schanz***, Piesport (UPDATE)

„Kein Künstler ist während der ganzen vierundzwanzig Stunden seines täglichen Tages ununterbrochen Künstler; alles Wesentliche, alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration.“ (Stefan Zweig)

UPDATE (November 2023)

Piesport an der Mosel mit seinen kaum mehr als 2.000 Einwohnern würde schwerlich mehr Beachtung finden als jedes andere Weindörfchen entlang dem zauberhaften Flusstal, wenn sich hier nicht praktisch binnen einer Dekade eine unvergleichliche Aschenputtel-Geschichte zugetragen hätte. Die Rede ist natürlich von Thomas Schanz‘ Restaurant schanz, das seit 2022 mit drei Michelin-Sternen dekoriert und hauptsächlich dafür verantwortlich ist, dass der winzige Ort inzwischen von internationalen Gästen frequentiert wird. Nach abgeschlossener Ausbildung bei Klaus Erfort sowie Helmut Thieltges und der Rückkehr zum schmucken elterlichen Betrieb samt angeschlossenem Hotel (das inzwischen zwar nicht in puncto Größe, aber dafür in Sachen Ausstattung und Komfort deutlich zugelegt hat) gelang es Thomas Schanz in einem Zeitraum von zehn Jahren, sein Lokal von einem nicht weiter beachteten Einsterner zu einer Weltklasseadresse zu transformieren. Kam die Auszeichnung durch den roten Gourmetführer damals für einige noch überraschend, so zweifelt heute praktisch keiner mehr die Rechtfertigung dafür an – zu kreativ und auch konstant waren die Leistungen der letzten Jahre, dass man auch nur im Entferntesten mit einer Enttäuschung hätte rechnen müssen.

Vor genau diesem Hintergrund reise ich erneut an (und stelle erst später fest, dass mein letzter Besuch auf den Tag genau ein Jahr her war) und freue mich schon lange im Voraus, einmal mehr die jüngste Entwicklung verfolgen zu können. Die Speisekarte wechselt hier übrigens nicht so häufig wie anderswo, aber dank der anhaltenden Nachfrage ist es inzwischen ohnehin sehr schwierig geworden, einen Tisch ohne großen Vorlauf zu bekommen, weshalb stetige Veränderungen angesichts ständig wechselnder Gäste gar nicht notwendig erscheinen. Im Gegenteil: man findet hier auf der Karte inzwischen einige ikonische Gerichte, die man nicht mehr missen möchte und fast schon zum Signature Dish auserkoren wurden. Dazu passt auch, dass das Intérieur des Lokals vor einiger Zeit nochmals reduziert wurde und heute mit urban anmutendem Charme punktet: jedenfalls ist das von Beige- und Ockertönen dominierte Design so weit wie nur irgend denkbar von der krachledernen Moselromantik austauschbarer Weinstuben mit mehr als mittelmäßigem Essen entfernt.

An diesem tristen, nasskalten und verregneten Novembertag kann man sich nach der nebligen Strecke durch den Hunsrück sowieso kaum etwas Schöneres vorstellen als hier einzukehren. Nach dem gewohnt einnehmenden Empfang geleitet man mich zu meinem ausladenden Tisch und serviert zu einem Crodino Soda die ersten Apéros, die überraschenderweise relativ maritim geprägt sind, weisen doch alle drei Beiträge Produkte aus dem Wasser auf: das Cannelono von Toro des Thunfischs ist mit Forellenkaviar und Blumenkohlcrème sehr ansprechend und edel gefüllt. Das Teignestkissen in der Mitte ist nicht nur mit geriebenem Périgord-Trüffel getoppt, sondern auch mit confiertem Wachtelei und Räucheraal gefüllt, während das fragil anmutende Crostino von Garnele zur rechten Seite nicht nur mit Lardo und Melone fein abgeschmeckt wurde, sondern gegenüber dem Vorjahr für meine Begriffe dank intensiveren Geschmacks nochmals spürbar verbessert wurde. Gerade in so einem verschlafenen Dörfchen würde man schwerlich eine solch kosmopolitisch anmutende Küche erwarten, doch erweist sich Thomas Schanz zweifellos als ein Koch, welcher der Regionalküche nicht allzu viel abgewinnen kann und seinen Stil lieber auf ein solide französisches Fundament bettet.

Die wie immer weit überdurchschnittliche Brotauswahl, bestehend unter anderem aus Laugenwecken, Milchbrot, Sauerteigbrot und Baguette, reicht man hier zusammen mit einer Parade von Tomatenbutter, Salzbutter, Fleur de Sel und Traubenkernöl. Zwar kehren wohl nur die wenigsten Gäste wegen dieser Selektion ein, doch sehen lassen kann sie sich allemal: jedenfalls stellt sie ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Mosaiksteinchen in dem Gesamtkunstwerk dar, das Thomas Schanz hier kreiert hat.

Stammgäste wissen natürlich längst, dass eine Stippvisite ohne das nächste Amuse einfach unvollständig wäre, weshalb das Trüffelei mit gestocktem Eigelb und Trüffelschaum hier niemals fehlt und zu einem festen Ritual geworden ist. Diese Präsentationsform, die beispielsweise auch bei Klaus Erfort oder Silio del Fabro öfters anzutreffen ist, scheint sich gerade im Südwesten der Republik besonderer Beliebtheit zu erfreuen, da sie trotz des begrenzten Raums sehr variable, klassische Füllungen zulässt und es Kennern gestattet, jede Variante mit Leichtigkeit einem bestimmten Chef zuzuordnen. Thomas Schanz‘ Auslegung ist eine besonders süffige und doch leichte Interpretation, welche die erdigen Trüffelnoten charmant betont und dabei den Magen nicht belastet. Dennoch wäre ich nicht überrascht, wenn in der streng geheimen Rezeptur eine dezente alkoholische Komponente wie etwa Sherry vorkäme – so elegant und aristokratisch wirkt der Feinschliff dieser Ikone inzwischen.

Wie seit vielen Jahren zu beobachten präsentiert Thomas Schanz jedoch den ersten echten Knaller mit dem Amuse bouche: schon in der Vergangenheit verzückte er mich mit ungewöhnlichsten Kombinationen wie etwa Rotkohl mit Sardine und Passionsfrucht (wahrscheinlich ließ schon die bloße Ankündigung so manchen konservativ veranlagten Gast zunächst einmal erschaudern!) oder auch Tomaten und Rindertatar mit Colatura und Kerbel – siehe untenstehend meine älteren Rezensionen. Mit der Versiertheit eines Drei-Sterne-Chefs zu Werke gehend, weiß Thomas Schanz jedoch immer ganz genau, was er tut und was er seiner Küchenbrigade abverlangen kann. Das Maß an geistiger Durchdringung der hier ersonnenen Gerichte ist stets atemberaubend, denn andernfalls würden solche Produktallianzen mutmaßlich in einem Desaster enden. Auch mit seinem jüngsten Einfall lehnt sich der Neuerungen gegenüber stets aufgeschlossene Küchenvirtuose wieder sehr weit aus dem Fenster: klassische Minestrone interpretiert er dabei sowohl als Suppe wie auch moderner als kalt soufflierten Schaum, bedeckt letzteren dabei mit Aragon-Oliven und versteckt darunter ein Kalbstatar von vorzüglicher Konsistenz. Die buchstäbliche Krone setzt dem Gericht ein Colatura-Zitronen-Sorbet auf, das mit seinen säuerlichen Spitzen die aromatische Wucht der Haube darunter gekonnt abfedert. Derart komplexe und vielfältige Aromen in so wunderbar harmonischer Balance zueinander unter einen Hut zu bringen muss dem Meister auch erst mal jemand nachmachen! Was für ein Geniestreich!

Nach diesem auch optisch rauschhaften Eindruck wende ich mich der Speisekarte zu, entscheide mich recht rasch für die sechsgängige Menüfolge zu € 260 und nehme dabei aber eine einzige Modifikation vor. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Speisekarte zwar schlank gestaltet, aber eben auch nicht radikal auf die grassierende Ein-Menü-Politik reduziert ist. Einige dieser Gerichte à la carte findet man auch in der vorgeschlagenen Menüfolge, was einfach suggeriert, dass sie offenbar auch in anderen Portionsgrößen interpretiert werden können, während so manch anderes Juwel – wie sich herausstellen sollte – nicht im Menü inkludiert ist und daher umso reizvoller erscheint.

Nach dem opulenten Reigen zu Beginn startet das Menü einmal mehr mit einem der fraglos liebsten Produkte von Thomas Schanz, nämlich Gänseleber. Während dieses Produkt andernorts meist auf vorhersehbare (und nicht selten zu süße) Weise begleitet wird, kann man sich bei Thomas Schanz stets sicher sein, eine höchst individuelle und noch nicht in vergleichbarer Form erlebte Variante vorgesetzt zu bekommen. Jedenfalls bedeckt der Chef seine Rosace von der Gänseleber hauchzart mit karamellisierten Bucheckern und verleiht seinem makellosen Hauptprodukt damit einen eher nussigen als süßlichen Touch – dennoch kommt die Klassik in Form eines mustergültigen Brioche zu ihrem Recht. Die kühne Begleitung aus Bittersalaten, Schafskäse und Pfeffereis sucht ebenfalls ihresgleichen: die Vielfalt beim Biss ist jedoch nicht vordergründig, sondern das Ergebnis einer sorgsam ersonnenen und handwerklich traumhaft umgesetzten Konzeption. Indem die Küche süße Elemente auf diesem Teller nahezu komplett verbannt, erlebt der Gast die Innerei auf eine selten virtuose Weise, deren breites aromatisches Spektrum kaum angemessen in Worte zu fassen ist – man muss es erlebt haben! Eingebungen wie diese und auch solche aus der Vergangenheit haben in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass der Großmeister von der Mosel in Sachen Foie gras zusammen mit Sven Elverfeld aus dem Wolfsburger Aqua für mich derzeit so ziemlich das Maß aller Dinge in Deutschland darstellt.

Diese Stippvisite verlief bisher weiß Gott nicht arm an Überraschungen, doch der nun folgende Moment stellte diesbezüglich alles in den Schatten: als leidenschaftlicher und interessierter Stammgast (vielleicht darf man sich in solchen Lokalen nach insgesamt vier Besuchen schon als solcher bezeichnen?!) ist es dem Gastgeber offenbar ein Anliegen, mich mit einem weiteren zusätzlichen und kostenlosen Gang zu verwöhnen. Im Mittelpunkt dieser Zugabe steht geangelter Wolfsbarsch von optimalem Garpunkt. Den kraftvollen Geschmack des Fischs kontrastiert die Küche mit einer fruchtig-leichten Passionsfruchtessenz und der Knackigkeit einer herben Fenchel-Brunoise, auf welcher der Hauptdarsteller gebettet ist. Sautierte Calamaretti und kleine Tomaten verleihen diesem heiteren Gang eine ungemein elegante, mediterran inspirierte Note. Wie so häufig zu beobachten setzt Thomas Schanz meist auf französisches Handwerk, meidet dabei aber ziemlich konsequent schwere Saucen und erzielt auf diese Weise Ergebnisse, die wenig vorhersehbar und zudem recht pfiffig wirken. Ganz vorzüglich!

Eine inspirierte, wenn auch deutlicher puristische Begleitung gibt es im nächsten Gang bei sanft pochierter Felsenrotbarbe zu erleben. Die fruchtbetonte Begleitung mit Banane und einem federleichten Kardamom-Rieslingsud setzt deutlich indische Akzente – viel mehr braucht dieser Gang angesichts ausgezeichneter Produktqualität und meisterhafter Zubereitung auch nicht. Etwas kontrastierende Salinität bringen Salicorn-Algen und „Kaviari Kristal“-Kaviar, doch selbst ohne diese Komponenten wäre das schon ein bemerkenswert gelungener Teller geworden. So oder so ist klar, dass Routine ein Fremdwort im Schaffen von Thomas Schanz ist.

Die nächste Etappe der kulinarischen Weltreise führt in die Karibik: im Gegensatz zum Vorgänger gelangt Atlantik-Merluza (auch bekannt als Seehecht) als eine einzige, supersaftige Tranche auf den Teller, die regelrecht abblättert, wenn man sie nur leicht mit der Gabel berührt. Gebettet auf einem kreolischen Sud mit Zitrusöl, wird der Fisch zwar von recht vielen Begleitern umschwärmt, bleibt dabei voll im Mittelpunkt des Geschehens: Meeresspinat (auch Queller oder Salicorn genannt) und Minze setzten einerseits salzig-herbe Akzente, während getrocknete Papaya und gerösteter Reis mit wohltuendem Biss in einem ansonsten recht weichen Umfeld an Texturen das Spektrum um fruchtige und erdige Aromen erweitern. Entsteht beim Amuse öfters mal ein knalliger Eindruck, so wird hier das andere Ende des Spektrums abgedeckt: ein durch und durch unaufgeregtes und niemals vordergründiges Handwerk führt zu einem überzeugenden Gericht der leisen Töne, dessen Qualitäten sich manchem Esser möglicherweise erst mit der Zeit aufdrängen.

Der rein männliche Service agiert vergleichsweise sachlich, aber korrekt und verblüfft mich an dieser Stelle mit der Ankündigung, dass von einer Bestellung à la carte noch etwas angefallen wäre und man mir deshalb noch einen zweiten kostenfreien Zusatzgang anbietet, der zur Einordnung (in einer möglicherweise etwas größeren Portion) mit mehr € 100 auf der Karte angesiedelt ist. Ballotine vom Stubenküken im Champignonmantel mit Kartoffel-Lauch-Ragout und Alba-Trüffel ist nicht nur ein erdiges Wohlfühlgericht ersten Ranges, sondern auch aus anderen Gründen in gleich zweierlei Hinsicht ein bemerkenswerter Genuss: zum einen ist die Kombination von Geflügel mit Trüffeln aus meiner Sicht immer noch eine sträflich vernachlässigte Allianz, und zum anderen werden hier deutliche Reminiszensen an Eckart Witzigmanns ikonisches „Kalbsbries Rumohr“ offenkundig. Lauch und schwarzer Wintertrüffel bildeten zwei essentielle Bestandteile dieses Klassikers, und auch geschmacklich ist das Geflügel nicht so weit vom cremigen Bries des Originals entfernt. Doch ganz gleich, ob dieser Vergleich nun angemessen ist oder nicht: am großartigen Genuss ändert es so oder so nichts. Hier trifft vorzügliches Handwerk auf Traditionsbewusstsein mit einem Hauch Moderne – ein mustergültiges Vergnügen, das gratis natürlich nochmals besser schmeckt!

Das inzwischen auffallend große und variable Spektrum bei den Stilen verblüfft mich angesichts der gleichermaßen souveränen Behandlung in allen Disziplinen am meisten – das Maß an Reife und Klasse bewegt sich inzwischen in ungeahnten Dimensionen. Erwartungsgemäß ist auch bei gegrilltem Atlantik-Carabinero eine schlafwandlerisch sichere Handhabung der Stilistik zu beobachten, denn das herrlich knackige Krustentier unter einem Netz aus der Karkasse erfährt in Form von Selleriepurée, geschmolzenem Ochsenmark und Petersilie als Topping eine etwas ungewöhnliche, aber durchaus stimmige Begleitung. Über jeden Zweifel erhaben ist auch die Sauce Bergamotte, die bekömmlich und duftig, zugleich aber leicht würzig daherkommt.

Zum Höhepunkt des Tages sollte jedoch die eingangs erwähnte Modifikation der Menüfolge werden: den Eifler Rehrücken verwarf ich zugunsten eines Gerichts, das mich bei der Lektüre der Karte sofort in seinen Bann gezogen hatte. Der in letzter Zeit häufiger zu beobachtende Trend, dass die höchstdekorierten Restaurants neuerdings wieder auf Klassiker zurückgreifen und diese der Gegenwart dezent anpassen, war mir durchaus nicht entgangen. Dennoch zeigte ich mich überrascht von Pot-au-feu auf der Speisekarte, weil man diese archaische und durchaus rustikale, aus dem Norden Frankreichs stammende Zubereitungsmethode schwerlich in einem Dreisterner erwarten würde: das Kochen auf offenem Feuer in einem Topf oder Kessel wirkt wenig filigran und sollte nicht allzu viele attraktive Möglichkeiten bieten, etwas Besonderes zu kreieren, zumal auch noch Innereien verwendet werden. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Gäste, die ihre Skepsis offenbar nicht überwinden können und auf eine Bestellung dieses Gangs allzu häufig verzichten, gehe ich das Wagnis jedoch ohne Umschweife ein. Umso gespannter war ich, was Thomas Schanz mit dieser Technik aus Kaninchen – einem weiteren recht raren Produkt – so zaubern würde. Natürlich wäre es naiv gewesen, anzunehmen, dass dieses Gericht dem Anspruch des Hauses nicht genügen würde, aber die Realität toppte sämtliche Erwartungen! Auf dem Teller finden sich Rücken, Niere und Leber, welche in ungeheuer großer geschmacklicher Bandbreite in einem klaren Liebstöckelsud bestens zur Geltung kommen: dadurch werden die Texturen nicht etwa unter einer klobigen Sauce verwischt, sondern bleiben glasklar erkennbar. Außerdem könnte dieser mustergültige Sud mit kraftvoller Kräuternote kaum besser korrespondieren mit erdigem Wintertrüffel und jungem Wurzelgemüse – Facettenreichtum, Kraft und Harmonie bewegen sich hier auf einem atemberaubenden Level. Fazit: Das kann man nicht besser machen! Kein Wunder, dass dieser Teller den Sprung auf meine Menüfolge des Jahres 2023 mühelos schaffte!

Zumindest bis vorm Hauptgericht bewegte sich die Küche zwischenzeitlich auf recht sicherem Terrain, doch spätestens mit dem Erreichen des Desserts kann man sich sicher sein, dass die Küche diese Disziplin mal wieder als Spielwiese für besonders kühne Experimente und Ideen nutzt. Der jüngste Einfall stellte jedenfalls keine Ausnahme dar, denn schon die reduzierte und zugleich knallige Optik zieht den Gast sofort in ihren Bann. Auch geschmacklich führt dieser gar nicht so süße Ausklang nahezu sämtliche Erwartungen in die Irre: schon bei der Annoncierung als Rondell von der Anna-Maria-Himbeere mit Rucolasorbet und -süppchen setzt das große Rätselraten ein, welche Komponente wohl in welcher Form verarbeitet ist. Innerhalb der hauchdünnen geeisten Hülle von Himbeere finden sich weitere launige Texturen des Obstes sowie das zuvor erwähnte Sorbet. Den Clou dieser kühnen Avantgarde-Komposition bildet jedoch der umgebende Sud, der keinesfalls nur aus Rucola besteht, sondern unerwartet (natürlich hatte dies der Service absichtlich verschwiegen) mit Wasabi und Wodka aufgewertet wurde und so eine ungeahnte Wucht erfährt. Diese kraftvolle und polarisierende Darbietung fordert Zartbesaiteten alles ab, doch Stillstand ist Thomas Schanz nun einmal vollkommen verhasst – lieber nimmt er mal einen aufrüttelnden, gegen den Strich gebürsteten Beitrag mit Konfliktpotential in Kauf als ein todlangweiliges und überraschungsfreies Dessert von Anno dazumal zu kreieren. Was mich betrifft, so ist das Wagnis jedenfalls aufgegangen!

Zur vergleichsweise schwächsten Nummer des Tages wird trotz vollreifer Früchte das eher simpel gehaltene Après-Dessert aus Délice von der Johannisbeere in Form von Sorbet und Purée mit einem alkoholischen Holunderblütensüppchen und einem hauchdünnen Chip aus weißer Luftschokolade. Lassen wir jedoch die Kirche im Dorfe: nach dem Vorgänger hätte es jede Petitesse dieser Welt schwer gehabt, dagegen anzukommen!

An den Petits fours hat sich seit dem letzten Jahr nichts geändert, was ihrer Qualität aber keinen Abbruch tut – es handelt sich um Parfait von Ananas und Aprikose, Praline von Espresso macchiato, Cheesecake mit Sanddorn, Erdnuss mit Karamell und Kegel von Valrhona-Schokolade und Kaffeefüllung (im Uhrzeigersinn von oben auf dem Kreis). Hinzu kommen noch Nougat aus Montélimar sowie die Praline mit Gewürzmilch, Grand Marnier, Orange und weißer Schokolade. Wie gewohnt hält dieser Abschluss das Niveau konstant hoch und rundet das Menü würdig ab.

Reichte es bislang noch nicht für die Höchstnote, so ist diese seit meiner jüngsten Visite fällig. Das Niveau wurde insgesamt nochmals angehoben und konstant durchgezogen, denn wenn es Ausreißer in diesem durchweg ausgezeichneten Menü gab, dann nur solche nach oben. Neben dem untrüglichen Gespür für ästhetische Angemessenheit in den unterschiedlichsten Stilen und dem makellosen Handwerk zeichnete die Küche ein untrügliches Gespür für kühne, aber nie überdrehte Einfälle aus, welche die Grenzen der Klassik teils bis ins Extreme ausloteten. Beim Dessert stattete man sogar der Avantgarde einen Besuch ab, doch selbst in diesem Fall wurden die Grenzen des guten Geschmacks nie überschritten. Am stärksten beeindruckte mich jedoch die Hinwendung zu fast schon vergessenen Zubereitungsmethoden wie dem Pot-au-feu, denen oftmals etwas Plumpes oder Kantiges anhaftet. Mit dem Kronjuwel dieser Menüfolge bewies Thomas Schanz jedoch eindringlich, dass moderne Ästhetik und archaische Elemente einander keineswegs ausschließen müssen. Die furchtlose Hinwendung zu Innereien ist nicht nur im Sinne der Nachhaltigkeit lobenswert, sondern wurde auch in geschmacklicher Hinsicht gerechtfertigt und legte beredtes Zeugnis davon ab, wie versatil sich diese Küche inzwischen bewegt. Das gilt gleichermaßen für das beeindruckende Arsenal an Ideen im Umgang mit Gänseleber wie für den scheinbar nie versiegenden Quell an Inspiration, wenn es darum geht, die Messlatte mit einem unvergleichlichen kalten Amuse in Sphären zu hängen, die nur noch mit dem Fernrohr erkennbar sind. Mit seiner stimmigen Dramaturgie und dem geschickten Timing für unnachahmliche Höhepunkte setzte die Küche in mir einen nachhaltigen Adrenalinrausch frei.

Der Service unter der Leitung von Aleksandar Petrovic konnte deutlich stabilisiert werden im Vergleich zu den Vorjahren, als es eine relativ große Fluktuation auf den Schlüsselpositionen gab. Der Sommelier gebietet jedoch nicht nur über einen ansprechenden Weinkeller, sondern legt neuerdings den Fokus auch auf im Hause kredenzte alkoholfreie Getränke als Menübegleitung. diese haben ihren Preis, sind aber sorgsam ersonnen und führen abermals zu einer spürbaren Anhebung des Niveaus auf diesem Gebiet. Wer es sich leisten kann und will, dem serviert man hier eine inzwischen ziemlich eigenständige Kollektion an ansprechenden Getränken, die eine abermalige Bereicherung des Menüs darstellen, während die Rechtfertigung für den Menüpreis ohnehin schon frühzeitig erbracht worden war.

Inzwischen vollständig in seiner eigenen Stilistik angekommen, hat Thomas Schanz seine Stärken endgültig bestimmt und macht sich nun daran, uns in Zukunft noch mit weiteren Geniestreichen zu beglücken. Es scheint derzeit privat wie professionell für ihn zu laufen, denn auf die jüngst vollzogene Hochzeit folgte er auch noch dem Ruf des Salzburger Ikarus, sein Schaffen dort als Gastkoch im Oktober 2024 präsentieren zu dürfen. Das verspricht doch noch einiges für die Zukunft! Bei alledem ist der Chef dennoch geerdet geblieben und genießt offenbar die gelassene Atmosphäre des verträumten Weindörfchens an der Mosel in vollen Zügen. Nach vollbrachter Arbeit nimmt er sich auch diesmal wieder eine gute Viertelstunde Zeit für mich und erklärt sich sogar bereit, über eine Anregung meinerseits nachzudenken, die eventuell beim nächsten Besuch schon umgesetzt sein könnte. Welche das ist und ob es geklappt hat, erfährt der geneigte Leser nach meiner nächsten Einkehr, die so sicher wie das Amen in der Kirche ist!

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

schanz
Bahnhofstraße 8a
54498 Piesport
Tel.: 06507/92529
www.schanz-restaurant.de

Guide Michelin 2023: ***
Gault&Millau 2023: 5 Toques
GUSTO 2024: 10 Pfannen mit Bonuspfeil
FEINSCHMECKER 2024: 5 F

6-gängiges Menü: € 260

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„Wie mutig man ist, weiß man immer erst hinterher.“ (Ludwig Marcuse)

UPDATE (November 2022)

Die Entwicklung des Thomas Schanz erinnert in vielerlei Hinsicht an Aschenputtel: noch bis vor wenigen Jahren verband man in kulinarischer Hinsicht mit dem Moseltal ausschließlich biedere Hausmannskost von bestenfalls durchschnittlicher Qualität, die in Massenabfertigungsstationen feilgeboten wurde. Wie viel sich daran anderswo seither geändert hat, vermag ich nicht zu beurteilen, aber das Moseldörfchen Piesport mit seinen kaum mehr als 2.000 Einwohnern tanzt inzwischen gehörig aus der Reihe: seit 2022 leuchten über dem verschlafenen Weindorf nicht weniger als drei Michelin-Sterne!

Das ist das Verdienst von Thomas Schanz, der vor etwas mehr als zehn Jahren an den damals noch bescheiden wirkenden elterlichen Betrieb zurückkehrte und nach Ausbildungsjahren bei Helmut Thieltges und Klaus Erfort ein Restaurant neben dem familiär geführten Hotel eröffnete. Gleich im ersten Jahr erlangte der junge Koch einen Michelin-Stern, doch damit war dem Lokal natürlich noch keine größere Aufmerksamkeit über die Region hinaus beschieden. Als 2016 der zweite Macaron dazu kam, statteten wir dem Lokal im Mai erstmals einen Besuch ab und erlebten einen Abend der Sorte wie er bei neuen Zweisternern gar nicht mal so selten vorkommt: ein, zwei Höhepunkte auf Kosten von bisweilen fehlender Akkuratesse bei anderen Tellern festigten damals in uns den Eindruck, dass es hier weiterhin ein großes Potential abzubauen gelte, das indes noch nicht zur vollen Blüte entfaltet war. Dank der Übernachtungen im hauseigenen Hotel erlebten wir, wie viel Herzblut und Engagement die Eltern in ihren Betrieb steckten, der ausgesprochen persönlich und nah am Gast geführt wurde. Seither wurde die kleine, aber feine Herberge immer weiter ausgebaut und den Bedürfnissen der inzwischen internationalen Klientel angepasst. Auch das Interieur des Lokals erfuhr einige umfassende Änderungen, denn die Schwarz-Weiß-Fotos und die ikonischen Lampenschirme mit den weißen Kreisen auf schwarzem Grund suchten wir beim letzten Besuch vergeblich. Stattdessen gibt es jetzt ein noch reduzierter wirkendes, modernes Interieur mit viel Schiefer, runden Tischen und Eckbänken, deren Farbgestaltung auf Ocker und Grautöne setzt.

Ansonsten freue ich mich natürlich, dass meine Prognose vom letzten Besuch im Hochsommer 2020 nicht gänzlich aus der Luft gegriffen war – hatte ich doch damals schon spekuliert, dass es hier bald mit dem dritten Stern klappen könnte. Der Fortschritt seit den vier Jahren dazwischen war einfach atemberaubend gewesen und kulminierte nun in der logischen Konsequenz der höchsten Weihen, die der Guide Michelin zu vergeben hat. Seither ist es nicht gerade einfacher geworden, einen Tisch zu ergattern, so dass eine einigermaßen lange Vorlaufzeit bei Interesse schon eingeplant werden sollte. Wir schätzen uns daher glücklich hier einzukehren, selbst wenn Mitte November schwerlich die attraktivste Jahreszeit für diese Bilderbuchregion darstellt – aber wo ist das schon der Fall?!

Tröstlich erscheint, dass es an diesem regnerischen und herbstlich-kühlen Ewigkeitssonntag nach dem Gottesdienst ohnehin nichts Besseres geben kann als hier einzukehren und sich einmal mehr von den überragenden Kochkünsten des Thomas Schanz beeindrucken und verwöhnen zu lassen. Wir werden zügig an unseren Platz geführt, wobei uns rasch auffällt, dass der Service inzwischen rein männlich und einigen personellen Veränderungen unterzogen worden ist – offenbar ein Beleg für die derzeitigen Schwierigkeiten, gerade in der Gastronomie dem Personalmangel erfolgreich begegnen zu können. Unter dem neuen Restaurantleiter Patrick Stewart wird an diesem Nachmittag noch nicht alles komplett fehlerfrei ablaufen, aber nach ein paar weiteren Monaten sollten sich die Kleinigkeiten von alleine erledigt haben.

Unsere Wahl fällt auf das sechsgängige Menü zu € 225, wobei eine gar nicht so kleine Auswahl an Gerichten à la carte die Menüfolge auf attraktive Weise flankiert. Wir tauschen beispielsweise den Rehrücken des Hauptgangs (tags zuvor haben wir im Sonnora dasselbe Produkt verkostet und favorisieren daher eine Alternative) problemlos gegen das walisische Lamm und sollten – soviel vorweg – unsere Wahl natürlich nicht bereuen. Danach stimmen wir uns auf den Nachmittag mit einem alkoholfreien Cocktail von Zitrone, Grapefruit, Holunder und Bitter Lemon ein, zu dem man die ersten Apéros auftischt. Zur linken befindet sich gelierte Kalbszunge mit Wacholdermayo, Limette und Rosenwasserbaiser auf der Schieferplatte und daneben in dieser Trilogie die wohl klassischste Petitesse in Form von Canneloni von gebeiztem pommerschem Rind, Rauchforellenmousse und Impérial-Kaviar. Den Abschluss bildet ein ungewohnt maritim anmutendes, filigranes Crostini von der Garnele mit Salbei, das nicht ganz so intensiv gerät und vielleicht noch ein wenig Optimierung vertragen könnte. Insgesamt ist dieser Einstieg konzentriert im Geschmack und durchweg subtil abgeschmeckt. Die leicht herbe Grundausrichtung passt gut zur Jahreszeit und bestätigt, was wir schon öfters bei Thomas Schanz beobachtet haben: im Allgemeinen bevorzugt dieser eher eine Dramaturgie, die nicht gleich zu Beginn alle Register seines Könnens offenbart, sondern das gezeigte Niveau langsam und kontinuierlich anhebt.

Die Brotauswahl gehört weiterhin definitiv zu den reichhaltigsten und auch besten weit und breit, denn neben der opulenten Auswahl werten Traubenkernöl, Fleur de Sel, Tomaten- und Salzbutter die Darbietung noch weiter auf. Zu üppig sollte man ihr allerdings nicht zusprechen, da ihr Potential zur Sättigung beträchtlich ist.

Nicht fehlen bei einem Besuch hier darf selbstverständlich das ikonische getrüffelte Wachtelei, welches in dieser Region ein Markenzeichen auch anderer Köche wie Klaus Erfort oder Silio del Fabro zu sein scheint, wenngleich natürlich in jeweils etwas abgewandelter Form. Bei Thomas Schanz entfalten die schwarzen Périgord-Trüffel und der leichte Schaum einen wunderbar erdigen und zurückhaltend aristokratischen Geschmack, der das klassische Fundament seiner Ausbildung jederzeit erkennen lässt. Klar, dass die genaue Zusammensetzung und die Zubereitung dieses kleinen Signature Dishs ein gut gehütetes Geheimnis darstellt …

Mit dem „echten“ Amuse dürfte auch der letzte Skeptiker überzeugt sein, dass die Küche hier natürlich weit mehr zu bieten hat als die vergleichsweise bescheiden daherkommenden Apéros zum Auftakt: das vielleicht mutigste aromatische Statement, das ich hier bislang erleben durfte, gelangt in recht knalliger Optik auf den Teller und lässt den Gast schon erahnen, dass grelle Kontraste den Reiz dieser wie ein Dessert anmutenden Eingebung ausmachen: tatsächlich weckt das Passionsfruchtsorbet obenauf sowie der Schaum derselben Frucht darunter Erwartungen an ein Dessert, aber spätestens beim Genuss der ersten Gabel des Tatars von der (zudem sehr säuerlich interpretierten) Sardine unter dem Schaum wird jedem Gast klar, dass man hier stets mit völlig überraschenden Wendungen zu rechnen hat, denn Täuschung ist ein Lieblingsmotiv des Chefs. Das intensive Rotkohlsüppchen darunter komplettiert das kühne und extrem mutige Spiel zwischen forscher Salinität, präsenter Säure und der leichten Süße durch den Kohl. Wie ich später aus dem Munde des Chefs höchstselbst erfahren werde, kommentiert er dieses gewagte, aber voll einschlagende Amuse so, dass fehlender Mut auf Drei-Sterne-Niveau nicht folgenlos bleibt und letztlich zur Stagnation führen muss, weswegen er seine Gäste lieber fordert als langweilt. Was uns betrifft, so ist es ihm mit diesem Donnerschlag von einem Amuse vollauf gelungen!

An die Tradition der gewagten Einstiege (überaus gerne denke ich an das geradezu geniale Amuse mit dem Tomatenschaum von vor zwei Jahren zurück – siehe unten) knüpft inzwischen auch das individuell ersonnene Angebot an Getränken an: beispielhaft hierfür gibt der umtriebige Service zu einem Bananensaft, der mit Zitrone, Lavendel und Quitte faszinierend akzentuiert wird, noch ein paar Tropfen Traubenkernöl in den eigens ausgehöhlten Eiswürfel in der Mitte. In puncto Komplexität können die flüssigen Begleiter somit längst Schritt halten mit den Speisen!

Serviert wird das Getränk zu Gänselebertorte „Saint Honoré“ mit altem Sherry und Parmigiano Reggiano. Wer schon öfters hier eingekehrt ist weiß, dass Gänseleber ein Lieblingsprodukt des Chefs ist und hier stets in höchst individuellen Varianten auf den Teller gelangt – eine Erkenntnis, die schon nach meinem letzten Besuch in Stein gemeißelt wurde. So entpuppt sich auch diesmal die Kreation, die vergleichsweise banal angekündigt wird, erwartungsgemäß als Kunstwerk ersten Ranges: die mit einem Sherrylack überzogene Terrine der Innerei überzeugt mit mustergültiger Cremigkeit und genau ausgeloteter Süße. Das reizende und überaus sorgsam komponierte Ensemble aus Bittersalaten, Parmesan und geeister Leber gewinnt durch die beiden Profiterols mit einer Farce von Gänselebermousse an Gewicht, obschon die Qualität der Leber allein ein separates Lob rechtfertigen würde. Der körperbetonte und sehr präsente Sherry setzt einen überzeugenden Kontrapunkt zu der süßlichen Ausrichtung, und auch das ausgelassene, heitere Spiel mit Texturen sorgt dafür, dass keinerlei Langeweile aufkommt.

Ebenfalls nicht gerade zurückhaltend tritt die sanft pochierte Felsenrotbarbe aus der Vendée auf: die buttrige, famose Konsistenz des kraftvollen Fischs wird mit marinierten Kräutern und Hibiskus-Orangenblüten-Vinaigrette in einem Rotkohlsud würdig ausstaffiert. Die schön knusprige Haut wurde nicht gedankenlos einer tollen Optik geopfert, sondern kommt bestens zum Tragen und kontrastiert auf überzeugende Weise mit den vegetabilen Elementen des Tellers. Die Hibiskus-Note verleiht dem eleganten Gang einen unerwarteten, feinsäuerlichen Twist, mit dem die Küche hier jeder Vorhersehbarkeit entschieden entgegentritt. Perfekte Garzeiten, eine launige Inszenierung und ein trotz allem geordnet anmutendes Ensemble an Begleitern machen auch aus diesem Gang ein Erlebnis der Extraklasse.

Ein in puncto Intensität etwas zurückhaltenderes und dringend angeratenes Intermezzo stellt der arktische schwarze Seehecht dar, der vergleichsweise puristisch inszeniert wird: einmal mehr wundervoll saftig und butterzart, ruht er auf einer sehr ungewöhnlichen Muskatnuss-Consommé von ausgeprägt herbem und natürlich leicht nussigem Geschmack. Die zudem in Angostura (Magenbitter auf der Basis von Enzianwurzel) eingelegte Quitte verteilt nur spärliche fruchtige Akzente und überlässt so dem Hauptdarsteller die Bühne zur vollen Entfaltung. Der Grad an Beeindruckung ist bei diesem Gang nicht ganz so hoch (muss ja auch nicht sein), aber etwas verunsichert bin ich ob der annoncierten Produkte, denn Tannenwipfel habe ich von meinem Besuch im Roten Hahn zu Regensburg her geschmacklich und haptisch anders in Erinnerung. Umspielt wird der Fisch für meine Begriffe stattdessen ganz klar mit grünem Spargel, und auch das Topping basiert mir keinesfalls auf der ausgeprägt bitteren Aromatik der Wipfel. Seltsam …

Als eine entfernte Variante des „Surf ’n‘ Turf“ empfinde ich gegrillten Hummer aus Saint-Malo, weil dieser dazu mit Rindersteak und nicht Schweinebauch begleitet sein sollte. Dessen ungeachtet ist die Küche hier wieder bei ganz sich: neben einer über die Jahre zu beobachtenden Präferenz für hauchfeine Hauben (hier aus Kartoffeln) setzt einmal mehr die komplexe Begleitung aus frittierten Kapern und Grapefruit-Bouillon starke aromatische Aussagen voller Kontraste und von heiterer Ausgelassenheit. Der schön magere und keineswegs rustikale Bauch sowie die perfekte Konsistenz des Hummerfleischs sprechen eine deutliche Sprache: hier bringt ein Meister sein geballtes Wissen ein und ersinnt ein federleichtes Gericht, das bei weniger sorgfältiger Zubereitung ohne Weiteres belastend und überladen hätte wirken können. So hingegen steht unterm Strich einmal mehr ein vorzüglicher Gang abseits der Konventionen.

Den zumindest anhand meiner Besuche in Sternerestaurants zu beobachtende Trend, bei Hauptgerichten klassischer zu denken und weniger zu riskieren, kann ich hier nicht bestätigen: freilich ist das saftstrotzende und nicht zu kräftig gebratene Lammcarrée (vom walisischen Lamm) ein bekannter Klassiker der Hochküche, doch in einem Drei-Sterne-Lokal darf man durchaus etwas Wagemut voraussetzen – und wird natürlich nicht enttäuscht: einerseits ummantelt die Küche das Bries des Hauptprodukts erwartungsgemäß stilecht mit hauchdünner Artischocke, begleitet aber andererseits mit einem alles andere als nüchtern zu bezeichnenden Ensemble unterschiedlichster Komponenten: breite Bohnen, Tropfenpaprika und griechischer Joghurt stecken ein breites Spektrum an faszinierenden Aromen ab, deren ungewöhnliche Harmonie untereinander trotz einer farbenfrohen Inszenierung beeindruckt und das gerade wegen der schönen Texturen großartig gelingt.

Zum Nachtisch (welcher hier meist eher ungewöhnlich von einem Après-Dessert anstelle eines Pré-Desserts flankiert wird) kredenzt der Service einen Cocktail mit Passionsfruchtsaft, Hokkaido-Kürbis und Salbeitee, wobei etwas Kürbispulver auch noch am Glas klebt. Dieses herbstliche Glas korrespondiert bestens …

… mit Navelina-Orange, welche als geeiste Hülle eine faszinierend vielfältige Welt darunter verbirgt: auf einem Sorbet von Oliven aus Aragón in der Kugel ruht mittig eine kleine Halbkugel aus Sellerie-Eis. Darin untergebracht wurde des weiteren in höchst kompakter und handwerklich virtuoser Form Orangeneis mit Akzenten von Melisse, die gleichzeitig als Sud auch das Fundament der gesamten Kreation bildet. Zitrusaromen und Kräuter korrespondieren prächtig, doch die Krönung der Kreation ist die dezent süßliche Note des Sorbets, welche das verwendete Produkt so gut kaschiert, dass selbst meine nicht ganz unerfahrene Begleitung sich hier täuschen ließ und nicht glauben konnte, dass die Oliven wirklich als Sorbet eingesetzt wurden! Während die Desserts hier öfters mit grandioser Optik punkten, setzte man hier zur Abwechslung mal auf eine Überraschung ersten Ranges. Der Erfolg und der Geschmack geben der Pâtisserie in jedem Fall recht, denn ohne Ankündigung würde die Hülle nichts vom Innenleben preisgeben. Exzellent!

Ungleich einfacher gehalten, wenngleich nicht ohne Reiz ist das fast zuckerfreie und recht kühne Après-Dessert, bestehend aus einem Zitronensorbet auf Selleriesud und einer kleinen, dehydrierten Scheibe von Sellerie – fraglos ein erfrischender, wenn auch etwas sommerlicher Gaumenkitzler und würdiger Ausklang.

Wobei ja noch die Petits fours auf uns warten, die wie kaum etwas anderes für die Emanzipation des Chefs von seinen einstigen Lehrmeistern stehen: durchaus klassisch gehalten, aber längst nicht mehr von der archaischen Formenstrenge des Sonnora unter Helmut Thieltges. Teils kennen wir die Ausklänge schon, doch trübt das den Genuss nicht im Geringsten. Seien es nun Eispraline mit Aprikose und Ananas, Cornetto mit Sahne und Eierlikör, Erdnusspraline mit Karamell und Dulcey-Schokolade, Käsekuchen mit Passionsfrucht, Espresso-Macchiato-Praline, Gewürzmilch mit Grand Marnier oder Nougat aus Montélimar – das kann sich durchweg sehen, pardon: schmecken lassen.

Dass die Krisen der letzten Jahre auch die Spitzengastronomie nicht verschont haben, konnte man diesem Besuch an wenigen Stellen anmerken. So wirkte die emsige und teils noch mit etwas unerfahren wirkenden Kellnern besetzte Servicebrigade noch nicht perfekt eingespielt, doch auffällige Patzer leistete man sich jedenfalls keine. Nicht zuletzt dank solider (aber natürlich gestiegener) Nebenkosten erweist sich ein Besuch hier immer noch als eine einigermaßen erschwingliche Angelegenheit, wobei die eigens kredenzten Gläser zur Begleitung der Menüfolge (pro Glas ca. € 14) wegen ihres Arbeitsaufwands natürlich aus dieser Statistik ausgenommen gehören. Die Küchenleistung überzeugt jedenfalls mit sicherem Handwerk und dem reichlichen Einsatz von Luxusprodukten.

Vollkommen überraschend kam die neue Auszeichnung der roten Gourmetbibel für das schanz wie schon in meiner vergangenen Rezension angedeutet zwar nicht, aber erzwingen kann man so eine Auszeichnung eben auch nicht – davon können viele ambitionierte Chefs, die möglicherweise die Auszeichnung auch mal verdient hätten und doch nie bekommen haben, ein Liedlein singen. Dass es für den trotz allem bescheiden und ehrlich wirkenden Chef Thomas Schanz geklappt hat, ist ein tolles Aushängeschild für Piesport – allenfalls Weinkennern dürfte der in Steillage angebaute Riesling Piesporter Goldtröpfchen bisher ein Begriff gewesen sein. Das hat sich jedoch von Grund auf geändert, denn seitdem das Weindörfchen ein Drei-Sterne-Restaurant vorweisen kann, wird es von ausländischer Klientel zuhauf frequentiert und gehört damit zum erlauchten Kreis der unumstößlichen Fixpunkte internationaler Gastronomie. Die kleine Gemeinde huldigt am Ortseingang ihrem bekanntesten Bürger neuerdings mit einem großen Banner und weiß dessen Verdienste sehr wohl einzuordnen, da dem Tourismus in der Region schwerlich etwas Besseres hätte passieren können.

Thomas Schanz nimmt sich übrigens nach vollbrachter Arbeit für uns erfreulich viel Zeit und plaudert aus dem Nähkästchen, was sich seit der Auszeichnung alles verändert hat. Dass ihm an meinem Urteil durchaus gelegen ist, ehrt mich natürlich sehr. Natürlich bescheinige ich ihm umgehend, dass es an der Rechtfertigung des dritten Macarons für mich nicht den Hauch eines Zweifels gibt. Unter den aktuellen deutschen Dreisternern pflegt Thomas Schanz vielleicht den derzeit launigsten und farbenfrohen Stil, der allerdings nach wie vor auf einer sehr soliden französischen Basis ruht. Seine mutige Handschrift ist in seinen ikonischsten Gerichten schon jetzt absolut unverwechselbar und setzt immer wieder Maßstäbe, wenn es darum geht, Neues zu wagen und doch nie übers Ziel hinauszuschießen. Die virtuose Einbeziehung von Produkten aus allen Winkeln Europas gelingt immer auf schlüssige Weise und wirkt nie forciert, zumal eine gewisse Vorliebe für nicht so landläufige Fische die Küche hier seit jeher auszeichnete. Manchmal ist es eine faszinierende Begleitung, die einem Luxusprodukt ganz neue Facetten abringt, doch andermal werden beste Viktualien bei Bedarf hier auch klar in den Mittelpunkt gestellt. Mein erster optischer Eindruck beim Hauptgericht beispielsweise tendierte dahin, dass der Teller überfrachtet sein könnte oder zumindest zu sehr vom Hauptprodukt ablenken könnte, doch stattdessen erhob das Geschehen rund um das Carrée das Fleisch nur noch. Mag schon sein, dass ein gewisses Faible für ansprechende Optik hier auszumachen ist, aber zum reinen Selbstzweck wird dies nie eingesetzt.

Ab und an tanzt ein Gericht in seiner Stilistik mal etwas aus der Reihe und läuft dann ein wenig Gefahr, sich nicht sehr organisch in die Menüfolge einzufügen. So verblüffte mich der an den Tag gelegte Purismus beim schwarzen Seehecht durchaus ein wenig, wenngleich es rein handwerklich nichts an dem Gang auszusetzen gab. Aber sei’s drum – das entspricht lediglich meinem rein subjektiven Empfinden, welches anderweitig überreichlich kompensiert wurde. So ist die Vorfreude auf das getrüffelte Ei, den Gänselebergang oder das Dessert bislang noch bei jedem Besuch kaum zu toppen gewesen, weil man sich im Schlaf darauf verlassen kann, dass hier wieder einmal etwas Großes und meist auch Außergewöhnliches gelingen wird. Das wissen auch andere Gäste, die willens sind, dem etwas abseitig gelegenen Ort eine regelmäßige Stippvisite abzustatten und es noch selten bereut haben dürften. Die Mauser von einem unscheinbaren, ja austauschbar anmutenden Betrieb hin zu einer Adresse mit internationalem Flair ist für mich jedenfalls eines der größten Wunder der jüngeren deutschen Geschichte der Spitzengastronomie, selbst wenn der letzte Feinschliff für die absolute Weltspitze noch fehlt – aber das hat ja noch Zeit! Hoffen wir, dass dieses unwahrscheinliche kulinarische Märchen noch lange andauern möge.

Einmal mehr verlassen wir das Lokal geradezu berauscht von den Erlebnissen, deren Zeuge wir wurden. Wenn jetzt nur nicht die sehr irdisch anmutende Heimreise durch widriges, herbstliches Schauerwetter noch anstünde …

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

schanz
Bahnhofstraße 8a
54498 Piesport
Tel.: 06507/92529
www.schanz-restaurant.de

Guide Michelin 2022: ***
Gault&Millau 2022: 5 Toques
GUSTO 2022: 10 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 4,5 F

6-gängiges Menü: € 225

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„Man muss sein Engagement nicht immer an die große Glocke hängen. Diese ausgestellte Art der Eigenwerbung habe ich immer für ungut empfunden. Man soll geben ohne Gegenleistung.“ (Götz George)

September 2020

Im malerischen Örtchen Piesport an der Mosel gibt es seit einigen Jahren eine mehr als bemerkenswerte Adresse, die mit viel Herzblut und Leidenschaft als Familienbetrieb geführt wird: Schanz Restaurant und Hotel. Diese feine Location steht im denkbar schärfsten Kontrast zu den Zeiten, als noch ganze Busladungen an Kegelvereinen durch das Moseltal kutschiert wurden und an Massenabfertigungsstationen höchst mittelmäßige Küche aufgetischt wurde. Von alledem will man hier nichts wissen: Chefkoch Thomas Schanz, heuer 40 Jahre alt geworden, hat bei so prominenten Lehrmeistern wie Helmut Thieltges und Klaus Erfort gelernt, was als sicheres Indiz dafür gewertet werden kann, dass hier höchste Weihen angestrebt werden. Die Zeichen dafür stehen auch durchaus nicht schlecht, denn seit 2016 ist das Restaurant mit zwei Sternen und seit 2017 mit 18 Punkten im G&M ausgezeichnet.  Folgerichtig waren auch wir angesichts der hohen Noten gespannt, wie sich die Küche seit unserem Premierenbesuch hier im Mai 2016 so entwickelt hatte.

Das Hotel gibt sich vom Anspruch etwas bescheidener als das Restaurant, doch das Engagement, das die Eltern von Thomas Schanz in ihren Betrieb stecken, ist mehr als vorzeigbar und absolut authentisch. Lohn der Mühen: etliche Gäste nehmen inzwischen weite Wege in Kauf, um in Piesport zu dinieren und zu übernachten – was den Weinkonsum um einiges attraktiver macht, zumal die Mosel bekanntlich den einen oder anderen interessanten Tropfen zu bieten hat.

Das stylish eingerichtete Lokal dagegen mit der großflächigen Fensterfront zur Seite weist ein unverwechselbares Design auf: die großen runden Lampen mit den kreisförmigen Verzierungen auf den Lampenschirmen sowie Grautöne aller Art dominieren bei den Kunstwerken und Fotografien an den Wänden, während hier und da dekorative Elemente in ockergelb ein paar farbliche Akzente setzen.

Derart brütende Hitze (nachmittags kletterte das Thermometer auf stolze 38 Grad Celsius!) liegt am Abend unseres Besuchs über dem Moseltal, dass die Tische trotz der durchaus vorhandenen Terrasse drinnen eingedeckt wurden. Die Mehrzahl der Gäste hätte sich wohl ohnehin gegen die Terrasse entschieden, doch im Hinblick auf die Gesundheit der Servicemitarbeiter war dies bestimmt die richtige Entscheidung: die klimatisierten Räume machen die Arbeit sehr angenehm, während draußen ein Kreislaufkollaps nicht auszuschließen gewesen wäre. Alle Gäste tragen diese Entscheidung klaglos mit, so dass einem großen Abend nichts mehr im Wege steht …

Groß – wenn auch im Kleinen – beginnt dieser Abend in der Tat: zu einem Sanbitter Orange reicht man uns drei bildschön angerichtete Einstiege voller individueller Ideen. Links ein Wagyutatar mit Aloe Vera und Holunder verfeinert, rechts unten Räucheraal mit Williamsbirne und Ossietra-Kaviar auf einem kleinen Teignest und oben rechts schließlich Goldforelle auf einem Algenbaiser. Klein, aber fein – kann man da nur sagen! Diese drei Häppchen überzeugen mit starken sowie genau ausgeloteten Aromen und machen absolut Lust auf mehr.

Eine grandiose Eingebung lässt die Küche sodann als kaltes Amuse folgen: unter weißem Tomatenschaum versteckt sich ein kühles Rindertatar von bester Konsistenz. Veredelt mit etwas Sardelle und einer federleichten Vinaigrette, wird die Kreation abgerundet von dem obenauf thronenden Kerbel-Colatura-Sorbet, das nochmals einen schönen inhaltlichen Bogen zur Sardelle schlägt (die italienische Würzsauce Colatura wird aus Sardellen hergestellt) und verblüffend mit verschiedensten Temperaturen spielt. Ich komme kaum umhin, diesen ungeheuer filigranen Einstieg voll komplexer, aber optimal harmonierender Aromen als denkwürdig zu bezeichnen.

Als kaum weniger bemerkenswert, wenngleich schon länger als gern gesehenes Signature Dish bekannt, erweist sich das getrüffelte Wachtelei in der goldenen Schale (unter einer silbernen Cloche serviert!), das hier meines Wissens grundsätzlich bei jedem Besuch aufgetischt wird. Warum auch nicht?! Diese nette Referenz von Thomas Schanz an seine klassischen Lehrmeister Thieltges und Erfort ist ein Musterbeispiel für puristische Demut vor dem Produkt und schmeckt genauso opulent wie das Bild erahnen lässt.

Die Brotauswahl kann sich ebenfalls wahrlich sehen lassen: nicht nur die qualitative Auswahl des Sortiments macht etwas her, sondern auch die Begleitung mit Fleur de Sel, Tomatenbutter, Heubutter und Olivenöl in dem verschnörkelten Gefäss. Allmählich dämmert es uns, dass sich hier etwas Großes anbahnen könnte …

Neben einer sechsgängigen Menüfolge zu € 158 – ein Preis, der angesichts der verwendeten Zutaten angemessen erscheint – wird hier noch eine Handvoll Gerichte à la carte angeboten. Die Wahl fällt durchaus nicht leicht, doch wir entscheiden uns für die ganze Bandbreite des Menüs, um eine möglichst große Aussagekraft zu erzielen.

Bereits beim ersten Besuch erwies sich der Gänseleber-Gang als stärkster Teller des Abends. Waren es damals Traubenmost, Parmesan, Walnuss und Sherrygelée, die einen phänomenal guten Einstieg einläuteten, so entschied sich die Küche heuer für eine Begleitung mit gebackenen Cashewkernen, Mostessig und Sambuca. Die Leber selbst gelangt als Terrine sowie Eis auf den Teller und wird weiter kongenial mit nicht annoncierten Zutaten großartig aufgewertet: ein Wermut-Gelée sowie winzige Splitter von Salzstangen (!), die als senkrecht steckende Stifte aus der Leber herausragen, verleihen diesem Gericht eine ungeahnt vielschichtige Noblesse. Keineswegs süßlich, sondern eher leicht herb mit wohldosierten Bitternoten des Kaffeelikörs interpretiert und präzise in eine feinsinnige Balance gebracht, haben wir es hier mit einer absolut zeitgemäßen und souverän in sich ruhenden Komposition zu tun. Das schmeckt nicht schwerfällig, sondern höchst elegant, ausgesprochen fein, federleicht und erweist sich zudem als höchst originelle und eigenwillige Interpretation dieses geschundenen Produktklassikers, der bei Thomas Schanz wirklich stets in allerbesten Händen ist. Umwerfend!

Optisch bescheidener, aber geschmacklich keineswegs schwächer kommt der zweite Gang daher: Liaison von Nordmeer-Kabeljau mit Bottarga, Weinhefe und Kardamom. Thomas Schanz wäre allerdings nicht Thomas Schanz, wenn nicht weitere Details das Essvergnügen aufwerten würden: Zesten von Mango und Zitrone sowie Kapernschaum und darin verstecktem Eisbergsalat machen aus diesem ohnehin schon leichten und sommerlichen Gang ein Fest für den Gaumen. Der leicht würzige Schaum und der Fischrogen verleihen dem Gericht mehr Schärfe als zunächst erkennbar, doch auch hier ist die perfekte Balance aus Süffigkeit, Zartheit und Umami perfekt gelungen. Dass die Qualität des zarten Hauptdarstellers über jeden Zweifel erhaben ist, muss hier fast schon nicht mehr eigens erwähnt werden.

Den mutigsten Einschub streut die Küche nun ein. Mit deutlich asiatischen Anklängen wird hier der leicht gebrannte Kohlenfisch begleitet: die zwei geschälten Kegel von Kohlrabi beinhalten Kokoscrème, während der aromensatte Fisch in einem Thymian-Aufguss, der erst am Tisch erfolgt, badet. Dieser recht puristische Gang ist wieder bis ins Detail durchdacht, kommt aber mit weniger Brimborium aus. Der Aufguss könnte fast inhalationstauglich sein, so gesund riecht er schon! Spaß beiseite: ein reizvoller Gang mit geschmacklicher Tiefe und bescheidenem Habitus – und dennoch wahre Größe verratend.

Weitaus weniger bescheiden kommt gegrillter Atlantik-Carabinero daher: schon die optische Inszenierung lässt auf einen ungewöhnlichen Gang schließen. Mein Eindruck trügt mich nicht, denn der mit Fenchel und Orange abgeschmeckte Sud verleiht dem Gang ordentliche Tiefe, zumal sich unter den herrlich bissfesten Krustentieren noch weiterer geschmorter Fenchel befindet. Ziegenricotta und hauchdünn gehobelte Champignons erweisen sich dagegen als entwaffnend leichte und harmonische Begleiter, zumal der Ricotta künstlerisch wertvoll den Sud geschickt umrundet. Stark!

Auch beim Hauptgericht erweist sich der Grand Chef als ein scheinbar unerschöpflicher Quell an Ideen, die aber nie aufgesetzt wirken oder denen sich der Geschmack unterzuordnen hat. Selbst einem so vergleichsweise durchschnittlichen Produkt wie Hunsrücker Rehrücken entlockt Thomas Schanz geschmackliche Facetten von ungeahnter Tiefe, indem er ihn mit ungewöhnlichen Produkten liiert. Hier haben wir es mit schwarzen Aragón-Oliven zu tun, die in eingelegter Form auf den Teller gelangen und von Zitronenmyrte-Jus umspielt werden. Voll erdiger Aromen, setzen auch Pfifferlinge und Topinambur gekonnte Akzente. Kohlrabi (unten im Bild und in der Mitte als Blatt zur Ummantelung von Topinambur-Crème) erweist sich zudem als stimmige vegetabile Ergänzung in einem herbstlich anmutenden Gang, dessen mürbes Fleisch und besondere Begleitung zurecht noch lange im Gedächtnis haften bleiben.

Auch vor dem Dessert lässt die Küche kein bisschen nach: ein Minzgranité mit Stückchen von persischer Limette und einer Mürbteigrosette obenauf entpuppt sich als gnadenlos erfrischendes und originelles Pré-Dessert mit Langzeitwirkung. Auf die Nachfrage des Service, ob es mir zugesagt habe, antworte ich schlagfertig, dass lediglich die Schale weniger gut schmeckte …

Ein großartiges Dessert erwartet uns zum offiziellen Abschluss: unter der kunstvollen Haube aus Meringe versteckt sich ein Türmchen aus Eis von Vacherin Glacé (quasi Dessert und Käsegang in einem!), Himbeercrème und Melone. Kongenial abgerundet wird dieses Kunstwerk von der Sauerampfer-Sauce drumherum, die säuerliche Kontraste setzt in einem Dessert, das allerdings ohnehin nicht sonderlich süß gerät. Neben der optischen Wirkung hallen auch die verschiedenen Konsistenzen, die durchdacht in das Türmchen eingearbeitet wurden, noch lange nach – ein Dessert wie geschaffen für diesen heißen Sommerabend! So wunderbar, dass man diesem Kunstwerk am liebsten gar nicht mit dem Besteck zu Leibe rücken möchte!

Ausruhen ist jedoch – für die Küche wie für den Gast – erst nach den Petits fours angesagt. War vor vier Jahren hier praktisch dasselbe wie im Sonnora angeboten worden, so war diesmal nichts davon übriggeblieben (im Uhrzeigersinn von oben): eine geeiste Cassis-Kugel, eine Eierlikör-Praline, ein Blaubeertörtchen, ein Erdnuss-Fudge und ein Kegel mit Gewürzmilch an Grand Marnier. Im Hintergrund schließlich noch weißer Nougat und rechts ein „Sex-on-the-Beach“-Minivulkan. Wie man sieht, hat dies nicht mehr viel mit den erzklassischen Ausklängen vergangener Tage zu tun! Fast beiläufig könnte man noch erwähnen, dass auch diese Petitessen das Niveau bis zum Ende hochhielten und einen überraschend guten Abend würdig abrundeten.

Verbuchten wir den damaligen Premierenbesuch als mäßig, so lag dies seinerzeit auch an einem etwas steif agierenden Sommelier, der bisweilen unbeholfen auf uns wirkte. Diesmal hingegen konnte die Servicetruppe voll überzeugen, obwohl der Posten des Sommeliers wegen eines prominenten Abgangs im letzten Jahr erst wieder neu besetzt werden muss. Restaurantleitern Adrienn Pasztusics und ihr Team meistern diese Aufgabe aber souverän. Alle Mitarbeiter geben sich trotz Corona-Einschränkungen betont lässig, aber jederzeit professionell. Die Arbeit scheint den Mitarbeitern wirklich Spaß zu machen und wirkt sich förderlich auf die Motivation aus. Kein Wunder, dass der Service maßgeblichen Anteil am Gelingen dieses Abends hat! Ach ja: die Nebenkosten, die den Gast erwarten, sind zudem absolut fair bepreist und stellen weiß Gott keinen Hinderungsgrund für einen Besuch hier dar.

Was die Küchendarbietung betrifft, so kann ich nur konstatieren: was für eine spürbare Entwicklung! Hätten wir es nicht besser gewusst, dann wären wir auch ohne weiteres davon zu überzeugen gewesen, dass der diagnostizierte Fortschritt hier fast ein Jahrzehnt in Anspruch genommen haben muss! Stattdessen hat Thomas Schanz hier binnen vier Jahren ein Niveau erreicht, das im Gegensatz zu damals die Rechtfertigung des zweiten Sterns längst obsolet erscheinen lässt. Die Teller hatten durchweg Stil und schafften es immer wieder gekonnt, klassische und moderne Elemente miteinander zu liieren. Bei alledem ist Thomas Schanz bescheiden geblieben und gehört mit Sicherheit eher zu den Leisetretern in einer Zunft, der es weiß Gott nicht an Lautsprechern mangelt.

War vor vier Jahren der Einfluss der klassischen Lehrmeister noch omnipräsent, so hat hier inzwischen eine erstaunliche Metamorphose stattgefunden: klassische Elemente und Tugenden finden sich hier im Laufe eines Abends noch immer in stattlicher Zahl, doch diesmal wirkte das Ganze weitaus leichtfüßiger und nicht mehr pflichtgemäß. Wo immer die Zuhilfenahme französischer Elemente Sinn machte, so wurde auch auf diese zurückgegriffen, doch dort, wo sie im Wege hätten stehen können, wurde bisweilen auch ganz auf sie verzichtet. Exemplarisch mögen dafür die Petits fours herhalten: vor vier Jahren schwebte der Einfluss von Helmut Thieltges offenbar immer noch über dem schanz, denn zu jener Zeit waren die Ausklänge nahezu identisch mit den Darbietungen im Waldhotel Sonnora. Diese Fesseln hat Thomas Schanz inzwischen längst abgelegt und sich von allen einengenden Zwängen zugunsten einer individuellen Ästhetik befreit. Doch auch bei ausgewachsenen Gerichten bewunderten wir mehr als nur einmal das sichere Gespür für ungewöhnliche, aber nie verstörende Aromenallianzen. Die meisten Gänge verdankten ihre große Ausdruckskraft zudem keinen knalligen Effekten, sondern filigran ausgearbeiteten Verfeinerungen, die optisch bisweilen kaum auszumachen waren und doch eine verblüffende Wirkung erzielten. Bei alledem hat Thomas Schanz nicht den Sinn für Humor verloren, denn so manche Inszenierung kam augenzwinkernd daher und schlug geschmacklich dennoch voll ein. Außerdem ist man hier clever genug, lieber ein etwas kürzeres Menü als anderswo anzubieten und dafür auf makellose Produktqualität und vor allem tadellose Arbeit zu achten.

Summa summarum genossen wir an diesem Abend eine Menüfolge, die sich durchweg auf sehr hohem Niveau bewegte und sich kein einziges mittelprächtiges Gericht gestattete. Trotz aller geistigen Durchdringung wirkte diese Parade jedoch nie verkopft oder gar verkrampft. Im Gegenteil: selten geriet Harmonie trotz durchaus nicht bescheidener Optik so natürlich wie diesmal! Ich gestehe unumwunden, dass ich einen derart großen Sprung nach vorne hier nicht erwartet hätte und dem nächsten Besuch hier schon aus gutem Grund entgegenfiebre.

Dass gerade in Corona-Zeiten viele Lokale Einschränkungen zu verdauen haben, merkte man hier überhaupt nicht an. Im Gegenteil: die für den Sommer vorgesehenen Betriebsferien wurden angesichts der zweimonatigen Zwangspause im Frühjahr kurzerhand gestrichen. Doch damit nicht genug: während anderswo die Konsequenzen der Auflagen zu spüren sind, legt man hier eine Einstellung an den Tag, die mit „Jetzt erst recht!“ treffend beschrieben wäre. Kein Gejammer, kein Klagen – die Krise soll und wird hier offenbar mit unbändiger Energie bekämpft werden. Im Hinblick auf die besonderen Umstände komme ich kaum umhin, diese Darbietung als Spitzenklasse in Deutschland zu würdigen und vergebe folgerichtig auch die sehr hohe Note.

Sollte es tatsächlich in nicht allzu ferner Zukunft mit dem dritten Michelin-Stern klappen, dann wären wohl auch die Eltern des Chefs unglaublich stolz auf ihren Filius, der innerhalb von wenigen Jahren ein durchschnittliches und unbekanntes Lokal an der Mosel auf kosmopolitisches Niveau hieven konnte. Der dritte Stern wäre für die grundsympathischen Eltern sicherlich auch die Erfüllung eines langen Arbeitslebens. Keine Frage, dass es wohl kaum jemanden gibt, der diesem Betrieb nicht diese Auszeichnung irgendwann gönnen würde. Dass Thomas Schanz mit aller Energie weiter darauf hinarbeitet, ist für die Gästeschar ein ausgesprochen glücklicher Umstand. Die Realität freilich ist weniger idealistisch: viele andere haben sich auch schon dieses Ziel gesetzt und doch nie erreicht. Seien wir also gespannt, ob es Thomas Schanz gelingt! Bis dahin begnüge ich mich mit der Gewissheit, dass man hier auch mit „nur“ zwei Sternen inzwischen wahrlich fabelhaft speisen kann.

Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten

 

schanz
Bahnhofstraße 8a
54498 Piesport
Tel.: 06507/92529
www.schanz-restaurant.de

Guide Michelin 2020: **
Gault&Millau 2020: 18 Punkte
GUSTO 2020: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER: 4 F

6-gängiges Menü: € 158