„Wer nie die ausgetretenen Pfade verlässt, kommt nur dort an, wo andere schon waren!“ (Andreas Senn)
Juli 2020
Bis vor kurzem war mir der Name des Chefs Andreas Senn noch kein Begriff gewesen – erst als ich eher zufällig von einem Zwei-Sterne-Restaurant in der Nähe von Salzburg mit dem Namen SENNS.Restaurant erfuhr, sollte sich dies ändern. Hier pflegt der noch recht junge Koch einen fusion-artigen Küchenstil, der schon sehr weit ausgereift ist und eine eigene Handschrift längst erkennen lässt. Lohn der bisherigen Arbeit: 18 Punkte im österreichischen Gault&Millau und zwei Michelin-Sterne. Das lässt sich doch schon mal gut an!
Bereits die Suche nach dem Lokal gestaltet sich aber schwierig, denn das Navigationsgerät lotst mich auf einen Parkplatz eines Areals, das eher Outlet-Shops als Restaurants zu beherbergen scheint. Als ein eher unscheinbares Schild mit der Aufschrift „Restaurant“ doch den Weg weist, kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen, oder? Als ich dann weiterlaufe, finde ich das Lokal vorerst trotzdem nicht, denn der Anblick des Gebäudes im Foto legt nicht gerade die Assoziation nahe, dass ich hier goldrichtig bin.
Einen viel ungewöhnlicheren Ort als für dieses Restauant kann man sich nämlich kaum vorstellen: in den Räumen eines ehemaligen Gusswerks, mitten in einem riesigen Industrieareal, liegt diese feine Adresse fünf Kilometer vor den Toren Salzburgs versteckt. Während der Corona-Zeit wurde das Lokal innen offenbar neu umgestaltet und bleibt fortan als Design-Ikone noch lange im Gedächtnis haften. Schon der vordere Bereich, der eine stylishe Bar aufweist (und offenbar viele zahlungskräftige Gäste nach Aufführungen bei den Salzburger Festspielen anlockt), stellt eine geglückte Symbiose aus industriellem Chic und modernen Elementen dar. Noch besser sieht es jedoch im eigentlichen Restaurantbereich aus: auf zwei verschiedenen Ebenen nehmen die Gäste Platz an riesigen, runden Tischen aus schimmerndem Metall. Der Blick schweift unweigerlich immer wieder zur offen einsehbaren, quadratischen Küche, in der ein Team aus vier Mitarbeitern die Speisen anrichtet und komponiert. Die sorgsame Ausleuchtung des Raums und der Tische mit kreisrunden LED-Lampen (deren Reflexionen auch immer wieder in den Fotos zu finden sind) sorgt für eine ungewöhnliche Atmosphäre, die insgesamt recht dunkel gerät, aber niemals unangenehm wirkt. Zwischen Backsteinmauern und zwei im Restaurantbereich platzierten großen Glocken (eine davon stehend und stattlich, die andere regelrecht monumental und über den Köpfen der Gäste schwebend) serviert man hier Gerichte, die alles andere als altmodisch geraten und den Gast zu einer fordernden Reise einladen.
Erstaunlich auch, dass nicht mehr als drei Servicekräfte sowie vier Mitarbeiter in der Küche hantieren (einer davon ist Andreas Senn höchstselbst) und doch einen überaus aufmerksamen Job erledigen. Hektik ist in der Küche jedoch ein Fremdwort: jeder Griff sitzt und macht somit jedweden Kasernenton überflüssig. Hinter dem Vorhang zum rückseitigen Teil der Küche sind sicherlich noch ein paar Personen mit profaneren Aktivitäten wie Abspülen beschäftigt, aber insgesamt scheinen so wenige Mitarbeiter tatsächlich auszureichen, wenn diese wissen, was sie zu tun haben. Erfreulich außerdem, dass die junge Kellnerin als einzige weibliche Mitarbeiterin trotz der hohen Arbeitsdichte stets ein Lächeln übrig hat und den Abend spürbar aufwertet.
Zum Aperitif auf der Terrasse kredenzt man eine Limetten-Ingwer-Limonade und fragt mich sogleich, wie viele der bis zu acht Gänge (zum Preis von € 195) es denn sein dürfen. Die Gänge werden nicht annonciert (auf der Homepage kann man sie allerdings dennoch im Voraus einsehen), doch es hätte ohnehin nichts an meiner Wahl geändert: angesichts einer Entfernung von mehr als 300 Kilometern zur Heimat darf es selbstverständlich des volle Programm sein.
Nach der Einnahme des Aperitifs geht es nach drinnen, wo unverzüglich mit den Amuses begonnen wird. Diese widmen sich (von links nach rechts) den fünf Grundgeschmacksrichtungen und wirken sehr durchdacht: eine Rotkohl-Praline mit Granny Smith obenauf (süß), dann ein Amaranth-Cracker mit Ponzu (sauer), weiter mit Kohlrabi und Alge (salzig), gefolgt von grünem Spargel und Zitronat (bitter) sowie schließlich Hühnerhaut, Shiitake und Schnittlauch (Umami). Dieser kleine Reigen überzeugt durch seine kompakte und doch vielfältige Aromenwelt. Das lässt sich schon mal gut an.
Ein weiterer herzhaft-intensiver Gruß aus der Küche ist der Bun mit Pulled Pork und Gurke gefüllt. Zubereitung, Konsistenz und Temperatur der Füllung lassen nichts zu wünschen übrig.
Das ausgesprochen heiße Brot (leider habe ich den Service hier bei der Ankündigung ausnahmsweise nicht verstanden) und speziell die mit Kräutern aromatisierte braune Butter sind so suchtfördernd, dass man achtgeben muss, nicht zuviel davon zu verzehren und womöglich schon frühzeitig einen Grad an Sättigung zu erreichen, der das Menü nicht würdigen könnte.
Nun wird es aber ernst: mit Reinanke, Rettich, Molke und Kerbel zaubert die Küche einen federleichten und unwahrscheinlich sorgsam ausbalancierten Einstieg auf den Teller. Handwerklich gesehen mag dieser Einstieg gar nicht so kompliziert sein, aber die hohe Meisterschaft in allen Details (allen voran die spritzig-fruchtige Molke) lässt im Bezug auf das Kommende auf ein sehr hohes Niveau schließen. Ein dezenter Einstieg mit viel mehr Raffinesse als es optisch scheint.
Die gebratene Gänseleber schwimmt in einer erfrischenden Verjus und ist getoppt mit Marille und Goldrübe. Die Scheibe obenauf besteht aus hauchdünn geeister Gänseleber mit geeisten Perlen von Schnittlauch, wenn ich mich noch richtig erinnere. Das ausgelassene Spiel mit Konsistenzen und Temperaturen wird den Abend auch weiterhin bestimmen, wenngleich das Ergebnis hier eine reizende, aber nicht denkwürdige Variante darstellt. Die Qualität der Produkte ist trefflich, aber ihre Kombination überzeugt mich nur bedingt.
Ganz anders dagegen beim ersten wirklichen Höhepunkt des Abends: Langostino aus Südafrika wird in ein ungewöhnliches Gewand aus Erbsen, Physalis und Artischocke gekleidet. Die leicht bissfeste, geradezu ideale Konsistenz des Hauptdarstellers allein macht schon enorm viel her, doch das hinreißende Speil zwischen eleganter, fruchtiger Säure und zurückhaltenden vegetabilen Aromen gelingt ganz ausgezeichnet. Im Grunde genommen wird der Fokus durch die Begleiter nur minimal von dem grandiosen Krustentier abgelenkt, dessen Verzehr zur wahren Wonne wird. Superb!
Dafür, dass Verfremdung von Produkten recht häufig ein Kennzeichen von Fusion-Küche ist, hielt sich das Team um Andreas Senn noch zurück. Trotz origineller Ideen waren Produkte und Texturen bisher gut zu erkennen, doch mit dem nächsten Gang, „Caesar Salad“, änderte sich dies rasch. Ich gebe zu, dass nach dem Servieren anfangs die Skepsis überwog, doch erwies sich diese schon bald als unbegründet. Die grüne Halbkugel ist eine hauchzart geeiste Hülle mit Salataromen, unter der die übrigen Zutaten versteckt sind. Dazu gehören in freier Abwandlung des Originals heiße Calamaretti (anstelle von Hähnchenfleisch) sowie schmelziges Eigelb und Parmesan – alles in verschiedenen Temperaturen, die zudem durch die eiskalte Hülle eine ganze Zeitlang bewahrt bleiben. Das ganze Gericht schwimmt in einem leichten Schinkenfond und begeistert durch die nur so vor eigenen Ideen strotzende Dekonstruktion dieses Klassikers. Da zudem alle Zutaten von makelloser Qualität sind, bleibt dieser kreative Höhenflug zurecht noch lange im kulinarischen Gedächtnis haften.
Eine kleine Aromenbombe gibt es auch bei schwarzem Seehecht mit Gurke, Crème fraîche und Imperial Gold Kaviar zu bestaunen. Der kompakt unter leicht geeister Gurke versteckte Hauptdarsteller wird im Grunde genommen nur durch verschiedenste Texturen der Gurke umspielt und gerät dabei doch sehr ansprechend begleitet. Etwas Dill, Kaviar und und der leichte, mit der Crème hauchzart verfeinerte Sud reichen schon aus, um ein beachtliches Aromenfeuerwerk zu zünden.
Eine dünne Tranche vom aromensatten und doch erstaunlich mageren Iberico-Schwein garniert die Küche mit Zwiebeln und Yuzucrème, doch der Auberginenrelish und der Misoschaum dominieren in aromatischer Hinsicht. Keineswegs zurückhaltend auch die geschmorte Zwiebel unten links, die gut zur rustikalen Aromenwelt des Iberico passt. Kein Highlight, aber fraglos gelungen.
Frei nach dem Motto „Beim Hauptgericht hört der Spaß auf!“ könnte man meinen, dass die Küche plötzlich selbst den Glauben an ihre Fähigkeiten verloren hat. Nicht damit wir uns falsch verstehen: handwerklich ist bei Rehrücken, Kraut, Malzerde und Sauerklee alles untadelig, aber die leicht zu erkennenden Begleiter machen aus diesem Gang im Vergleich zu den bisherigen Darbietungen einen fast schon unangemessen dezenten und einfallslosen Beitrag, der mit viel Wohlgeschmack, aber ansonsten kaum mit etwas anderem punkten kann.
Beim Dessert dagegen zieht die Küche nochmals alle Register ihres Könnens: der schwarze Naturreis Riso Venere hält in Form von dünnen, geeisten Plättchen eine mutige Kreation zusammen, die allerdings klar von den ausgelassenen Texturen von Kirsche und Shisokresse dominiert wird. Knapp an der Grenze zum Überladenen, überzeugt dieser Gang trotz allem durch eine für ein Dessert teils erstaunlich herbe Aromatik, die in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich gerät und mit nicht wenigen Überraschungen (unter anderem wieder bei den Temperaturen) aufwartet. Ein ungewöhnlich individueller Abschluss, der wieder besser ins Bild als der Hauptgang passt.
Zum (gar nicht so) süßen Abschluss bedient die Patisserie nochmals dieselbe Aromenwelt wie zu Beginn (von links nach rechts): weißer Nougat mit Pistazie ummantelt (süß), eine Schokoladenpraline mit flüssiger Schokoladenfüllung und Passionsfrucht (sauer), eine Praline aus weißem Salzkaramell und Fleur de sel (salzig), ein Mandelcracker mit Grapefruit und Pomelo (bitter) sowie ein mit roter Bete aromatisierte Schaumkuss (Umami). Auch hier vermochten die Ideen abermals zu überzeugen und wurden sicher in die Tat umgesetzt – ein würdiger Abschluss, mit dem sich der Kreis schließt.
Die bereits eingangs erwähnte Serviceleistung hinterließ einen nachhaltigen Eindruck: jung, flink, aufmerksam und kompetent. Mit der gebotenen Distanz und ohne jede Form von Überwachung geleitete man mich durch diesen aufregenden Abend. Passend zum industriellen Chic ist übrigens auch das Besteck hammerbeschlagen. Ohne Umschweife wird mir außerdem beim Gehen ein Schirm angeboten, denn zu diesem Zeitpunkt wütete das für diesen Abend angekündigte Gewitter bereits mit voller Kraft über Salzburg: der Weg zurück zum Wagen geriet zu einer äußerst nassen Angelegenheit, doch wenigstens konnte man danach mit dem PKW direkt vorfahren und den Schirm so zurückgeben.
Andreas Senn selbst zog an diesem Abend so ziemlich alle Register seines Könnens und wartete mit jeder Menge kühner Ideen auf, die größtenteils voll einschlugen. Eine bisweilen knallige, aber nicht überladene Optik erhöhte teils auch die Vorfreude auf die Gerichte, die selten mit Überraschungen geizten und ihre Vorzüge manchmal erst nach und nach preisgaben – nirgends wurde dies deutlicher als bei dem dekonstruierten Caesar Salad. Aromensatte Teller mit viel Gespür für ungewöhnliche Kombinationen dominierten diese Darbietung, die hohe Meisterschaft verriet und die angestrebte Weltklasse durchaus schon mal aufblitzen ließ. Beim Hauptgang schien die Küche der Mut zwischenzeitlich verlassen zu haben, doch alles andere wartete mit hochgradig individuellen Einfällen und Experimenten auf, die dem Abend ihren Stempel aufdrückten. Ein zwischenzeitliches Absenken der aromatischen Intensität wäre bisweilen gewinnbringend, da sich mit der Zeit der Eindruck eines Abends mit einem hohen Anteil an Vollgas aufdrängt. Trotzdem sei diese Anregung insgesamt relativiert, denn für sich genommen konnte (trotz leichter Abstriche beim Hauptgang) praktisch jeder Gang mehr oder weniger überzeugen – lediglich eine subtilere Dosierung der Aromen würde noch mehr Reife suggerieren. Dass sich hier eine starke Entwicklung abzeichnet, steht für mich außer Frage. Man darf gespannt sein, wie weit nach oben es Andreas Senn noch bringen wird. Selbst wenn er auf dem aktuellen Niveau innehielte, dann wäre dies immer noch Anlass genug, hier regelmäßig vorbeizuschauen. Kostentechnisch bewegt sich hier außerdem alles im absolut fairen Rahmen, denn die geforderten € 195 für ein achtgängiges Menü auf diesem Niveau sind ein eher unterdurchschnittlicher Preis. Auch bei den Nebenkosten wird hier niemand über den Tisch gezogen, so dass erfreuliche finanzielle Rahmenbedingungen das Erlebnis weiter aufwerten.
Und so möge ein Wortspiel im Bezug auf die Location das Fazit darstellen:
Dieser Abend geriet praktisch wie aus einem Guss!
Mein Gesamturteil: 19 von 20 Punkten
SENNS.Restaurant
Söllheimer Straße 16 (Gebäude Nr. 6)
5020 Salzburg (Österreich)
Tel.: 0043/664/4540232
www.senns.restaurant.de
Guide Michelin (Main Cities of Europe) 2020: **
Gault&Millau Österreich 2020: 18 Punkte
Falstaff 2020: 96 Punkte
A la carte (Österreich): 96 Punkte
8-gängiges Menü: € 195