. Bedenkt man dann noch, dass er von drei der größten Lehrmeister der Klassik, die es hierzulande je gegeben hat, geschult wurde, so verwundert die solide klassische Ausrichtung nicht wirklich, denn wer kann schon von sich behaupten, von Heinz Winkler, Dieter Müller und Helmut Thieltges geschult worden zu sein? Freilich ist es nicht ganz einfach, das Beste von allen dreien in einer Person miteinander zu vereinen, doch allein im Hummergang blitzten die Referenzen an alle drei Lehrmeister hinreißend auf: die Qualität der Orangenvinaigrette erinnerte mich an Heinz Winkler, das Qualitätsbewusstsein an Helmut Thieltges und der unnachahmliche Sinn für Harmonie und Leichtigkeit an Dieter Müller. Freilich ist Ronny Siewert dabei weit mehr als ein einfallsloser Epigone, denn eigene Ideen bringt er doch reichlich mit ein – selbst wenn sie tendenziell eher vorsichtig wirken. Bei all dem Erreichten ist der Chef dabei zudem erfreulich geerdet geblieben und zeigt sich als absolut umgänglicher und kommunikativer Mensch, mit dem ich mich nach dem Mahl allzu gerne für eine gute halbe Stunde ausführlich austausche und bei dieser Gelegenheit auch in die Küche eingeladen werde. Dabei erfahre ich auch noch von der einen oder anderen Ambition sowohl der Küche als auch des Hotels und kann hiermit erfreut verkünden, dass uns noch weitere großartige (und vielleicht sogar noch bessere) Erlebnisse in Zukunft bevorstehen. Auf jeden Fall soll jetzt endlich der langersehnte (und vollkommen verdiente) zweite Stern her!
Im Service merkt man Norman Rex die Professionalität und Erfahrung zu jedem Zeitpunkt an: die Fähigkeit, immer den richtigen Ton zu treffen und auf die momentane Befindlichkeit des Gastes angemessen einzugehen, beherrschen in seiner Zunft nur wenige so souverän wie er. Seine aufmerksame Brigade weiß auch jederzeit, was zu tun ist und wirkt hochkonzentriert. Die Weinempfehlungen finden am Nebentisch zudem großen Anklang, so dass einem gelungenen Abend auch hier nichts im Wege steht.
In Sachen Preisgestaltung erweisen sich das Menü und die begleitenden Getränke zwar als nicht ganz billig, aber gespart wird bei den hochpreisigen Luxusprodukten jedenfalls nicht. Außerdem rechtfertigen die mondäne Umgebung und das aristokratische Ambiente die Investition zu jeder Zeit. Viele Gäste wissen einfach, was sie an Ronny Siewert haben und kehren deshalb regelmäßig hier ein – was ich fraglos auch öfters tun würde, wenn die Ostsee nur nicht so weit weg wäre …
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Friedrich Franz
Professer-Doktor-Vogel-Straße 16
18209 Bad Doberan
Tel.: 038203/7406210
www.grandhotel-heiligendamm.de/kulinarik/gourmet-restaurant-friedrich-franz/
Guide Michelin 2024: *
Gault&Millau 2024: 3+ Toques
GUSTO 2024: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3,5 F
6-gängiges Menü: € 270
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„Wahrer Luxus ist nicht laut, schreit nicht – wahrer Luxus flüstert.“ (Carsten K. Rath)
November 2019
Spätestens seit dem G8-Gipfel, der hier im Jahre 2007 stattfand, ist Heiligendamm – die weiße Stadt am Meer – einem internationalen Publikum ein Begriff. Diese Perle der Ostsee setzt sich nur aus ganz wenigen Gebäuden zusammen, und doch ist dies eine der fürnehmsten Adressen in Mecklenburg-Vorpommern. Großen Anteil daran haben das Luxushotel, das Kurhaus und das darin befindliche Gourmetrestaurant Friedrich Franz, das seit 2008 von Ronny Siewert geleitet wird. Der unter anderem bei Heinz Winkler, Dieter Müller und Helmut Thieltges ausgebildete Chef kocht erwartungsgemäß einen klassisch geprägten Stil, denn zum einen passt dies zum edlen Ambiente ohnehin besser als moderne Küche und zum anderen hätte man angesichts dieser Lehrmeister, die allesamt Verfechter konservativer Tugenden sind, auch kaum etwas anderes erwartet.
Das feudale Gourmetrestaurant mit Blick auf die Ostsee befindet sich im Seitenflügel des Kurhauses und ist in lichten Farben mit durchaus maritimen Motiven eingerichtet. Übrigens wird auch im Haupttrakt des Kurhauses überdurchschnittlich gut gekocht – ein auffallend junges Publikum sorgt an diesem regnerischen Abend für ein praktisch volles Haus. Zurück zum Flaggschiff: eine junge Servicedame geleitet mich zu meinem Platz, wo sich Serviceleiter Norman Rex (der längst zum Inventar des Hauses gehört) ohne Umschweife meiner Person in seiner unvergleichlichen Art annimmt. Mit ganz persönlichem Charme und wohldosiertem Humor schafft der Maître sofort eine Wohlfühlatmosphäre wie ich sie noch selten erleben durfte. Die folgenden Ausführungen zum Essen sind leider etwas lückenhaft, da ich meine Aufzeichnungen dieses Abends verlegt habe und daher teils auf Bruchstücke meiner Erinnerung angewiesen bin.
Die Speisekarte offeriert zwei Menüs zum identischen Preis von € 169, wobei allerdings das eine („Unsere Klassiker“) nur vier Gänge und das andere („Friedrich Franz“) sechs Gänge aufweist. Beim Betrachten der Zutaten wird der Grund allerdings schnell deutlich – dazu gleich noch mehr. Nach einem alkoholfreien Traubensecco und einer qualitativ überdurchschnittlichen Brotsorte entscheide ich mich trotzdem für das viergängige Klassiker-Menü, da ich vom ersten Gang aus diversen Quellen bereits Wunderbares vernommen hatte.
Bevor es soweit ist, tischt man drei ansprechende Amuses mit für die Ostsee-Region durchaus typischen Zutaten wie Kartoffel, Aal und Sanddorn auf. Details sind wie gesagt verloren, doch in Summe war dies ein mehr als ansprechender Einstieg, der noch von einem kalten Gruß aus der Küche getoppt wird. Auf einer Sanddorncrème war neben etwas Ceta-Kaviar noch ein (unbestimmtes) Eis platziert, während ein würziger Sud mit Noten von Chili und Essig der Kreation einen scharfen Schub verlieh, der dem Gericht absolut gut tat. Sorry, dass die Details fehlen – es soll nicht wieder vorkommen!
Der offizielle Einstieg ins Menü erfolgt mit einem Klassiker des Hauses: Kaviar Trilogie. Einmal kombiniert die Küche Rindertatar und Schalottencrème mit einer dicken Schicht Kaviar obenauf. Variante zwei präsentiert den Kaviar im Verbund mit lauwarm geräuchertem Ostsee-Aal und Meerrettich, während Kartoffel-Nussbutter-Püree und Sauerrahm eine eher klassische Begleitung im gläsernen Ei darstellen. Dass es dieses Gericht in meine Menüfolge des Jahres 2019 schaffte, ist nicht weiter verwunderlich: die sorgfältige Dosierung des Kaviars sowie die jodigen Noten harmonieren einfach perfekt mit den Kombinationen. Viel dekadenter geht es kaum, doch die Kaviar-Qualität der Firma Atticus aus Sachsen-Anhalt rechtfertigt so ein Gericht allemal. Dieses Gericht ist „old school“, aber einfach grandios! Dieser Gang hätte übrigens à la carte € 95 gekostet, was den Preisunterschied bei den beiden Menüs schnell erklärt. Wer nach Heiligendamm kommt, kann dieses Gericht meines Wissens immer bekommen, da es seit 2008 ununterbrochen auf der Karte steht. Nicht versäumen!
Gebratene Gänseleber mit Crème-Eis, Walnusscrunch, Gewürzananas in Teriyaki und Apfel-Essig-Jus ist eine eher süßliche Begleitung der klassischen Delikatesse. Das Kalkül geht allerdings auf, denn das Eis auf dem Crunch ist von entwaffnender Leichtigkeit, die dem recht massigen Hauptdarsteller einen schönen Kontrapunkt zur Seite stellt. Doch auch so macht das souveräne Handwerk gehörigen Eindruck, zumal die asiatischen Akzente eine zu aufdringliche Süße ohnehin vermeiden. Wäre die Leber nicht gebraten gewesen, dann hätte dieser Gang zu schwer geraten können – so aber steht unterm Strich ein gelungenes Gericht, das vielleicht nicht sonderlich überraschend gerät, aber dennoch mit wohltuend elegantem Geschmack zu punkten vermag.
Nach einem erfrischenden Waldbeerensorbet …
… geht es mit dem von mir mit Spannung erwarteten Hauptgericht weiter: Iberico-Schwein, Tomatengel, schwarzer Knoblauch, Lauch und Chorizo-Jus klingt angesichts des eher deftigen Hauptdarstellers zunächst nach einem Wagnis. Lackierter Nacken und gebackenes Kinn vom Schwein (mit einem Klecks Tomatengel obenauf) erweisen sich allerdings als zwei originelle und durchaus veredelnde Varianten, die mit wenig Begleitung auf dem Teller (Jus und eine ganz dünne Stange Lauch) auskommen – sehr apart dagegen das zusätzliche Schälchen mit zwei kleinen Scheiben Schweinefleisch auf Kartoffelpüree und Jus. Wie die Küche das Rustikale an diesen Produkten in elegante Hochküche umwandelt, hat einfach Stil. Superb!
Ein Pré-Dessert rund um Apfel in den unterschiedlichsten Konsistenzen und Texturen (Eis, Mousse, Cidre und Schnitze) wird mit einem Schuss Limette begleitet und überzeugt mit animierender, säuerlicher Frische.
Deutlich intensiver gerät das eigentliche Dessert von der Birne mit Weichweizengrieß, Thymian und weißer Schokolade. Die in mehreren Lagen aufgeschichtete Kreation offeriert eine kaum überschaubare Fülle unterschiedlichster Techniken, was man aus Birne so alles machen kann (zum Beispiel Eis, Crumble, Gel – um nur ein paar zu nennen). Überraschend an diesem Dessert ist die aromatische Dichte, denn so viele Einfälle auf derart geringem Raum unterzubringen, erfordert große Meisterschaft. Die Pâtisserie beherrscht ihr Metier allerdings gekonnt, denn dieses Dessert war definitiv eines der stärkeren in diesem Jahr. Da passt es auch ins Bild, dass die drei Petits fours (Vanille-Macaron, Fruchtgummi und süßes Mini-Taco) das Niveau bis zum Schluss hoch hielten.
Der bereits eingangs gelobte Norman Rex hatte maßgeblichen Anteil an diesem gelungenen Abend: seine aufmerksame und sehr persönliche Art ist so hinreißend, dass sich viele andere Restaurantleiter gerne mal davon eine Scheibe abschneiden dürften. Nach ausführlicheren Gesprächen lieh er mir sogar nach vollbrachtem Mahl auch noch seine Zutrittsberechtigung für die Seebrücke (die sonst nur Hotelgästen vorbehalten ist); außerdem erwies sich die vorgeschlagene Getränkebegleitung stets als so was von passend zu jedem Gang. Die von ihm geleitete Servicetruppe verrichtete ebenfalls ausgezeichnete Arbeit den ganzen Abend lang. Als Krönung dieses kleinen Service-Wunders nahm sich auch Chefkoch Ronny Siewert bestimmt fast zehn Minuten Zeit für mich, um ein bisschen über die Geschichte des Lokals und befreundete Kollegen (wie zum Beispiel Christoph Rainer vom Luce d’Oro in Elmau) zu plaudern. Doch damit nicht genug: ich bekam von ihm gar eine handsignierte Speisekarte mit Widmung überreicht. Wenn man Vertretern der kochenden Zunft oft eine gewisse Unnahbarkeit oder gar Überheblichkeit nachsagt, dann kann Herr Siewert damit auf keinen Fall gemeint sein!
Bleibt noch die Bewertung der Küchenleistung selbst: der Gault&Millau vergibt 18 Punkte, während sich der Guide Michelin (ein Stern), der GUSTO (8 Pfannen) und der FEINSCHMECKER (3 F) auffallend zurückhalten. Aus meiner Sicht erscheint diese Bescheidenheit vollkommen unverständlich, denn selten habe ich auf klarerem Zwei-Sterne-Niveau gegessen. Was der klassisch geprägten Küche vielleicht ein wenig an Wagemut fehlt, macht sie durch souveränes Handwerk, tolle Optik und tiefgründige Gerichte von beglückender Langzeitwirkung wieder wett. Aufspielen muss sich Ronny Siewert mit seiner Stilistik zu keiner Zeit, denn die makellose Qualität seiner Produkte und die perfekte Balance der Gerichte machen aufdringliches Beiwerk und knallige Effekte vollkommen entbehrlich.
Unter den Restaurants mit einem Stern war dies mit Sicherheit der überzeugendste Besuch des gesamten Jahres. Einen weiteren Besuch hier kann ich kaum erwarten – kein Wunder, dass die Ostsee schon jetzt auf meinen Wunschreisezielen für das Jahr 2020 steht! Was hier im Friedrich Franz entstanden ist, trägt definitiv Züge eines kleinen Gesamtkunstwerks, das meines Erachtens eine insgesamt höhere Anerkennung durch die Profi-Guides längst verdient hätte. Der einzige Vorteil dieser Geringschätzung besteht darin, dass es für die Gäste leichter wird, einen Platz zu ergattern …
In diesem Sinne: nichts wie hin!