November 2020
Die Corona-Krise, um die bekanntlich niemand gebeten hat, beschäftigt uns nun schon seit acht Monaten. Dennoch finde ich es im Hinblick auf meine Beobachtungen insgesamt recht erstaunlich, wie unterschiedlich und teils auch recht kreativ seitens der Haute Cuisine und der unermüdlichen Gastgeber darauf reagiert wurde: Spitzenküche zum Mitnehmen erfreute sich während des Lockdowns im Frühjahr (und tut es derzeit auch wieder) vielerorts großer Beliebtheit, und nachmittags eigentlich geschlossene Lokale hatten danach plötzlich mittags statt abends geöffnet! Not macht eben erfinderisch …
Fangen wir jedoch mit den schlechten Nachrichten an: dass nicht alle Lokale diese Krise überstehen würden, war leider frühzeitig abzusehen. Die bisher prominentesten Opfer der aktuellen Situation sind die jeweils mit zwei Michelin-Sternen dekorierten Geisels Werneckhof in München sowie Burg Schwarzenstein in Geisenheim. Jammerschade, denn beide Köche – Tohru Nakamura und Nils Henkel – standen voll im Saft und erreichten vor der Schließung ihrer Gaststätten ungeahnte Höhen: beide wurden meines Erachtens zurecht als Kandidaten für den dritten Stern gehandelt. Nils Henkel fand umgehend eine neue Anstellung in Bingen (in der aber meines Wissens deutlich bescheidener aufgekocht wird), während Tohru Nakamura ein vielversprechendes Pop-Up namens Salon rouge einen Steinwurf vom Münchner Marienplatz eröffnet hat. Die Verweildauer dort ist zwar auf sechs Monate beschränkt, doch kostbare Zeit für die Entscheidung, wie es danach weiter geht, konnte damit auf jeden Fall gewonnen werden.
Andere Etablissements haben mit den Auflagen so sehr zu kämpfen, dass sie lieber die komplette temporäre Schließung bevorzugten und zum Teil bis heute noch nicht wiedereröffnet haben – darunter die Zirbelstube und das Olivo (beide in Stuttgart). Das Olivo legte wenigstens mit dem 4. November ein neues Eröffnungsdatum vor, wurde aber prompt von den neuen Einschränkungen gleich wieder ausgebremst. Während manche Lokale viel Zeit für die Wiederaufnahme des Betriebs brauchten, preschten andere praktisch zum frühestmöglichen Zeitpunkt vor. Dennoch habe ich bei keinem der seit Mitte Mai besuchten Lokale den Eindruck gewonnen, dass die aktuelle Situation auf die leichte Schulter genommen worden wäre. Im Gegenteil: viele Konzepte wurden hinterfragt, so manches Edelprodukt wurde aufgrund unzuverlässiger Lieferungen auch mal verbannt und Arbeitszeiten wurden so gut es eben ging optimiert.
Ich kann nicht verhehlen, dass dieser beispiellose Prozess nicht überall gleichermaßen gut gelungen ist. Dennoch habe ich in der Mehrzahl der Lokale wenig bis keine Klagen seitens der Betreiber gehört und stattdessen eine Aufbruchsstimmung erlebt, die ich so nicht erwartet hätte. In manchen Fällen waren Lokale, deren Vorlaufzeit bei der Reservierung meist nur eine kurze Zeit betrug, plötzlich doppelt so lange im Voraus wie üblicherweise ausgebucht – von Gästeschwund somit keine Spur. Zugegebenermaßen sind die Lokale der Haute Cuisine naturgemäß kleiner als gewöhnliche Lokale und somit insgesamt leichter zu füllen – erst recht dann, wenn wegen der Bestimmungen auch noch Tische zwecks Einhaltung des Abstands entfernt werden mussten.
Es erhebt sich natürlich die Frage, was sich durch die Krise alles geändert hat (und auch weiterhin ändern wird). Wenn wir mit unserem Blick für einen kurzen Moment abschweifen, dann stellen wir auch fest, dass dies der vielleicht beste Zeitpunkt seit Menschengedenken ist, um unser Konsumverhalten bezüglich Lebensmitteln zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Nachhaltigkeit wird als Prinzip immer wichtiger werden, so dass das massenhafte Wegwerfen eigentlich noch verzehrbarer Lebensmittel sowie der Kauf von Billigfleisch in Zukunft stärker in den Fokus rücken dürfte. Tatsächlich erlebe ich auch in meinem privaten Umfeld derzeit, dass Personen, deren Fokus bisher nicht unbedingt auf hochwertigen Lebensmitteln lag, beginnen, liebgewordenes, aber langfristig eher verwerfliches Konsumverhalten zu hinterfragen. Es ist bezeichnend, dass gerade in diesen Zeiten Jan Hartwig, der Chef des mit drei Sternen dekorierten Atelier in München, vorprescht und die Agrarpolitik von Frau Klöckner an den Pranger stellt: seiner Meinung nach müsste endgültig Schluss sein mit großzügigen Subventionierungen von Betrieben, die nur auf Quantität anstatt Qualität setzen und unterm Strich häufig unterdurchschnittliche Viktualien produzieren. Wie passend, dass auch schon einige Monate vor der Krise Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann ins gleiche Horn blies: es könne nicht sein, dass ein Liter Olivenöl in Deutschland teils weniger als ein Liter Diesel koste. Vielleicht ticke ich hier ein wenig zu idealistisch, aber Qualitätsbewusstsein, entsprechende Preise und Nachhaltigkeit gehen für mich Hand in Hand. In einem Beitrag, auf den ich unlängst stieß, wurde beispielsweise darüber berichtet, dass ein Bauernhof südlich von Kiel derzeit mit Körben voller Bio-Produkte das Geschäft seines Lebens machen würde. Man darf gespannt sein, ob bezüglich besserer Produkte eine längst überfällige und vor allem seriöse Diskussion losgetreten wird.
In einem aufschlussreichen Podcast-Interview gewährte auch Drei-Sterne-Koch Sven Elverfeld vom Wolfsburger Aqua (gleichzeitig der Ex-Chef von Jan Hartwig) Einblick in seine Beobachtungen: gemäß ihm wären die Gäste insgesamt dankbarer als früher geworden und würden die Leistungen der Restaurants insgesamt mehr schätzen. Während viele andere Gewerbe unter den Auflagen stöhnen, macht die Spitzengastronomie aus den eingeschränkten Möglichkeiten meiner Wahrnehmung nach tatsächlich sehr viel und versucht den Gästen wo immer möglich nach wie vor ein Maximum an Service und herausragender Tellerkunst zu offerieren, wenngleich sie natürlich gut auf die Einschränkungen hätten verzichten können. In einer Zeit, in der lange Lieferwege aufgrund der Krise möglicherweise nicht aufrecht erhalten werden können, spielen kurze Transportwege und die stärkere Hinwendung zu heimischen Produkten eine immer größere Rolle. Dass Sven Elverfeld die Veredelung solch vermeintlich simpler Produkte längst perfektioniert hat, kommt ihm derzeit unglaublich zugute. Auch ein Torsten Michel machte bei unserem letzten Besuch in der Schwarzwaldstube aus einem Filet vom pommerschen Rind ein derart intensives Geschmackserlebnis, dass man hätte meinen können, es hätte sich stattdessen um ein sündhaft teures Filet vom Kagoshima-Rind gehandelt.
Eine weitere zweckmäßige Maßnahme, die nicht nur der Reduzierung der Arbeit dient, sondern in etlichen Fällen auch der Qualität zugute kommt, ist die Reduzierung der Zahl an Gängen. In nicht wenigen Fällen bemerkten wir eine stärkere Fokussierung auf das wirklich Wesentliche: handwerklich einwandfreie Arbeit zugunsten überflüssiger Spielereien. Gerade im Ole Deele in Burgwedel oder im schanz in Piesport erlebten wir Höhenflüge, die wir inmitten dieser Krise keinesfalls so erwartet hätten.
Kurzum: vielleicht ist trotz aller Hürden demnächst ein günstigerer Zeitpunkt als jemals zuvor, ein Spitzenrestaurant zu besuchen, sofern man beim Besuch mit dem in Kauf genommenen Risiko leben kann. Wer noch nie ein solches Lokal besucht hat, kann derzeit mit verknappten Menüs und relativ geringen Kosten rechnen, während die Qualität dabei nur selten auf der Strecke bleibt. Trotz aller Einschränkungen ist der Ruf, den viele Lokale zu verteidigen haben, einfach zu bedeutend, um sich gröbere Nachlässigkeiten erlauben zu können. Ich will damit natürlich nicht behaupten, dass die Corona-Krise vieles besser gemacht hätte, doch bin ich nach wie vor überrascht, zu welcher Leistungsstärke manche Lokale sich derzeit trotz der Restriktionen aufgeschwungen haben – für Defätismus ist derzeit kein Platz!
Fürchtete ich zu Beginn des Lockdowns noch um die Zukunft der Spitzengastronomie in Deutschland, so hatte sich diese Einstellung zwischenzeitlich nahezu ins Gegenteil verkehrt. Die erneute Schließung der Lokale mindestens im gesamten November ist natürlich ein herber Rückschritt, den vermutlich nicht alle Lokale überstehen werden. Hoffen wir aber, dass mein Optimismus weiterhin gerechtfertigt bleibt!