„Die Kunst des Lebens fängt da an, wo dessen Natürlichkeit aufhört.“ (Karl Ferdinand Gutzkow)
UPDATE (Juni 2022)
Etwas außerhalb des Zentrums gelegen, würde man nach wie vor ohne Vorkenntnisse in diesem ehemaligen Toiletten- und Kioskhäuschen der Deutschen Bahn kein herausragendes Restaurant vermuten. Nichtsdestotrotz ist es Chefkoch Tony Hohlfeld und seiner Partnerin Mona Schrader im Laufe relativ weniger Jahre gelungen, hier eine Adresse zu etablieren, die in der Szene durchaus bundesweit bekannt ist. Die zwei Michelin-Sterne haben daran natürlich einen massiven Anteil, aber auch die meistens abseits der Konventionen agierende Küche lockt scharenweise aufgeschlossene Gäste an den Stadtrand von Hannover. Das mit viel Holz und einer vollverglasten Fensterfront eingerichtete Lokal hat etwas Rustikales und fast Nordisches einerseits, aber zugleich etwas Entspanntes, das mit der oft kolportierten Steifheit in solchen Lokalen nichts zu tun hat.
Vor wenigen Monaten veröffentlichte der Saarländische Rundfunk zudem eine sechsteilige Doku über junge Sterneköche der Republik, in welcher unter anderem Chefkoch Tony Hohlfeld und sein Lokal näher vorgestellt wurden. Wenngleich diese halbstündige Sendung namens „Am Pass“ (die übrigens nach wie vor über die Mediathek des SR aufrufbar ist) gerne etwas weniger platzfüllend die Vorliebe des Chefs für Tätowierungen hätte betonen müssen, so gewährte sie doch spannende Einblicke in das kulinarische Refugium und das Leben eines Chefs außerhalb der Küche gleichermaßen.
Unser letzter Besuch vor knapp zwei Jahren war mir noch gut in Erinnerung, hatte er doch einige Erkenntnisse über einen eher ungewöhnlichen Zweisterner zu bieten. Wir wurden Zeuge eines Küchenstils, der sich einerseits in der Nähe von Lokalen bewegt, die ausgeprägt regional denken (wie z.B. das etz in Nürnberg oder das Horváth in Berlin), aber andererseits weitaus weniger rustikal daherkommt und mit radikalem Purismus nicht sehr viel anfangen kann. Vielmehr arbeitet diese Küche durchaus mit eher profanen Viktualien, setzt aber deren Qualitäten teils durch gezielte Verfremdung und ungewöhnliche Techniken in ein neues Licht – meine Neugier, was sich seither getan hatte, war also durchaus angebracht, zumal dem Vernehmen und der Reportage nach der Küchenstil inzwischen weiter ausgereift und konzentriert worden sein soll. Nicht zuletzt dank der Reportage des SR war mein Wunsch, hier wieder einzukehren, abermals verstärkt worden, so dass ich meine Bemühungen intensivierte und dies schließlich erfolgreich mit einem Harzurlaub verknüpfen konnte.
Rein äußerlich hatte sich nichts verändert – nur dass ich diesmal einen Platz im Lokal und nicht an der Bar wie beim letzten Mal zugewiesen bekam. Ansonsten wird das Geschehen von einer relativ quirligen, jungen Servicetruppe dirigiert, die ohne große Umschweife als alkoholfreien Apéritif einen Sparkling Tea und die ersten Apéros (allerdings einzeln und nacheinander) auftragen lässt: den Auftakt bildet ein halbgefrorener Karotten-Haselnuss-Taler mit Sauerklee obenauf. Auf ein Röllchen aus Kirschleder, das mit Paprika, Sauerampfer und Maisschaum gefüllt ist, folgt noch zum Schluss ein Steinpilztaler, der aus zwei Scheiben als knusprigem Sandwich und einer Crème aus Kräuterseitlingen als Füllung besteht. Die beiden umrahmenden Petitessen sind beide recht süß geraten, konzentrieren aber zumindest auf dichtem Raum puren Geschmack. Das Intermezzo will mir hingegen nicht zusagen, weil ich der auf mich befremdlich wirkenden Konstellation an Produkten wenig bis nichts abgewinnen kann. Jedenfalls beeindruckt dieser Einstieg weit weniger als die Darbietung vor zwei Jahren, welche mit deutlich mehr Esprit und auch Feingefühl im Geschmack aufwartete. Wer außerdem nach diesen Beiträgen von überschaubarer Grüße noch auf ein Amuse hoffte, wird zudem enttäuscht.
Es folgt umgehend die Brotauswahl (wenn man sie so bezeichnen möchte), welche wie schon vor zwei Jahren ein Sauerteigbrot zu bieten hat und eine Butter, die diesmal mit einem Pulver von gegrilltem Gemüse bestäubt ist – diesem Teil der Menüfolge scheint man also nach wie vor keine besonders große Aufmerksamkeit zu widmen.
Nach wie vor gibt es hier eine einzige Menüfolge zu sieben Gängen für € 175, wobei genau wie im VOTUM zwei Tage zuvor ein Aufschlag von € 15 für dasselbe Menü freitags und samstags erhoben wird. Zwei zusätzliche Gänge werden zum Preis von jeweils nicht gerade schlappen € 40 offeriert, welche ich beide ausschlage: der Hummergang scheint mir fast derselbe wie vor zwei Jahren zu sein (siehe unten), der zudem der Darbietung im VOTUM einigermaßen ähnelte. Der andere Gang rund um Kaviar scheint mir mit der Stilistik des Hauses eher zu fremdeln, weshalb ich es bei der „normalen“ Menüfolge belasse und sehe, wie sich die Dinge entwickeln werden.
Den Auftakt ins Menü gestaltet die Küche jedenfalls mit Garnele, die sich an einer mit Ingwer und Apfel aromatisierten Molke laben darf. Die Chips aus getrocknetem Krustentiersud erhöhen den Spaßfaktor ein wenig, während etwas Rhabarber geschickt federnde Säure ins Spiel bringt. Trotz des Aufwands entsteht hier ein eher puristischer Gang, der seinen Reiz hauptsächlich aus der knackigen Konsistenz des Krustentiers einerseits sowie der feinen Balance zwischen Säure und leichter Schärfe andererseits bezieht. Das ist ein durchdachter und ordentlicher Einstieg, der über den etwas mauen Auftakt hinwegtröstet.
Bezüglich der Bewertung des nächsten Gangs spreche ich vorab eine kleine Warnung aus: dass solche Urteile immer subjektiv geraten, belegt die Tatsache, dass der nächste Gang im GUSTO über den grünen Klee gelobt wurde, während ich mich dieser Einschätzung unter keinen Umständen anschließen würde.
Meine Sammlung an Anekdoten über zu süß interpretierte Lebergerichte würde inzwischen wohl schon ein kleines Buch füllen, doch der nächste Gang schoss den Vogel wahrhaft ab: warum um alles in der Welt muss eine derart cremige und überzuckerte Variante auch noch auf der karamellisierten Haut des Huhns platziert werden? Leider schaffen es gerösteter Amaranth und Oxalis (aromatisch zu blass, um aufzufallen) in keinster Weise, dem Gang etwas von seiner unerträglichen Zuckerlastigkeit auszutreiben, so dass unterm Strich – ich muss das leider so deutlich sagen – ein Gang am Rande der Ungenießbarkeit steht. Das ist in etwa so subtil wie ein industriell hergestellter Schokoriegel mit Karamell und ein völlig aus der Balance geworfener, eindimensionaler Gang, der meinen Magen einfach nur ohne jeden Genuss belastet. Selten hat mich ein Teller fassungsloser gemacht.
Aber wie gesagt: anderen Gästen und dem GUSTO scheint es gefallen zu haben …
Einen ziemlichen Kontrast stellt glücklicherweise der nächste Gang dar: Miso, Waldmeister, Meerrettich und Peperoni-Öl wurden allesamt zur Veredelung eines Kohlrabisuds hinzugezogen. Dieser umspielt mit feiner Säure eine Julienne von Chicorée und schafft so einen leicht bitteren Kontrast mit Biss zu dem Zander, der zwar einerseits schön saftig gerät, aber unerklärlicherweise wieder aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen obenauf karamellisiert werden musste – eine entbehrliche und sinnlose Maßnahme, die das Gericht eher entwertet als aufwertet. Das ist trotz allem ein konzentrierter und vorzeigbarer Teller, der aber gut ohne das geschilderte Menetekel hätte auskommen können. Ein Saft von Staudensellerie mit Essig und Zesten von Mandarine zeigt, dass, obschon er gelingt, Komplexität hier offenbar stets den Vorzug vor Natürlichkeit erhält. Artistik schön und gut, aber ihre Zweckdienlichkeit darf bisweilen in Frage gestellt werden.
Eine verfremdete Stange Spargel beansprucht die Aufmerksamkeit des Gastes im nächsten Beitrag: dieses Exemplar wurde gegrillt und mit fermentierter Stachelbeere glasiert. Die begleitende Hollandaise wurde ebenfalls variiert und mit einem Zitronen-Kräuter-Öl sowie Rinderfett anstelle von Butter gebunden. Der erneuten Fermentation hätte die sichere Zubereitung des makellosen Spargels wohl kaum bedürft, und die Variante bei der Hollandaise ist sicher eine nette Alternative, aber schwerlich als „animalisch“ zu bezeichnen, wie sie der Service im Vorfeld tituliert. Erneut wäre hier weniger eher mehr gewesen – einen signifikanten Zugewinn an Geschmack durch die teils krampfhaft anmutenden Ideen konnte ich nicht ausmachen.
Zum Hauptgang reicht der Service separat ein Stück Schinken vom Wollschwein, das 200 Tage (!) lang abgehangen war. Diese hauchzarte, doch kompakte Umami-Wucht erfreut den Gaumen, aber der massige Apfelchip mit penetranter Säure darunter trübt die Freude wieder spürbar, schwächt er die Wirkung des zarten Fleischs unnötig ab. Der Hauptteller selbst dreht sich um Bauch vom Duroc-Schwein, welches ebenfalls in abgehangener Variante hochkomplex umspielt wird: nicht weniger als Obsthonig, Liebstöckel, Verbene, Ahornsirup und ein Schuss Whisky werden aufwendig zu einer Art gehaltvollem BBQ-Lack verarbeitet. Kapern, Vogelmiere und Kapuzinerkresse setzten dezent bittere Noten, welche angesichts der Ummantelung dringend angezeigt sind. Eine Holunder-Meerrettich-Vinaigrette steuert ihren Teil zu diesem wuchtigen Gang bei, der isoliert betrachtet viel Umami versprüht, aber leider dank des BBQ-ähnlichen Geschmacks wieder eine recht süße Grundausrichtung hat. Die Einordnung des Getränks aus gelben Beten, Meerrettich und Kaffee fällt mir nicht leicht: es schmeckt besser als erwartet, stellt aber kaum einen Bezug zu dem Gericht her.
Ohne Umschweife und keine zehn Minuten nach dem Hauptgericht (!) folgt schon das erste Dessert, von dem ich in der Eile vergesse, ein Foto zu machen – ich entsinne mich noch, dass es in puncto Optik das unauffälligste des Abends war und in einem tiefen Schälchen präsentiert wurde. Jedenfalls befindet sich darin Erdbeere in verschiedenen Texturen, doch das mit verschiedenen Gemüsesäften aromatisierte Crumble und Spargelkaramell (wie oft denn noch?!) wetteifern ein wenig um die Gunst des Gastes. Dünn gehobelte Pilze und etwas Schokolade verstärken in mir den Eindruck einer beliebigen Zusammenstellung, die alles andere als eindringlich gerät und lediglich durch einen hohen Grad an Künstlichkeit länger im Gedächtnis bleibt. Randnotiz: dieser Teller steht übrigens schon zwei Stunden nach meiner Ankunft schon auf dem Tisch.
Das zweite Dessert ruht auf einem Sud von Sauerampfer und dreht sich hauptsächlich um Blaubeere und Schmand in verschiedenen Konsistenzen und Texturen. Meine Aufmerksamkeit ist inzwischen angesichts der Fülle an Details bei jedem Gang spürbar erlahmt; so nehme ich noch wahr, dass der herb-vegetabile Einfluss die süßliche Ausrichtung etwas abzufedern vermag, aber der Funke will erneut nicht überspringen. Von der Optik her mag dies der aparteste Teller sein, aber im Gedächtnis haften bleibt er trotzdem nicht.
Den einzigen Abschluss bildet noch eine Art Pain au Chocolat, mit Tonkabohne aromatisiert. Das schmeckt freilich ganz ordentlich, aber für die Ansprüche einer Zwei-Sterne-Restaurants ist das trotz allem überaus mager. Dass sich ein Restaurant dieser Klasse mit einem derart lustlosen und simplen Ausklang, der eher ein Frühstück würdig abrunden könnte, zufrieden gibt, macht mich einigermaßen ratlos: kein Esprit und kaum mehr als der lästigen Pflicht Genüge getan. Da bleibt noch viel Luft nach oben.
Zwar bleibt festzuhalten, dass Tony Hohlfeld und sein Team eine deutliche Handschrift etabliert haben, doch diesmal konnte mich das Gebotene nicht annähernd so fesseln wie bei der Premiere. Der betriebene Aufwand war den Gerichten und den Ankündigungen zwar deutlich anzumerken, aber insgesamt lohnte des geschmackliche Endergebnis diese Mühen eher selten. Eine hochgradig künstlich anmutende Stilistik zeigte zwar Wege auf, wie man liebgewonnene Zubereitungen (wie z.B. beim Spargel) auch mal ad absurdum führen kann, aber wirklich besser war das Endergebnis meist nicht, sondern allenfalls anders. In den besten Fällen führten die ungewöhnlichen Ideen durchaus zu neuen Einsichten und inspirierenden Erlebnissen (wie bei der Garnele), aber leider war dies insgesamt zu selten der Fall. Auch beim Hauptgericht erwartete den Gast eine mit viel Aufwand und geistiger Durchdringung gestaltete Eingebung, doch selbst hier wurden ausgezeichnete Ansätze immer wieder durch eigenes Zutun verwässert, wie der massige Apfel zum Speck einmal mehr belegte. Die meisten anderen Gerichte bewegten sich im durchschnittlichen Bereich, vermochten aber nicht, bleibende Eindrücke zu hinterlassen, weil ihr hohes Maß an Künstlichkeit insgesamt zu selten gerechtfertigt wurde – was beim ersten Besuch deutlich anders war.
Dann war da noch der Gang mit der Leber, der in meiner Gunst eindeutig durchfiel, doch viel bedauerlicher an sich fand ich noch den Ablauf dieser Menüfolge, bei der fast jedes zweite Gericht eine viel zu süßliche Ausrichtung hatte: angefangen bei dem Pilztaler, über Leber und karamellisierten Zander, der BBQ-Lack im Hauptgericht und die Desserts samt dem alibihaften Ausklang am Ende. Hier fehlte es mir deutlich an mehr aromatischer Abwechslung und Mut, das süße Spektrum häufiger zu verlassen, denn so wie die Dinge lagen, entstand in mir der Eindruck einer Menüfolge ohne echte Dramaturgie, die sich mehr oder weniger spannungslos hinzog und deren Handwerk vor allem darauf abzielte, Fermentation und Karamellisierung als neues Credo der Küche auszurufen. Letztlich muss man festhalten, dass meine große Vorfreude am Ende des Abends kaum bestätigt wurde, zumal mich auch die Rahmenbedingungen teils ratlos machten.
Dass man – wie schon in meiner ersten Rezension geschildert – hier dem „Jantelag“ durchaus frönt, war mir noch in Erinnerung. Das geht aber inzwischen so weit, dass das Besteck in einer Schublade unterm Tisch aufbewahrt wird und zur Selbstbedienung gedacht ist – was in einem Biergarten oder einem Brauhaus (dort sind es dann meist Steinkrüge auf dem Tisch) noch durchaus üblich sein mag, hat für meine Begriffe in einem Zweisterner nichts zu suchen. Auch die Tatsache, dass ich die zwei zusätzlichen Gänge ausschlage, macht sich für meine Begriffe bei der weiteren Serviceleistung bemerkbar, denn viel mehr als den Dienst-nach-Vorschrift-Modus gibt es fortan kaum zu bewundern. Die meist ausufernde Erläuterung der Gerichte wirkt selten hilfreich, sondern eher wie der Versuch, dem Gast sein Urteil schon im Voraus zu suggerieren (wie bei der „animalischen“ Hollandaise, die keineswegs denkwürdig geriet). Teils berauscht man sich hier an seinen eigenen vermeintlich großartigen Ideen und kann dann kaum verstehen, wenn der Schuss doch nach hinten losgeht. Dem quirligen Service macht die Arbeit an sich schon Spaß, doch allzu oft wirkt das Gebaren einfach jovial oder hektisch: da werden Gänge in völlig unvorhersehbaren Abständen aufgetragen, und doch ist der gesamte Abend nach nicht einmal drei Stunden abgewickelt. Ein leeres Wasserglas, das längere Zeit nicht auffällt, und die Tatsache, dass selbst bei meinem Abgang noch das Brot auf dem Tisch steht, sind da nur weitere Beispiele. Bedenkt man dann noch die aggressive Kalkulation bei den Nebenkosten und die spartanischen Extras, so fällt mein Fazit leider auch hier alles andere als wohlwollend aus.
Dass Tony Hohlfeld eine ganze Menge kann, steht für mich nach wie vor außer Frage – zumal er es bei der Premiere ja durchaus schon bewiesen hat. Diesmal hingegen ließ ihn zwar nicht sein Handwerk, aber sein Gespür mehrmals im Stich: die viel zu süße Grundausrichtung des Menüs, das hohe Maß an Künstlichkeit und die zu häufig ausbleibende geschmackliche Rechtfertigung für den betriebenen Aufwand stellten – neben dem Service – die größten Mängel dieses Abends dar. Sicherlich sind das Umstände, die absolut behebbar sind, doch dazu müsste an den Stellschrauben gedreht werden: vor allem sollte der Geschmack die eingesetzten Techniken rechtfertigen und nicht umgekehrt. Die zwei Michelin-Sterne sah ich an diesem Abend jedenfalls zu selten bestätigt. Aufgrund der ernüchternden Eindrücke dieses Abends kann mein nächster Besuch hier ein paar Jahre warten.
Mein Gesamturteil: 16 von 20 Punkten
Jante
Marienstraße 116
30171 Hannover
Tel.: 0511/54555606
www.jante-restaurant.de
Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2021: 17 Punkte
GUSTO 2022: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 3,5 F
7-gängiges Menü: € 175 (Dienstag bis Donnerstag) / € 190 (Freitag und Samstag)
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„Kochen ist eine Sprache, durch die man Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und Kultur ausdrücken kann.“ (Ferran Adrià)
Oktober 2020
In ihrer reinsten Form konnte sich die Nordische Küche nie so richtig in Deutschland durchsetzen, wenngleich es mit dem sosein in Heroldsberg oder dem Horváth in Berlin zumindest Lokale gibt, deren Stilistik einigermaßen stark an diese Strömung erinnert. Ein weiteres Lokal in dieser Sammlung ist das seit diesem Jahr zweifach besterne Jante in Hannover, wo Chefkoch Tony Hohlfeld und seine Lebensgefährtin Mona Schrader, die gleichzeitig Sommelière und Restaurantleiterin ist, ein junges Team an Gleichgesinnten um sich geschart haben. Kaum einer aus diesem Team ist signifikant älter als dreißig: das wirkt sich auf die unbändige Energie und den Tatendrang, die man hier an den Tag legt, spürbar aus. Noch erstaunlicher erscheint, dass diese junge Truppe bereits ein Niveau erreicht, das einen zweiten Michelin-Stern zu rechtfertigen scheint. Davon wollen wir uns persönlich überzeugen und scheinen im Vorfeld bestätigt zu bekommen, dass an den Auszeichnungen etwas dran sein muss: trotz einer Anfrage drei Wochen im Voraus wegen einen Tischs für zwei Personen unter der Woche bleibt uns als einzige Wahl die Bar. Dass sich genau diese eher als glückliche Fügung denn als Manko entpuppen sollte, zeigte sich dann im Laufe des Abends.
Doch ich will nicht vorweggreifen und schildern, dass bereits die Anreise problematisch ist. Wir quälen uns durch den Südosten von Hannover durch zahllose Baustellen und Ampeln. Die Parkplatzsituation ist als angespannt zu bezeichnen, und die Suche nach dem Restaurant selbst hätte sich trotz Navis schwierig gestaltet, wenn wir nicht schon ungefähr gewusst hätten, wie das Lokal aussieht. Als wir schließlich davor stehen, können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass wir in dieser „Bahnhofstoilette“ niemals ein Zwei-Sterne-Restaurant vermutet hätten. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen: das heutige Lokal war früher tatsächlich eine Diensttoilette der Deutschen Bahn für Angestellte des nahegelegenen S-Bahnhofs! Man kennt ja so manche urige Location: das The Jane in einer ehemaligen Kirche in Antwerpen oder das De Librije in Zwolle in einem ehemaligen Frauengefängnis. Nun können wir dieser skurrilen Sammlung also guten Gewissens ein Toilettenhäuschen hinzufügen!
Innen ist das Lokal mit gebogenem Grundriss tatsächlich sehr hell, mit viel Holz eingerichtet und mit einer großzügigen Fensterfront ausgestattet. Von dieser aus erspäht man zum Glück weder die breite Straße vor dem Lokal noch die ICE-Trasse, die direkt hinter dem Haus (eine Etage höher) vorbei führt. Ganz ansprechend scheint auch der Garten zu sein, doch an diesem nasskalten Abend stellt er leider keine ernstzunehmende Alternative dar. Wir nehmen also an den Barhockern Platz, die mit einem Bärenfell belegt sind – und bekommen schnell Einblick in die Gepflogenheiten des Hauses. Selbst wenn Chefkoch und Sommelière beide an diesem Abend wegen einer privaten Feier fehlen, so wird schnell deutlich, dass auch die restliche Belegschaft ohne die Primi inter pares gut klarkommt und den Laden sicher im Griff hat – quasi eine Art gelebte Demokratie, denn auch rangniedrigeren Küchenmitarbeiten wird hier offensichtlich das Recht eingeräumt, Vorschläge für neue Gerichte einzubringen. Der Name des Restaurants spielt übrigens auf das in Schweden bekannte Jantelag an: eine Art Verhaltenskonvention in der Gesellschaft, die darauf abzielt, sich selbst nicht zu überhöhen und dem Gegenüber das Gefühl zu geben, er sei gleichberechtigt – ein Prinzip, das man auch hier im Service und in der Küche bis in die letzte Pore zu leben scheint. Kein Wunder, dass der Küche bislang jedenfalls die Ideen nicht auszugehen scheinen, obwohl die Menüfolgen in verhältnismäßig raschem Wechsel zu erfolgen scheinen. Wir sind gespannt, denn die Rahmenbedingungen lassen sich unseres Erachtens gut an!
Zur Auswahl steht eine einzige Menüfolge mit sieben Gängen zu derzeit € 125 an. Zur absoluten Besonderheit gerät dieser Preis, weil das identische Menü freitags und samstags für € 140 angeboten wird. Mit anderen Worten: durch diesen geschickten Schachzug wird die Attraktivität für einen Besuch unter der Woche erhöht. Wir beißen an und rätseln, ob ein Menü zu diesem Preis auf diesem Niveau etwas taugen kann. Am Tag unseres Besuchs bietet man außerdem einen weiteren eingeschobenen Gang an, den wir ebenfalls nicht ausschlagen – dazu später mehr.
Los geht es mit einem Traubensecco vom Hersteller Raumland – dazu serviert man nacheinander drei hochkomplexe und durchdeklinierte Einstimmungen. Als erstes drapiert die Küche auf einem bearbeiteten Naturstein ein Arrangement aus Oxalis (Sauerklee) und Karotte. Versteckt unter diesem Bouquet finden sich auch Oxalis-Eis, braune Butter und Texturen von Haselnuss. Diesen animierenden Einstieg finden wir sehr gelungen, denn neben dem absolut bemerkenswerten Geschmack rund um eher herbe und grüne Aromen ist es die individuelle Prägung der Gerichte, die uns sofort ins Auge springt. Wir können uns an nichts Vergleichbares erinnern.
Der Aufwand, den die Küche betreibt, erhöht sich abermals beim zweiten Amuse: auf einer Holzkugel wurde Johannisbeere so lange ausgestrichen, getrocknet und geliert, bis sie wie eine Art aufrollbare Matte funktioniert: das Gericht ist als Ganzes zu nehmen, indem man von zwei Seiten her die „Unterlage“ packt und die Füllung, einem anatolischen Döner nicht unähnlich, einwickelt. Besagte Füllung kombiniert Meerrettich, karamellisierte braune Butter und Mohn zu einem hinreißenden Gemisch mit äußerst präsenter und ungewöhnlicher Aromatik. Das Kalkül geht jedoch bestens auf, denn langweilig war dieser Einstieg keine Sekunde. Wunderbar!
Noch einen drauf setzt die junge Crew mit dem dritten Amuse: in dem stimmigen Potpourri aus roten Beten, Radieschen und Parisienne-Karotten sorgen Hefe und Holunderblütensud für Akzente der exotischen Art. Diese Eingebung hat schön knackigen Biss und überrascht mit aromatischer Vielfalt, die man von diesem Gericht nicht unbedingt so vermutet hätte.
Nicht ganz so spektakulär gerät die Brotauswahl mit einem Sauerteig und Nussbutter, doch angesichts der noch zu verzehrenden Mengen wäre ein reichlicher Brotkonsum ohnehin eine eher fragwürdige Idee. Trotz allem sei nicht verschwiegen, dass die Qualität auch hier überzeugt.
Nach diesem erstaunlichen Einstieg ohne jede Form von kopierten Ideen oder biederer Langeweile werden uns zwei Dinge schnell klar: erstens schadet ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit hier bestimmt nicht, da der Gast praktisch unentwegt aus seiner Komfortzone gezwungen wird. Zweitens betreibt die Küche einen horrenden Aufwand, der beim Auftragen der Gerichte dem Gast detailliert erläutert wird und hier nur bruchstückhaft wiedergegeben werden kann, da dies jede Gedächtnisleistung sprengen würde. Ich lasse mich außerdem davon noch überzeugen, die alkoholfreie Getränkebegleitung zum Menü zu nehmen, die gerade in nordisch geprägten Lokalen oft sehr ungewöhnlich gerät – und noch eine andere unangenehme Überraschung parat haben sollte …
Tomate, Aal und Lauch – so profan wird der erste Gang angekündigt, dessen Beschreibung kaum bescheidener ausfallen könnte. Eingelegte Tomaten kombiniert die Küche mit Texturen von Erdbeeren (!), während ein Öl vom Aal, das mit Schnittlauch verfeinert wurde, die Basis des Gerichts bildet. Ungarischer Lángos verleiht dem Gang zusätzliche Leichtigkeit, während Streifen von Lauch dezente Schärfe beitragen. In Summe ist dies ein ungemein erfrischendes Gericht, dessen leichte und zugleich komplexe Säure im thematischen Mittelpunkt steht. Großartige Balance und kreative Umsetzung machen aus diesem Gang einen Volltreffer, der nahtlos dort anzusetzen scheint, wo die Küche soeben aufgehört hat. Ins Glas kommt ein Tomaten-Erdbeer-Wasser, das mit salzigem Käse-Öl ein wenig veredelt wurde. Klingt seltsam, funktioniert aber prächtig!
Huhn, Haselnuss und Kirsche – so die leicht irreführende Bezeichnung des nächsten Gangs. Das Huhn bildet nämlich in Form von Hühnerlebereis das Boden des Gerichts, während Portwein, Haselnusscrème und Kerbelöl zu einem diffizilen Spiel bitten. Rote Oxalys und als Beigabe ein Madeleine runden diesen eher herben, von der Kirsche fast schon dominierten, leicht süsslichen Beitrag gut ab, auch wenn die Leber sehr dezent ausfällt und etwas mehr Präsenz gut hätte vertragen können. In puncto Optik dennoch ein toller Gang mit textureller Vielfalt, die uns staunen lässt. Passend dazu gibt es ein Pflaumen-Malzbiert, das bestens korrespondiert.
Jakobsmuschel, Mais und Peperoni klingt nach einer exotischen Zusammenstellung von Produkten, doch die Inszenierung auf dem Teller ist recht konzentriert. Die nur seitlich angeflämmten Jakobsmuscheln ganz unten geraten trotz ihrer vorbidlich weichen Konsistenz mit ganz wenig Biss etwas blass in diesem Kontext. Das Défilée aus Minigurken, Mirabellen, Schalotten und Mais wirkt zwar durchdacht, übertönt aber den Hauptdarsteller klar. Der leichte und dezent würzig Paprika-Sud harmoniert gut, doch insgesamt wrkt der Umgang mit dem Hauptprodukt wie eine verschenkte Chance, die auch gut mit einem weniger hochpreisigen Produkt hätte auskommen können. Äußerst exotisch das „Salat-Bier“ dazu, das aus einem Gewürzsud besteht und mit angezogenem Kopfsalat, Piment und Wacholder – laut Service ganz „US-Style“ – gedopt wurde. Das schrammt schon haarscharf an der Grenze des guten Geschmacks vorbei.
Der eingeschobene Zusatzgang zum Aufpreis von € 35 besteht aus Hummer – bezüglich der übrigen Zutaten sollten wir uns überraschen lassen. Am Tisch beendet man schließlich die Geheimniskrämerei und löst alles auf: der Hummer selbst im mittleren Schälchen wurde mit Knoblauchbutter bestrichen, dann gebacken und schließlich abgeflämmt. Das Ergebnis kann sich sehen – pardon: schmecken lassen! Grandiose Konsistenz, makellose Produktqualität und animierende Schärfe hätten diesen Gang selbst mit missratenen Begleitern kaum mehr ruinieren können. Doch auch Hummerbisque mit Perlzwiebeln, Holunder und Kapern erweist sich als aromensatter Kompagnon, während das süßliche Chutney aus Stachelbeere und Peperoni eine höchst ungewöhnliche und würdige Beigabe (darf auch als Dip verwendet wurden, da der hummer ohnehin zum Verzehr mit den Fingern gedacht ist) darstellt. Lediglich der Saft aus Staudensellerie und Waldmeister ist für meine Begriffe ein befremdlicher und schlicht entbehrlicher Getränkebegleiter, dessen Sinn sich mir partout nicht erschließen will.
Steinpilz, Eigelb und Schweinehaxe heißt der nächste Gang. Das etwas konventionellere Geschmacksbild rund um eher erdig-herbstliche Aromen ruht auf fast schon eingetrocknetem Schweinefond und Eigelb, während das übrige Arrangement haptsächlich aus gehobelten Steinpilzen, Schweinehaxe und krossem Kroepoek besteht. Dieser etwas vorsehbarere Gang ist durch die Texturen gewinnbringend umgesetzt und lässt keine Langeweile aufkommen. Dass der Aufwand hier ein wenig reduzierter ausfällt, ist auch mal wohltuend, zumal sich das Ergebnis dennoch gelohnt hat. Ein Pilzsaft (mit 50% Basis von Apfelsaft) mit Brombeersirup entpuppt sich als der flüssige Begleiter, der weniger kontrovers als die beiden Einfälle zuvor gerät und sich besser anschmiegt.
Kurios, dass ausgerechnet der Hauptgang, Wachtel, Paprika und Feddersens-Käse, sich als puristischster und auch mengenmäßig als bescheidenster Gang des Abends herausstellt. Brust und Keule der Wachtel baden in einem gehaltvollen Sud von Liebstöckel, Ingwer und Knoblauch, und werden von gefüllten Paprika begleitet, die ihrerseits mit dem Käse lackiert (!) wurden sowie mit Stiften von Sauerampfer getoppt sind. Spurenelemente von Kresse finden sich auch noch im „Lack“, so dass dieser sehr gehaltvoll gerät, aber mit seinem ungewohnten Aroma die Erwartungshaltung, die eher in Richtung BBQ ging, ad absurdum führt. Frei nach dem Motto „Schluss mit lustig!“ wirkt dieser Gang ungewohnt ernst und passt zum bisherigen Kontext auch nur bedingt – ergo ein durchschnittliches Hauptgericht. Der mit Nuancen von rotem Paprika veredelte Quittensaft ist ein unauffälliger Begleiter.
Radicchio, Birne und Pinie – was so simpel klingt, erweist sich als farbenfroher Reigen. Das Granité von Radicchio obenauf thront auf einem Arrangement aus Sauerampfer und weißer Couverture. Darunter sind außerdem Texturen von Birne, Vanille und Zitronenmelisse eingearbeitet, so dass sich meine kurzzeitige Vermutung, dies sei ein verkopftes Gericht, das von den penetranten Bitternoten des Radicchio dominiert werde, rasch als unebgründet erweist. Im Gegenteil: die unerwartete Fruchtigkeit des Gerichts federt die Bitterstoffe elegant ab und macht aus dieser Komposition zwar einen Beitrag für Fortgeschrittene, doch trotz aller Rustikalität der meisten Produkte einen bemerkenswert durchdachten und anspruchsvollen Einschub. Als Getränk dazu ein Bitter Lemon – was auch sonst, bei so viel Bitterkeit?!
Das Dessert nennt sich Pfirsich, Süßdolde und Kaffee. Nach dem Anstechen des kunstvollen Sauerteig-Krokants gelangt man zum Pfirsicheis darunter. Ein eingedickter Saft der Süßdolde als Basis des Gerichts wurde mit Kaffee und Senfsaat versetzt und sorgt dafür, dass die Süße nicht zu plakativ wird. Das ist fraglos ein bekömmliches und originelles Dessert, doch nach dieser inzwischen recht gehaltvollen Menüfolge fällt es schwer, einem solch komplexen Gang noch die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn man dies so haben möchte, dann wäre von der Dramaturgie her ein Tausch der letzten beiden Gerichte in der Menüfolge vielleicht sinnvoller gewesen. Nach der erfrischenden Leichtigkeit zuvor verlangt dieser süßlich-herbe Gang mit fraglos komplex ersonnenen Aromen dem Gast einfach zu viel ab. Die relativ leichte und spritzige Haselnuss-Soda vermag diesen Eindruck nicht mehr entscheidend zu ändern.
Als Ausklang schließlich reicht man hier keine klassischen Petits fours, sondern eine überdimensionale Buchtel schlesischer Art. Darin versteckt sich Brombeermarmelade, während die Crème aus Opalys-Schokolade von Valrhona und Kondensmilch erstellt wurde. Kein Wunder, dass mir der vollständige Verzehr dieser Kalorienbombe schwer fällt und kein echter Genuss mehr damit verbunden ist.
Was war das für ein Menü! Gespickt mit jeder Menge neuer sensorischer Erfahrungen, über weite Strecken äußerst durchdacht, teils verspielt, fast immer heiter-ausgelassen – die Liste an Attributen ließe sich noch lange fortsetzen. Sieht man von der etwas unglücklichen Dramaturgie gegen Ende des Menüs ab, so überzeugte diese Darbietung über weite Strecken nicht nur mit gewagten Aromenspielen, sondern auch mit optischer Langzeitwirkung. Diese Balance gelingt längst nicht allen Köchen so gut wie hier und verdient deshalb ebenfalls eine Erwähnung.
Der Service wird hauptsächlich von zwei kompetent und locker agierenden Kolleginnen von Frau Schrader geleitet, während die Gerichte selbst fast immer von einem anderen Küchenmitarbeiter aufgetragen und erläutert werden. So bekommt man quasi (ohne jede Form von Belehrung) stets Informationen aus erster Hand, weil unter den auftauchenden Küchenmitarbeitern immer derjenige aufkreuzt, der am stärksten zu dem jeweiligen Gericht beitrug oder daran gearbeitet hat. Fragen zu den Gerichten bleiben praktisch keine offen, und umsorgt ist man auch den ganzen Abend lang, ohne sich dabei überwacht vorzukommen. Dies lässt nichts zu wünschen übrig, zumal die Erläuterungen hier weitaus weniger belehrend, selbstherrlich und aufdringlich wie etwa im sosein wirken.
Die Qualität des Essens rechtfertigt die jüngste Beförderung durch den roten Restaurantführer mit Sicherheit. Was auf den Teller kommt, wirkt stets äußerst durchdacht und in weiten Teilen sicher umgesetzt. Allenfalls die Aromenkonstellationen an sich lassen hin und wieder durchblicken, dass Tony Hohlfeld eben doch noch ein junger Wilder ist: wenn erst einmal die Sturm-und-Drang-Jahre überwinden sind, dürfte sich das Feingespür der Küche noch weiter entwickeln. Dann werden einige der Gerichte wahrscheinlich gleich ganz verworfen, bevor man sie auftischt und nicht erst danach. Im Fokus stehen – typisch nordisch – eher einfache und rustikale Viktualien, die auf jede nur denkbare Art verarbeitet werden. Die Freude am Experimentieren ist hier jedenfalls enorm ausgeprägt und keineswegs nur Mittel zum Zweck, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Trotz des relativ raschen Wechsels an Gerichten übers Jahr gesehen geht dies offenbar nie zu Lasten der Konzentration; vielmehr zeigt dieser Umstand, wie viel die Küche offensichtlich in den nächsten Jahren noch vorhat. Die aktuellen Corona-Einschränkungen scheinen hier fast spurlos an der Küche vorbeizugehen. Alles in allem eine Leistung, vor der man definitiv den Hut ziehen sollte – insbesondere dann, wenn man das Durchschnittsalter der hier agierenden Personen berücksichtigt. Entwicklungstechnisch agiert man hier geradezu auf der Überholspur!
Kommen wir noch zum Preisgefüge: die bereits weiter oben angedeutete unangenehme Überraschung bei der Getränkebegleitung bezog sich natürlich auf deren Preis. Dass für selbige der identische Preis wie für die Weinbegleitung in Höhe von € 81 (bei acht Gläsern) aufgerufen wird, empfinde ich als reichlich dreist. Zum einen überzeugte diese Auswahl teils deutlich weniger als die Speisen selbst, und zum zweiten scheint es wie bei allen diesen nordisch geprägten Lokalen auch hier zuzutreffen, dass die Getränkebegleitung praktisch zur reinen Abzocke wird. Nun dreht man bei einem Besuch von Sternerestaurants für gewöhnlich nicht jeden Cent zweiml um, aber dieser Nepp stieß mir dann doch recht sauer auf und verdarb meine bis dahin ausgezeichnete Laune doch spürbar. Ich habe durchaus vor, hier mal wieder aufzukreuzen, kann aber schon jetzt mit Sicherheit versprechen, dass ich der Getränkebegleitung – auch wenn sie noch so blumig angepriesen werden sollte – beim nächsten Mal die kalte Schulter zeigen werde. Ansonsten bewegen sich die Nebenkosten ebenfalls auf recht hohem Niveau, was angesichts des günstigen Menüpreises nicht so überraschend sein sollte. Dennoch: ich wollte diesem Abend in Summe einen Punkt mehr geben als ich es letztlich tat, denn das Ärgernis am Ende des Abends gehört nun einmal ebenfalls berücksichtigt – zumal diese Begleitung längst nicht dieselbe Klasse wie etwa diejenige im Döllerers Genießerrestaurant hatte.
Ansonsten sei zumindest allen aufgeschlossenen Essern ein Besuch hier praktisch vorbehaltlos empfohlen. Von der Küche, die nur so vor Ideen zu strotzen scheint, darf man noch einiges erwarten. Noch überzeugt vielleicht nicht jede Idee gleichermaßen, aber Chefkoch Tony Hohlfeld ist ja schließlich erst 30 Jahre alt. Entwicklungspotential ist immer noch jede Menge vorhanden, und das scheinen auch die anderen Gäste mit regelmäßigen Besuchen zu honorieren. Ein demokratisches Restaurant in einem ehemaligen Toilettenhäuschen – sollte nicht dieser Umstand allein schon einen Besuch rechtfertigen?!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Jante
Marienstraße 116
30171 Hannover
Tel.: 0511/54555606
www.jante-restaurant.de
Guide Michelin 2020: **
Gault&Millau 2020: 16 Punkte
GUSTO 2020: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 3 F
7-gängiges Menü: € 125 (Dienstag bis Donnerstag) / € 140 (Freitag und Samstag)