Schwarzwaldstube***, Baiersbronn (UPDATE)

„Es gibt Menschen, die durch kleine Zwischenfälle aus dem Gleichgewicht geraten können, während sie die großen Schläge standhaft ertragen.“ (Sully Prudhomme)

UPDATE (Mai 2022)

„Die unendliche Geschichte 2.0“ wäre auch kein schlechter Titel für eine Zusammenfassung der Geschehnisse ganz am hinteren Ende des beschaulichen Tonbachtals in Baiersbronn während der letzten zwei Jahre. Alles fing bekanntlich mit der Brandnacht am 5. Januar 2020 an, die fortan als schwarzer Tag im Kalender aller ernsthaften Gourmets notiert sein wird. Dann gesellte sich zu allem Überfluss die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns hinzu, die das ohnehin beschwerliche Arbeiten auf der Baustelle und natürlich auch im Hotel noch weiter behinderte. Rückblickend betrachtet erscheint es wie ein Wunder, dass bereits im Mai 2020 auf dem Dach des Parkhauses das Provisorium namens „temporaire“ errichtet und eröffnet werden konnte. Es besteht jedoch die berechtigte Hoffnung, dass die Traube Tonbach vor künftigen Nackenschlägen dieser Kategorie verschont bleiben wird und ein neues erfolgreiches Kapitel Gourmetgeschichte geschrieben werden kann.

Seit dem 8. April 2022 ist das neue Stammhaus am alten Standort eröffnet, so dass das ausgediente Provisorium wieder abgetragen werden konnte. Dass alle drei neuen Restaurants so gut es ging an dieselbe Stelle, wo sie sich ehemals befunden hatten, gesetzt wurden, zeigt, wie groß die emotionale Verbindung zum abgebrannten Stammhaus noch immer ist. Andererseits war klar, dass aufgrund der räumlichen Gegebenheiten und baulicher Vorschriften ein Wiederaufbau im alten Stil quasi von vornherein kategorisch ausgeschlossen werden konnte. So ist die neue Schwarzwaldstube ein mit viel Glas und Holz gestalteter Raum mit einem extrem hohen Giebeldach, einer modernen Lampenkonstruktion und Parkettboden, während praktisch nichts mehr an die wuchtige Holzdecke des früheren Lokals erinnert. Sicherlich werden sich in den ersten Jahren die Geister daran scheiden, wie gut die Umsetzung der Architektur gelungen ist: die einen finden den Saal zu seelenlos und trauern dem typischen Schwarzwald-Flair mit der Holzdecke nach, während die anderen die Ankündigung der neuen Zeit ausdrücklich gutheißen und die Patina vergangener Tage lediglich als Ballast empfunden hätten. Einigkeit herrscht dagegen in dem Punkt, dass die Familie Finkbeiner mit vorbildlichem Engagement, unermüdlicher Hingabe und unverdrossenem Idealismus etwas aus dem Boden gestampft hat, das im Lichte der Pandemie noch unwahrscheinlicher wirkt als es schon in normalen Zeiten der Fall gewesen wäre. Wer sich mit Details vertraut machen möchte, dem sei eine Produktion des SWR empfohlen, welche die vergangenen zwei Jahre ausführlich dokumentiert und auf einem bekannten Videoportal abgerufen werden kann.

Dank des schon immer familiären Charakters innerhalb der Belegschaft konnten extrem viele verdiente Mitarbeiter gehalten werden – ein enorm wichtiger Umstand, wenn man bedenkt, wie gefragt solche Spitzenkräfte anderswo in Zeiten von Personalmangel wären. Natürlich muss auch in der Traube Tonbach wirtschaftlich gearbeitet werden, aber wo andere Controller einfach kühl alles Überflüssige wegrationalisieren, kann man sich hier jederzeit sicher sein, dass nicht jeder zusätzliche gewonnene Cent mit unpopulären oder für die Mitarbeiter schmerzhaften Maßnahmen durchgesetzt werden muss. Schon deshalb können wir davon ausgehen, dass auch diesmal die Servicetruppe wieder von Maître David Breuer und Sommelier Stéphane Gass an der Spitze perfekt geleiten werden wird. Die Kleidung der Servicekräfte wirkt nun übrigens auch um einiges legerer, denn Chucks anstelle von Lackschuhen oder Westen zugunsten von Anzügen wirken deutlich entspannter als die formal korrekte Garderobe der Vergangenheit.

Wir trudeln diesmal immerhin zu viert ein, denn einen Termin mit einem Vorlauf von gerade einmal einen Monat zu bekommen ist ein Glücksfall, den es natürlich auszunutzen gilt. Auch wenn sich in Zukunft einiges ändern wird, so gehört die Stilistik der Apéros, von denen immer mindestens einer auf dem Löffel präsentiert wird, mit Sicherheit nicht dazu. Links ein Rindertatar vom Pommern-Rind (ein Liebling Torsten Michels) mit Wagyu-Marinade, Schalotte und Imperial-Kaviar, welches mit Röstzwiebelaromen und einem milden Geschmack einen starken Eindruck hinterlässt. In der Mitte marinierter Hamachi mit Spirulina-Algen, Wasabi und Planktonkaviar – eine leicht säurebetonte Meeresbrise von toller Konsistenz und Mundfülle weht hier durch die Schwarzwaldstube. Rechts schließlich Taschenkrebs auf einem Chilichip mit Avocado, Mango und Koriander: sorgsam abgeschmeckt und ein würdiges Finale dieser Trilogie, mit der die Messlatte wie immer sehr hoch gehängt wird. Als passender Compagnon kommt übrigens Traubensecco aus dem Hause Raumland ins Glas – ein würdiger Einstieg.

Einer meiner Begleiter und ich entscheiden sich für das große Degustationsmenü (€ 265), während die beiden anderen dem vegetarischen Menü zusprechen werden, das unter dem neuen Chef Torsten Michel gegenüber früheren Zeiten spürbar aufgewertet worden sein soll. Da ich jedoch nur mein eigenes Menü bewerte, werde ich diese Aussage nicht weiter vertiefen können.

Bevor es soweit ist, gelangt jedoch noch ein Amuse an den Tisch, welches Lachstatar in den Mittelpunkt rückt. Umspielt wird es von einer Buttermilch-Vinaigrette, Spitzkohl und Apfelstiften – um nur die wichtigsten Komponenten zu benennen. Das ist fraglos ein komplexer Einstieg, der mit frühlingshafter und bezaubernd leichter Aromatik die Papillen animiert. Die Detailfülle und die unnachahmliche Eleganz, die so viele der hier präsentierten Kreationen auszeichnen, sind auf eine mustergültig präzise und filigrane Art zusammengefügt – ein kleines Meisterwerk am Puls der Zeit. Superb!

Terrine von gebeizter und gegrillter Entenleber eröffnet heuer unser Menü: schon von der Anrichte her zeigt sich, dass bei diesem Produkt auch weiterhin keinerlei Experimente zu erwarten sind. Stattdessen wird in der gebotenen klassischen Zurückhaltung stets aufs Neue ein reizendes Défilée ersonnen mit immer wieder neuen saisonalen Ideen: so ist diesmal die Leber ummantelt mit einem Geflügelgelée (mit Muskat und Macis aromatisiert), während Frühlingsobst in Honigweincoulis, Cashewkerne und Eisenkraut ein stimmiges Arrangement eingehen. Das Meiste zu diesem Gericht ist bereits der Speisekarte zu entnehmen, da alles in direkter Klarheit und aparter Optik präsentiert wird. Das ist natürlich alles tadellos, aber auch trotz der orientalischen anmutenden Exotik etwas risikofrei umgesetzt und verleitet mich daher noch nicht zu den ganz großen Begeisterungsstürmen – dennoch ein ausgezeichneter Auftakt von bescheidenem Habitus, der durch Sparkling Tea aus Kopenhagen (Jasmin, weißer Tee und Darjeeling) federleicht abgerundet wird.

Krustentiere gelangen Torsten Michel und seinem Team bei allen unseren bisherigen Besuchen unter seiner Ägide bisher besonders gut – und auch der aktuelle Beitrag zu diesem Thema machte da keine Ausnahme. Gedämpfte Medaillons von bretonischem Hummer werden diesmal erstaunlich würzig begleitet, aber ohne jemals plump oder unangemessen scharf zu wirken. Im Gegenteil: das pikante Paprikachutney ist perfekt ausgewogen, das Krustentieröl von ungeahnter geschmacklicher Dichte, und auch die Corail trägt mit ihren Bitterstoffen ganz erheblich zum Gelingen der Begleitung bei. Die zweifellos perfekte Konsistenz des Hummerfleischs ist an sich schon Oberliga, aber die leichte Kokosnage mit Chili und Koriander (die ich als gar nicht so leicht, sondern sehr dicht und körperbetont finde) verdient nichts weniger als das Prädikat der Weltklasse: perfekt abgeschmeckt, facettenreich, mit enorm langem Nachhall am Gaumen und süchtig machend. Saucen, Sude und Nages sind ja seit jeher so etwas wie die Königsdisziplin der klassischen französischen Küche – dieser Aspekt zeichnete das Lokal schon unter Harald Wohlfahrt aus, und sein Nachfolger Torsten Michel macht da weiter, wo sein illustrer Vorgänger aufgehört hatte. Ein unfassbarer Gang, zumal eine Limonade aus Blutorange und Kokos (von „Julians Saftladen“ aus dem Ösch Noir in Donaueschingen) den Teller vollendet abrundet. Ein wirklich ganz hervorragender Beitrag!

Etwas weniger gefällig, aber praktisch auf genau demselben Niveau präsentiert sich auch der nächste, recht komplexe Einfall: Sankt-Petersfisch mit Lorbeer gespickt (mit Pernod abgeschmeckt) auf gezupftem Knollenfenchel (mit Pastis aromatisiert), glasiertem Fenchel und Emuslion von Gartenkräutern mit Senfsaat und Dill erweist sich als ein ungeheuer aufwendiges und bis ins kleinste Detail durchdachte Gericht, das seine Veredelung einmal mehr durch eine geradezu unfassbar dichte, mit Champagneressig veredelte Beurre Blanc erfährt. Neben der höchst angenehmen Mundfülle und der variablen Konsistenzen sticht vor allem die virtuose Verwendung des Fenchels heraus (eine Diva unter den Gemüsesorten!), der nie plakativ oder dominant wirkt, sondern dem Gang einen fast schon federnden und doch gehaltvollen Charakter verleiht. Ein Saft namens „Dry Fenchel“ (ebenfalls von „Julians Saftladen“) harmoniert prächtig und rundet erneut einen höchst stimmigen und ziemlich mutigen Beitrag großartig ab.

Einen leichten Vorbehalt hege ich schon vor dem Auftragen des Hauptgangs, denn der Karte ist das Hauptprodukt selbstverständlich zu entnehmen. Gebratenes Kotelett vom heimischen Landschwein ist zwar mit Trüffelkruste gratiniert, wirkt auf mich aber trotz der makellosen Zubereitung wie ein grenzwertig profanes Produkt für ein Hauptgericht in einem Haus mit internationalem Anspruch. Mich beschleicht das Gefühl, dass man sich damit mittelfristig keinen Gefallen tut, wenn man Regionalität so auslegt, dass nicht ausreichend würdige Produkte, selbst wenn sie noch so qualitativ sind, eingesetzt werden. Sei’s drum: die erdig-vegetabile Begleitung aus Spitzmorcheln und Erbsen sowie die einmal mehr überragende Jus von geschmorter Brustspitze mit feingewiegter Maske und Trüffel machen natürlich das Beste aus dem Kotelett, aber denkwürdig gerät dies angesichts der soeben geäußerten Vorbehalte nicht. Selbstverständlich ist das alles problemlos genießbar, aber doch der am wenigsten einprägsame Hauptgang, den ich bislang hier verkostet habe. Die flüssige Begleitung besteht übrigens aus einem – angesichts des Profils dieses Hauses geradezu abgefahrenen – Cocktail mit Lime Juice, Tee, Tonic Water und Kaffee-Kirschen, der ungleich eindringlicher als der Teller selbst gerät.

Die Käseauswahl vom Wagen von Maître Antony lässt wie immer keine Wünsche offen, was man von dem ersten Dessert nicht vollständig behaupten kann: kleines Zitronenschaum-Omelette (einem Soufflé nicht unähnlich) „fromage blanc de chèvre“ auf Rhabarberkompott, Vanillecrème und Streuseln, Joghurt-Limoneneis und Himbeercoulis ist ein frühlingshaft frisches und bekömmliches Dessert mit Vielfalt in den Texturen und wie immer großer Harmonie. Dennoch kann ich nicht verhehlen, dass dieser Beitrag ziemlich altmeisterlich gerät – eine mittelfristige Beschäftigung und Übernahme zeitgemäßer Techniken wäre hier wohl eine Überlegung wert, wenn das Haus auch weiterhin in der Gegenwart verweilen möchte. Drücken wir es mal so aus: ich entsinne mich weitaus denkwürdigerer Desserts …

Immer wieder neue Varianten einer dekonstruierten Schwarzwälder Kirschtorte gehören dagegen fast schon zum festen Ritual bei einem Besuch hier: Manjari-Schokoladensorbet auf Kirschkompott, Schokoladenganache und Mousseline von Kirschwasser in Kakaoknusper entpuppt sich als nicht zu süßes Dessert mit etlichen herben Akzenten und einer Parade klassischer Techniken, die hier meisterhaft dargeboten werden. Der Geschmack ähnelt im Wesentlichen den anders umgesetzten, aber grundsätzlich auf derselben Grundlage basierenden Vorgängern aus vergangenen Besuchen und erweist sich somit einmal mehr als würdige Referenz an die Heimat. Ein runder Abschluss, der Lust auf die Petits fours macht, die wieder in opulenter Optik und Vielfalt präsentiert werden …

… wovon ich mir vier Pralinen (Gin Tonic, Erdbeere-Sesam-Waldmeister, Himbeer-Yuzu sowie Ananas mit rotem Pfeffer) und ein klassisches Cannelé genehmige. In dieser Disziplin setzt die klassisch orientierte Pâtisserie nach wie vor Maßstäbe, die es sonst nur in wenigen anderen deutschen Lokalen zu erleben gibt.

Nach unserem ersten Besuch im neuen Restaurant können wir aufatmen: nicht nur ist ein Anfang gemacht, sondern auch in etwa so gelungen wie erwartet. Es wäre natürlich vermessen gewesen zu glauben, dass umgehend wieder alles wie geölt funktionieren kann, aber selbst mit weniger als einer absoluten Topleistung erzielt man hier immer noch Ergebnisse, die die Höchstnote zu rechtfertigen vermögen – selbst dann, wenn Torsten Michel wie am Tag unseres Besuchs mal nicht im Hause ist. All die Tugenden, die dieses Lokal seit jeher auszeichneten, stachen auch heuer deutlich hervor und erfüllten die Erwartungen der Gäste mit Sicherheit. Dass klassischen Luxusprodukten eine solche geschmackliche Tiefe entlockt werden kann, die teils immer noch in einer eigenen Liga anzusiedeln ist, überrascht dabei immer wieder genauso wie die Tatsache, dass der Küche die Ideen, in welchen Varianten diese Produkte zu begleiten sind, offenbar nach wie vor nicht ausgehen und dabei meist bravourös umgesetzt werden.

Die Serviceleistung genügte nach wie vor höchsten Ansprüchen, wenngleich die Nebenkosten bei alkoholfreien Getränken angezogen haben und auch der neue Look im Service für mich (und wohl einige andere auch) zugegebenermaßen noch etwas gewöhnungsbedürftig ist. Sommelier Stéphane Gass und Maître David Breuer dirigierten einmal mehr eine präzise funktionierende Brigade, die allerdings überraschend in dieser Form nicht mehr zu erleben sein wird: in der Zwischenzeit wurde nämlich bekannt, dass der vom Niederrhein stammende David Breuer nach neun Jahren in der Schwarzwaldstube das Haus verlassen und sich einer neue Herausforderung stellen wird – welche das sein wird, ist bislang noch nicht durchgesickert. Die Nachfolge ist allerdings längst geregelt, denn für die 29-jährige Nina Mihilli wird ein Traum wahr: nach ihrer langen Schulung unter den Fittichen von David Breuer rückt sie nun an die oberste Position auf. Hoffen wir, dass der Abgang von David Breuer geräuschloser als der von Harald Wohlfahrt vonstatten gehen wird …

Es bleiben aber auch so genügend andere Herausforderungen: in Zeiten instabiler politischer Großwetterlagen, einer dynamischen Corona-Situation und explodierender Energiepreise wird es nicht unbedingt leichter werden, ein Spitzenrestaurant erfolgreich zu leiten. Patron Heiner Finkbeiner wird selbstverständlich auch diese Aufgabe mit Elan und Leidenschaft angehen: wer eine solch geradezu epische, nicht enden wollende Krise wie diejenige in den letzten zwei Jahren so überzeugend bewältigen konnte, dem muss auch vor den Unwägbarkeiten der Zeiten nicht angst und bange werden. Dass die Gäste dies Engagement umgehend wieder honorieren, zeigte sich sofort am nötigen Vorlauf bei der Reservierung – dennoch sollte den geneigten Gast dieser Umstand nicht von seinem Besuch abhalten! Es lohnt sich auf jeden Fall!

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

Schwarzwaldstube
Tonbachstraße 237
72270 Baiersbronn-Tonbach
07442/492665
www.traube-tonbach.de

Guide Michelin 2022: ***
Gault&Millau 2021: 19,5 Punkte
GUSTO 2022: 10 Pfannen plus Bonuspfeil
FEINSCHMECKER 2022: 5 F

Großes Degustationsmenü (7 Gänge): € 265

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„Um die Magie zu entdecken, muss man sie sehen wollen – nicht nur in großen Dingen, sondern auch in den kleinsten.“ (Francis Paul Wilson)

UPDATE (November 2021)

Zuerst dominierte der unrühmliche Abgang von Harald Wohlfahrt monatelang die Schlagzeilen, und dann brannte am 5. Januar 2020 das Restaurant Schwarzwaldstube auch noch ab: was dieses weltberühmte Lokal in den letzten Jahren durchmachen musste, hätte genug Stoff für eine Seifenoper geboten. Dennoch ließ sich die Betreiberfamilie Finkbeiner trotz aller Widrigkeiten nicht unterkriegen und kündigte eine Wiederauferstehung des neuen Restaurants an alter Stelle für den April im kommenden Jahr an. Doch auch bei der Errichtung der temporären Ausweichstätte machte man Nägel mit Köpfen: sowohl das Flaggschiff als auch das einfach besternte Zweitrestaurant Köhlerstube fanden eine neue Heimat in einem Provisorium, das in Windeseile auf dem Dach des hoteleigenen Parkhauses platziert wurde. Dass bereits fünf Monate nach der verheerenden Unglücksnacht wieder die ersten Gäste empfangen werden konnten, mag dabei als das größte Wunder überhaupt gelten. Kaum weniger erstaunlich, dass die Küche vom Niveau nahtlos da wieder ansetzte, wo man zuvor aufgehört hatte, doch wer die engagierten Betreiber kennt, der weiß, dass hier keine halben Sachen gemacht werden. Aufgrund der raschen Reaktion war es auch möglich, das Triumvirat zu halten, dessen Köpfe so sehr die Geschicke des Lokals prägen: Chefkoch Torsten Michel, Sommelier Stéphane Gass und Maître David Breuer. Deren Bedeutung für dieses Etablissement lässt sich auch schon daraus herleiten, dass sich besagte Herren bei einer Schließung des Lokals wohl kaum hätten retten können vor Anfragen aus anderen Sternerestaurants.

Trotz der ungebremsten Energie, die man im Tonbachtal an den Tag legte, erkannte der Guide Michelin im März 2020 in einer ausgesprochen kleinlichen Entscheidung die drei Sterne mit der Begründung ab, dass man ein für längere Zeit geschlossenes Lokal nicht auszeichnen könne – und das, obwohl zum Zeitpunkt der Verkündung die Wiedereröffnung des Provisoriums längst annonciert war. Die Scharte wurde mit der Rückgabe der drei Sterne in diesem Jahr zwar teilweise wieder ausgewetzt, aber ein schaler Beigeschmack blieb dennoch haften. Dass andererseits Gäste auch ohne diese Auszeichnung nach wie vor zuhauf in den Schwarzwald pilgern würden, schien offensichtlich. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, dass dieses Restaurant von einer Aura umgeben ist, die internationale Gäste mit derselben Selbstverständlichkeit nach Tonbach lockt wie etwa nach London oder Paris – so war beispielsweise in der Brandnacht der Schauspieler Nicolas Cage zu Gast und nahm am Morgen nach dem Brand Chefkoch Torsten Michel tröstend und weinend in den Arm.

Was macht also den Zauber dieser Institution aus, die einem Kulturdenkmal in Baden-Württemberg gleichzusetzen ist? Knallige Gerichte suchte man hier schon immer vergebens; vielmehr ist es stets die unnachahmliche Präzision bei der Zubereitung der Gerichte, die minutiöse Perfektion in allen Details und der aristokratische Geschmack, der seinesgleichen sucht. Auch unsere jüngste Stippvisite sollte all die Tugenden, die die Schwarzwaldstube seit jeher auszeichnen, wieder in bestem Lichte erstrahlen lassen. Hinzu kommt der höchsten Ansprüchen genügende Weinkeller und die Besetzung aller Schlüsselpositionen mit erstklassigem Personal. Selbst wenn aufgrund der Quarantäne einiger Mitarbeiter an diesem Abend die Auswahl stärker als sonst eingeschränkt ist, so stellt dies natürlich für uns keinen hinreichenden Grund dar, einen Termin zu stornieren, der drei Monate im Voraus festgesetzt worden war. Auch das fast schon zur Tradition gewordene herbstliche Regenwetter im Schwarzwald und diverse Umleitungen können uns nicht wirklich abschrecken.

Das ungleich heller inszenierte und moderner als sein Vorgänger gestaltete Provisorium übt auf uns dennoch sofort einen eigentümlichen Reiz aus, dem wir uns kaum entziehen können. Spätestens mit dem Auftragen der ersten Apéros steigert sich unser Laune abermals, denn die kompakten Löffelkreationen wussten hier schon immer zu überzeugen und enttäuschen natürlich auch heuer nicht: Gamba, Koriander, Avocado, Ceviche, Limette und Olivenöl vereinigen sich auf dem linken Löffel zu einer filigran ersonnenen Kreation von Schärfe und Säure in perfekter Balance. Ebenso vielschichtig gerät daneben Rindertatar mit Mayonnaise von Eigelb und Gurkenrelish, doch am allerbesten gefällt uns rechts der hinreißende Cracker von Nori-Alge mit Meeräsche, Planktoncrème und -kaviar mit faszinierenden und kaum geläufigen Aromen. Abgerundet wird dieser imponierende Einstieg mit einem Fruchtcocktail von Zitrone und Limette, der für die Jahreszeit vielleicht zu fruchtig gerät, aber ansonsten keine Wünsche offenlässt. Die Brotauswahl mit Butter und Salz wird diesmal mit der Zange durch den Service überreicht.

Aufgrund der eingangs geschilderten Einschränkungen reduziert sich die Auswahl des Abends im Wesentlichen auf das große Degustationsmenü (7 Gänge zu € 265) und die vegetarische Variante (6 Gänge zu € 215). Meine Wahl fällt auf die erste Option, denn jeweils mehr als zwei Stunden An- und Abreise rechtfertigen keine Bescheidenheit, zumal man hier ja fast immer monatelang auf einen freien Tisch freien warten muss. Vor dem eigentlichen Beginn streut Torsten Michel als Gruß aus der Küche noch eine Polenta von Wachtel-Spiegelei mit Alba-Trüffeln und Olivenöl von klassischer Eleganz ein, doch unterm Strich beeindruckt mich dieser Einstieg angesichts der nicht so ausgeprägten Raffinesse wie bei den Einstiegen zuvor etwas weniger. Trotz der mustergültigen Cremigkeit gerät mir dieser Einschub zu gefällig und gleichförmig, um mich zu begeistern. Jedenfalls muss das vergleichbar cremige, aber insgesamt cleverer ersonnene Risotto im Le Cerf wenige Tage zuvor den Vergleich mit diesem Teller nicht scheuen.

Das ist jedoch nur die einzige leise Kritik des Tages, die im Hinblick auf den nächsten, überragenden Gang zudem auch schon wieder verhallt ist: gebeizter Thunfischrücken und -bauch „Kishu“ mit Enten- und Stabmuscheln, jungem Spitzkohl, Krause Glucke und Shoyumarinade mit Shiitake punktet mit ausgeprägter Meeresaromatik, die trotz der Vielzahl an eingesetzten Produkten immer transparent bleibt. Ein Soja-Espuma rundet diesen keineswegs lärmenden, aber ungeheuer vielschichtigen Teller ab, dessen makelloses Handwerk tief beeindruckt. Die Hinwendung zu japanischen Produkten war mir bislang noch nicht so geläufig in diesem Lokal, doch die auf traditionellen französischen Techniken basierende Zubereitung lässt schon erkennen, dass man seine kulinarischen Wurzeln hier weiterhin nicht verleugnet. Wie immer ist die kaum in Worte zu fassende Exaktheit der eigentliche Trumpf dieser Küche: da gelangt nichts Überflüssiges auf den Teller und jede Komponente ist genau überlegt, wobei kein Element irgendeiner Show dient, die von Schwächen bei der Umsetzung ablenken müsste. Grandios!

Bretonischen Hummer paart die Küche als nächstes auf luxuriöse Weise mit roter Riesengarnele, doch dominiert wird das Gericht eigentlich von den Kürbistexturen: als Coulis mit Ingwer aromatisiert und als Fäden obenauf. Dazu gesellen sich neben etwas Kürbis-Orangen-Chutney auch noch kleine Tintenfische, so dass unterm Strich ein Teller mit ausgeprägter Aromatik von Krustentieren steht, der auf ziemlich fruchtige, indisch anmutende Art gewürzt wird (selbst ohne Früchte, denn die geschmackliche Bandbreite des Butternut-Kürbis ist eine reine Wonne). Eine feine Safrannote sowie ein mit Corail aromatisierter Sud (von leicht bitterer Note) unterstreicht einmal mehr die optimale Zubereitung. Diese gänzlich unangestrengt wirkende Grandezza der Kreationen ist Teil des inhärenten Zaubers der Schwarzwaldstube, denn die treffsicher ausgeloteten Aromen und die unvergleichliche Harmonie der Speisen suchen in Deutschland einfach ihresgleichen. Ein Saft von Konstantinopeler Apfelquitte (Van Nahmen) entpuppt sich übrigens als idealer Begleiter dazu.

Der nächste Gang unterstreicht einmal mehr, warum Saucen und Sude wohl die Königsdisziplin der französischen Küche darstellen. Fraglos wäre die mit Chorizo gefüllte Rotbarbe („légèrement croustillant“) mit der knusprigen Ummantelung und dem Knoblauch-Topping auch so ein Ereignis ersten Ranges, zumal pikantes Paprikachutney, Artischocken und Fenchel dem Gang eine mediterrane und wohltuende Note ohne jede Aufdringlichkeit verleihen. Der Fokus auf die Produktqualität dominiert diesen Teller in noch stärkerem Maße als seine Vorgänger, doch ohne den Fischfond und den Sud von geschmortem Paprika und Basilikum würde diesem Gang fraglos etwas Entscheidendes fehlen. Die geradezu unfassbare Tiefe des aufgegossenen Suds, verdeutlicht, warum man hier auf Schauwerte getrost verzichten kann. Jeder einzelnen Komponente – insbesondere den Saucen, die oft zwei Tage Herstellungszeit benötigen – wird hier eine Aufmerksamkeit zuteil, die anderswo gar nicht umsetzbar wäre. So stimmig verbundene Komponenten sind die absolute Ausnahme geworden, doch auch schon unter Harald Wohlfahrt war man sich der exorbitanten Bedeutung der Saucen stets bewusst. Dass Torsten Michel dieses Erbe verinnerlicht und bewahrt hat, spricht sehr für ihn.

Was als Dreierlei vom Milchkalb mit feinen Erbsen, Zuckerschoten und geschwenkten Pfifferlingen annonciert wird, erweist sich streng genommen sogar als ein „Fünferlei“. Das Milchkalb, das laut Service „fast um die Ecke“ aufgewachsen ist, wird als Würfel von Kalbskopf, Bries, Filet, Cassoulet und Bäckchen interpretiert. Viel mehr als die wenigen annoncierten Begleiter braucht dieser Teller nicht, denn die variable Intensität der Aromen des in allen Facetten beleuchteten Kalbs erstrahlt auch ohne penetrantes Beiwerk. Eine Scheibe von gebratener Gänseleber auf dem Filet ist selbstverständlich eine gern gesehene Beigabe, doch einmal mehr ist es die getrüffelte Jus, die in einer eigenen Liga angesiedelt ist. Deren Körper, Tiefe und Dichte sind beispiellos und führen zu einer leisen, aber selten tiefen Form von Beglückung. Hier treffen Weltklasseanspruch und Wirklichkeit einmal mehr aufeinander.

Wegen der aktuellen Einschränkungen wird der Käse diesmal leider vorab zusammengestellt, doch der Qualität tut dies keinen Abbruch: die Begleitung mit Früchtebrot und Chutneys ist wie immer exzellent.
Zum ersten Dessert reicht man Haselnuss-„Azélia“-Brownies mit Aprikosensorbet, Schokoladencrème „Orizaba“ und Praliné-Crispies sowie Krokant und Tagetesblätter. Der Abgang des Pâtissiers Logan Seibert nach Mannheim zu Tristan Brandts Lokal Opus V scheint angemessen aufgefangen worden zu sein, denn Nussigkeit und Fruchtigkeit gehen hier schlüssig und einträchtig Hand in Hand. Die entwaffnende Tagetescrème verhindert ein Abdriften in zu süße Gefilde, während bei genauem Hinschmecken einmal mehr deutlich wird, dass selbst bei Desserts die Produktqualität noch einen großen Unterschied ausmachen kann: die Haselnüsse müssen zu den besten gehören, die ich je verkosten durfte. Auch wenn ich Gefahr laufe, mich zu wiederholen, so durchzieht auch dieses Gericht eine wohltuende und zwanglose Harmonie.

Kräftigere Aromen gibt es nochmals zum Abschluss: eine dekonstruierte Schwarzwälder Kirschtorte wird hier in allen nur denkbaren Varianten präsentiert, so dass das Prinzip der optischen Zurückhaltung hier ausnahmsweise einmal hinten anstehen musste. Es stört nicht wirklich, denn Knusperbonbon von Schwarzwälder Kirschwasser auf der Zuckerscheibe, Sauerkirschsorbet auf Kirschkompott sowie Manjari-Schokoladenganache und Kirschwasserschaum verdichten sich zu einer rundum stimmigen Komposition mit Lokalkolorit, die auch geschmacklich zu überzeugen weiß. Die durchaus herben Noten des Obstbrands oder der Bitterschokolade setzen der landläufigen Süße dieses Klassikers gekonnt etwas entgegen und unterbinden jedweden Anflug von Langeweile. Ein ausgezeichneter Klassiker!

Die reichhaltige Auswahl an Petits fours enttäuscht natürlich ebenfalls nicht: Lemon Cheesecake mit Preiselbeeren, Mango-Ingwer-Chili-Praline (vorne, von links nach rechts), Cannelé, Praline von Kalamansi und Wasabi sowie zu guter Letzt ein Kirschmacaron (hinten, von links nach rechts) gehören zu den besten Darbietungen eines an gelungenen Ausklängen nicht armen Jahres.

Alle involvierten Personen haben seit Januar 2020 offenbar ein ungeheures Maß an Energie aufgewendet, um diese legendäre Institution wieder dahin zu bringen, wo sie zurecht hingehört: in die absolute Weltspitze. Jedem Besucher, der noch leise Zweifel hegen mag, sei nahegelegt, sich persönlich davon zu überzeugen, dass dies keine leere Floskel ist. Auch als Nicht-Gourmet sollte man einmal in seinem Leben hier gegessen haben, denn die unvergleichlich präzise arbeitende Küche ersinnt Kreationen, die in ihrer Ausführung schlicht einmalig sind. Trotz moderater Nebenkosten hat ein Abend in der Schwarzwaldstube seinen berechtigten Preis, doch die Extraklasse der Darbietungen fegt jeden Zweifel an ihrer Rechtfertigung überzeugend zur Seite. Man kann dem Küchenteam wirklich nur gratulieren, wie unverzagt man seiner Arbeit nachgeht und bisweilen so tut, als wäre nichts Besonderes geschehen. Selbst Torsten Michel genehmigt sich gegen Ende des Abends einen fast zehnminütigen Plausch an unserem Tisch.

Die soeben beschriebene, scheinbare Selbstverständlichkeit trifft auch auf den Service zu, an dessen Spitze David Breuer und Ausnahme-Sommelier Stéphane Gass stehen. Die in einer idealen Mischung aus Diskretion und Zwanglosigkeit agierende Brigade ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesamterlebnisses in diesem Etablissement. Stéphane Gass lässt sich beispielsweise auch am Nebentisch nichts anmerken, als ein Gast (offenbar in einem Anflug von Anmaßung) wiederholt dessen Kompetenz infrage stellt und den Weinempfehlungen nicht zu trauen scheint. Ich wage nicht mir auszumalen, wie groß das Misstrauen dieses Gasts gegenüber einem „gewöhnlichen“ Sommelier sein muss …

Die Schwarzwaldstube hat einen legendären Ruf zu verteidigen – jedem Mitarbeiter, der hier anheuert, scheint dies auch vollkommen klar zu sein. Die Erwartungshaltung der internationalen Klientel immer wieder aufs Neue zu befriedigen ist eine große Kunst, deren Bewältigung hier scheinbar mühelos gelingt. Wenn man sich all die Widrigkeiten der vergangenen Jahre noch einmal ins Gedächtnis ruft, dann sollte man allerdings ob der gezeigten Leistung tatsächlich noch mehr Demut und Respekt an den Tag legen. Nicht unterschätzt werden solle dabei auch, dass viele Stammgäste dem neuen Chef Torsten Michel nicht zugetraut hatten, erfolgreich in die übergroßen Fußstapfen seines Vorgängers treten zu können. Doch wenn der Brand nur eine einzige positive Seite hatte, dann ist es vielleicht diese: die schwere, eher belastend wirkende und nun zur Historie gehörende Patina des ehemaligen Lokals steht Torsten Michel nicht mehr im Wege. Die aktuelle Menüfolge wirkte auf uns fast wie eine Befreiung von ideologischen Fesseln, die der freien Entfaltung der eigenen Kreativität absolut hinderlich waren. Mit dem ungleich moderneren Design des Provisoriums scheint endgültig ein frischer Wind Einzug gehalten zu haben – Torsten Michel hat seine Herkulesaufgabe erfolgreich angenommen und gemeistert. Das Restaurant ist ganz klar in der Gegenwart angekommen und steht spätestens mit der Eröffnung des neuen Lokals bereit, die Zukunft endgültig einzuläuten.

Meinem jüngsten Besuch kann ich erneut das Prädikat der Weltklasse attestieren, so dass die Vergabe der Höchstpunktzahl mehr als berechtigt ist. Ich kann nur jeden bedauern, der niemals hier gespeist hat.

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

Schwarzwaldstube
Tonbachstraße 237
72270 Baiersbronn-Tonbach
07442/492665
www.traube-tonbach.de

Guide Michelin 2021: ***
Gault&Millau 2021: 19,5 Punkte
GUSTO 2022: 10 Pfannen plus Bonuspfeil
FEINSCHMECKER 2021: 5 F

Großes Degustationsmenü (7 Gänge): € 265

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„Es fühlt sich an als sei mein Wohnzimmer abgebrannt.“ (Harald Wohlfahrt)

UPDATE (Mai 2020)

Das Wichtigste vorweg: die Schwarzwaldstube wird am Tag der Veröffentlichung dieses Berichts, dem 29. Mai 2020, im Provisorium mit dem Namen temporaire den Betrieb wieder aufnehmen! Bis zu Veröffentlichung des neuen Restaurants dauert es mit Sicherheit noch bis 2021, doch gerade jetzt sollten alle Neugierigen die Chance nutzen – ausländische Gäste werden aufgrund der weltweiten Reisewarnung sicherlich weniger zu erwarten sein. Wie es überhaupt dazu kam und was seither geschah, folgt untenstehend.

Der 5. Januar 2020 wird für Gourmets als einer der schwärzesten Tage aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Gegen 3.20 Uhr schlug der Feuermelder Alarm, doch es war bereits zu spät: das historische, über 200 Jahre alte Gebäude der Traube Tonbach stand lichterloh in Flammen. Durch den beherzten Einsatz der Feuerwehr wurde ein Übergreifen der Flammen auf das Hauptgebäude verhindert, so dass glücklicherweise wenigstens keine Verletzten oder gar Toten zu beklagen waren; den unermesslichen ideellen Verlust an sich kann dagegen wohl nur nachvollziehen, wer jemals dort gespeist hat. Mit diesem Brand ist ein unvergleichliches Kulturdenkmal in Baden-Württemberg untergegangen: die Schwarzwaldstube war schließlich nicht umsonst das wohl bekannteste und eines der am höchsten dekorierten Restaurants der Republik. Der legendäre ehemalige Chefkoch Harald Wohlfahrt leitete das Restaurant nicht weniger als 41 Jahre lang und führte es ab 1992 ununterbrochen in die Drei-Sterne-Liga. Sein Nachfolger Torsten Michel hielt die drei Sterne ebenfalls, so dass die Schwarzwaldstube das am längsten mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Lokal Deutschlands ist (respektive „war“, da der Guide Michelin 2020 wegen der längeren Schließung des Etablissements die drei Sterne aberkannte). Dass dieses Lokal in einem Atemzug mit den allerbesten Restaurants in London und Paris genannt wurde, mag verdeutlichen, welche Reputation diese Institution weltweit genoss. Wie es weiter geht, war natürlich zum Zeitpunkt des Brandes noch völlig offen, doch Patron Heiner Finkbeiner sah das Desaster auch als eine „Chance an, etwas Neues aufzubauen“. Die gesamte Gourmetwelt von Peru bis Japan hielt den Atem an – und nun folgt auch noch die unselige Corona-Pandemie. Man darf gespannt sein, wie gut nun der Neustart nach all diesen Tiefschlägen gelingt – dass Heiner Finkbeiner allerdings kein Mann halber Sachen ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.

Leider war es hierzulande aber offenbar immer noch notwendig, in sämtlichen Nachrichten den „normalen“ Leuten erst einmal erklären zu müssen, welch außergewöhnliches Lokal hier betroffen war. Wäre beispielsweise das Louis XV von Alain Ducasse in Monaco abgebrannt, dann hätte wohl nahezu jeder Franzose sofort Bescheid gewusst.

Nach der unwürdigen Posse rund um den Abgang des legendären Harald Wohlfahrt vor drei Jahren war jedenfalls im bekanntesten aller deutschen Sternerestaurants (vielleicht mit Ausnahme von Eckart Witzigmanns damaligem Lokal Aubergine) wieder allmählich Ruhe eingekehrt – und nun dieses Inferno. Selbst wenn der ehemalige Chefkoch dort inzwischen offenbar als Persona non grata gilt, so zeigt des Eingangszitat als Reaktion auf das Unglück die nach wie vor hohe emotionale Bindung an die 40 Quadratmeter Küche, die Wohlfahrts Leben prägten. Es ist wahrlich seltsam, eine Rezension zu schreiben, die zu einem Nachruf auf ein Restaurant werden wird, doch trotzdem schätze ich mich glücklich, gerade mal genau eine Woche vor dieser Katastrophe als Weihnachtsgeschenk nochmals dort gewesen zu sein und das „alte“ Lokal mit der legendären massiven Holzdecke in bester Erinnerung zu behalten. Trotzdem ist es ein komisches Gefühl, dass das Foto, entstanden an diesem strahlend schönen Wintertag, ein nun nicht mehr existierendes Gebäude zeigt …

Natürlich war unserer Dreiergruppe bewusst, dass Chefkoch Torsten Michel trotz einer ganzen Dekade an Erfahrung als Souschef eine Aufgabe übernommen hatte, die ihm nicht jeder zutraute: zu groß schien der übermächtige Schatten seines hochdekorierten Vorgängers. Auch der Abgang des legendären Pâtissiers Pierre Lingelser im vergangenen Jahr sollte sich als zusätzliche Hypothek erweisen, mit der man erst einmal umgehen musste. Konstanten gab es jedoch zum Glück ebenfalls: nach wie vor dirigierte Maître David Breuer die emsige sowie höchst aufmerksame Servicetruppe, und Heiner Finkbeiner leitete auch im fortgeschrittenen Alter seinen Hotel- und Restaurantbetrieb immer noch mit großem Verve. Sommelier Stéphane Gass hielt dem Haus ebenfalls die Treue, so dass der Neustart letztlich doch nicht unter so schlechten Vorzeichen stand wie von vielen befürchtet. Das Facelifting des Restaurants war ja zum Glück schon vor dem Ende der alten Ära abgeschlossen worden, und auch die Beibehaltung einer genuin französisch ausgeprägten Stilistik wurde ebenfalls nie ernsthaft hinterfragt. Dennoch war klar, dass eine dezente Modernisierung des Küchenstils unumgänglich werden würde, wenn das legendäre Haus weiterhin in der höchsten internationalen Liga mitspielen möchte. Da erwies es sich als Glücksfall, dass Torsten Michel bereits in seiner Zeit als Souschef eigene Gerichte kreierte und – mit dem Segen des Grand Chefs Harald Wohlfahrt – auf der Speisekarte platzieren durfte. Es erhob sich somit die Frage, ob der Stabwechsel nun als vollständig abgeschlossen angesehen werden konnte oder ob die Übergangsphase nach wie vor noch durchschritten werden muss. Aufklärung folgt …

Nach einem wie immer stilsicheren und angemessenen Empfang, der aber keineswegs steif gerät, geleitet man uns zu Tische – für eine Person ist es ja sogar die Premiere. Diese staunt nicht schlecht über die wuchtige (und immer noch umstrittene) Holzdecke sowie die Klientel, die Gäste aller Couleur hier versammelt – manche nehmen eigens eine Reise in Kauf, nur um hier zu speisen! Das ist neben der Küchenleistung auch ein Verdienst des Vorzeige-Maîtres David Breuer und Sommelier Stéphane Gass, die fraglos zu den Spitzenkräften ihres Metiers zählen. Zum Aperitif reicht man zunächst wie gewohnt drei Einstimmungen auf Löffeln, die allesamt bereits höchste Ansprüche befriedigen können. Selbiges gilt auch für den warmen Gruß mitsamt generöser Kaviar-Nocke auf Varianten von Blumenkohl und einer Limetten-Vinaigrette (falls ich mich richtig erinnere). Ich muss hier nämlich leider gleich vorwegschicken, dass ich meine Notizen zu den Amuses und den Petits fours unverzeihlicherweise verlegt habe und das, was nicht eindeutig den Fotos zu entnehmen ist, leider der Phantasie überlassen bleibt. Sollten die Notizen doch noch auftauchen oder ich anderweitig an die Informationen kommen, so reiche ich diese natürlich nach. Ich würde mich am liebsten …

Wofür ich hingegen wenig kann, ist der Einfallswinkel der tiefstehenden Sonne, die leider störende Schatten auf die Teller warf. Ich hoffe, das Wichtigste ist auch so zu erkennen.

Dass in der Schwarzwaldstube eine Speisekarte noch als solche zu bezeichnen ist, wird an den Beschreibungen der jeweiligen Gänge immer wieder deutlich. Während anderswo wortkarg drei oder vier Komponenten aufgezählt werden, besteht ein erster Gang hier aus Tatar von gebeiztem Wildlachs und Scheiben von mildgeräuchertem Lachs „Kishu“ mit Karasumi, eingelegten Algenspitzen und krauser Glucke sowie Shoyumarinade. Fraglos eine Beschreibung für Fortgeschrittene, da selbst die wenigsten Gäste den Pilz „Krause Glucke“ kennen dürften – von den japanischen Elementen ganz zu schweigen! So oder so bleibt festzuhalten, dass ich diesen Einstieg unwillkürlich mit der 1. Kammersinfonie von Arnold Schönberg, einem seiner frühen Meisterwerke, verglich: trotz vieler fremdartig anmutender Komponenten geriet jedes der scheinbar unzähligen Elemente so seidig-transparent und war derart deutlich herauszuschmecken, dass eine schwer beschreibbare und vollkommen perfekte Harmonie eintrat. Einfach umwerfend!

Etwas greifbarer wirkt dagegen gebratene Entenleberscheibe mit gehacktem Trüffel, glasiertem Topaz-Apfel und Apfel-Ingwerkompott an reduzierter Geflügeljus mit gehackten Trüffeln. Dass auch ein Torsten Michel einem so geschundenen Luxusprodukt wie Entenleber keine vollkommen neue Entourage angedeihen lassen kann, ist fast schon tröstlich. Dennoch ist diese Kreation ihren Konkurrenten turmhoch überlegen: nicht nur die sorgsame Balance und die allerbeste Qualität der verwendeten Produkte tragen dazu bei, sondern auch das untrügliche Gespür für die hinreißend intensive, kraftvolle Jus (die meisten anderen Chefs vermeiden Saucen bei Leber inzwischen) und den entwaffnend leichten Apfel. Eine denkwürdige Inszenierung.

Exotischer wird es wieder bei sanft gegarten Medaillons von bretonischem Hummer auf pikantem Gurkensalat mit Stab-, Kammmuscheln und Carabinero sowie mildem Mumbaicurrysud mit Koriander. Selten habe ich mir transparenteren Muschelgeschmack auf der Zunge zergehen lassen – alles ist ausgesprochen aromensatt und gut erkennbar. Hummer und Carabinero sind von so bestechender Konsistenz, dass die Begleitung trotz „pikanter“ Ankündigung vergleichsweise dezent ausfällt und eine diskrete, perfekte Liaison mit den Krustentieren eingeht. Wohltuender Purismus an der richtigen Stelle, gepaart mir geschmacklicher Opulenz – auch das ganz hervorragend.

Die größte Überraschung des Nachmittags war aber für mich der Hauptgang – nicht etwa wegen überbordender Komplexität, sondern wegen des genauen Gegenteils. Was Torsten Michel aus gegrillten Tournedos vom pommerschen Rinderfilet mit Kabayaki-Lack, zweierlei Schalotten und Paprikachutney, Schmorsaft und altem Reisessig macht, verblüfft vor allem aus einem Grund. Während die Gourmet-Gemeinde weltweit nach Wagyu und Kagoshima-Rind lechzt, tut es dem Grand Chef auch ein „gewöhnliches“ pommersches Rind: dieses ist mit so perfekten Röstaromen inszeniert und dem grandiosen Lack umrahmt, dass ich notfalls auf die (exzellente) Begleitung, die sich angemessen zurückhält, auch ganz verzichtet hätte. Ich denke, allein das Foto spricht Bände bezüglich der Qualität dieser umwerfenden Tranche Fleisch. Häre ich da etwa noch jemanden nach Wagyu verlangen?! Definitiv eines der fünf besten Stücke Fleisch, die mir je vorgesetzt wurden. Sprach ich beim Einstieg noch von einer Kammersinfonie, so ist dies Hauptgericht nichts weniger als ganz große Oper.

Nach Käse vom Wagen (Maître Antony) geht es mit dem ersten Dessert weiter: stilsicher zaubert die Patisserie den französischen Dessert-Klassiker Tarte Tatin in einer hinreißenden Variante vom Gala-Apfel aufs Geschirr. Vanille-Karamell, Gavottes-Croustillant und Apfel-Sanddornsorbet runden ein leichtes, in sich geschlossenes und stimmiges Dessert voller Facetten ab, an denen jeder Amateur scheitern muss, obwohl die Kreation nicht so kompliziert anmutet. Wieder einmal ist das, was zwischen den Zeilen eines Rezeptes steht, der entscheidende Unterschied: mit kleinen, effektvollen Kniffen (die für mich an Zauberei grenzen) wird dieses Gericht der Banalität entrissen und schmeckt einfach fabelhaft – das ist eben große Kunst.

Fast schon irdisch wurde es dann beim zweiten Dessert doch noch – Gott bewahre, hier den Begriff „schwach“ hier auch nur anzudenken! Bei „geeistem Kir Royal“ aus Grapefruitsorbet mit tasmanischem Pfeffer und Champagner-Mousseline auf Cassis-Gelée sowie feiner Opaline waren mir dann doch fast zu viele Komponenten im Spiel, obschon sie teils sparsam dosiert waren. Hier fuhren die Geschmackspapillen regelrecht Achterbahn, denn es passierte mir fast zuviel in diesem kompakten Dessert. Das elegante Changieren zwischen fruchtigen und alkoholischen Komponenten erweist sich als tolle Idee, wollte aber nicht ganz so überzeugend wie die restlichen Menüpunkte gelingen – trotzdem noch immer weit weg von einer Enttäuschung, sondern allenfalls durchschnittlich. Das sei ja wohl nach diesem Menü verziehen, zumal die Petits fours ebenfalls der Extraklasse angehörten – hier wird selbst so etwas Banales wie eine Crème brûlée oder ein Cannelé – von den grandiosen Macarons ganz zu schweigen – noch zum erstaunlichen Erlebnis.

Ich denke, mein Bericht hat zumindest in Ansätzen verdeutlichen können, warum der Schwarzwaldstube seit Jahrzehnten stets ein Ausnahmerang in Deutschland attestiert wurde. Torsten Michels starke, aber keineswegs aufdringliche Parade geriet zum aromatisch dichten Feuerwerk, das den geforderten Preis von € 245 leicht rechtfertigte. Kein Wunder, dass ich diesen Besuch auf Platz 7 meiner besten Restaurantbesuche aller Zeiten eingeordnet habe! Dieses Lokal gehört nach wie vor zur internationalen Elite.

Schon jetzt kann man endgültig davon ausgehen, dass das Jahr 2020 als das schwärzeste in der Geschichte der Schwarzwaldstube eingehen wird, denn die internationale Klientel des Hauses wird angesichts von Reisewarnungen vorerst weitgehend ausbleiben. Andererseits ist Patron Heiner Finkbeiner mit Sicherheit niemand, der die Gesundheit seiner Mitarbeiter und Gäste voreilig aufs Spiel setzen würde, nur um möglichst rasch wieder öffnen zu können – und qualitative Abstriche stehen erst recht nicht zu befürchten. Hoffen wir also, dass die aktuelle Corona-Krise dieser Branche nicht allzusehr zusetzt, denn um den Fortbestand von so manchem Sternerestaurant muss man sich derzeit wohl berechtigte Sorgen machen. Das prominenteste Opfer bislang ist übrigens Burg Schwarzenstein, wo dem bereits vor Corona zu schwach besuchten Restaurant durch die Pandemie der endgültige Todesstoß versetzt wurde und Nils Henkel, der nun in Bingen anheuert, nicht gehalten werden konnte. Hoffen wir, dass der Schwarzwaldstube ein ähnliches Schicksal erspart bleibt!

Mein Gesamturteil: 20 von 20 Punkten

 

Schwarzwaldstube
Tonbachstraße 237
72270 Baiersbronn-Tonbach
07442/492665
www.traube-tonbach.de

Guide Michelin 2020: –
Gault&Millau 2020: 19,5 Punkte
GUSTO 2020: 10 Pfannen plus Bonuspfeil
FEINSCHMECKER 2020: 5 F

Großes Degustationsmenü (7 Gänge): € 245

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Mai 2017

Nach knapp dreistündiger Anreise – die Hälfte davon im strömenden Regen – ist schließlich die beschauliche Landstraße erreicht, die hinauf in den Baiersbronner Ortsteil Tonbach führt. Rein optisch unterscheidet sie sich nicht im Geringsten von allen anderen Landstraßen im Schwarzwald: hier und da säumen ein paar Ferienhäuser die Straße, während es weiter bergauf geht. Eigentlich gäbe es keinen Grund, viele Worte über diese Straße zu verlieren, wenn an deren Ende nicht zufällig die Traube Tonbach, eines der besten Hotels von ganz Deutschland, und die Schwarzwaldstube, eines der besten Restaurants von ganz Europa, beheimatet wäre. Gourmets aus aller Welt nehmen einiges auf sich, um mindestens einmal im Leben im mutmaßlich bekanntesten Gourmetrestaurant der Republik zu speisen. Es bedürfte angesichts der herausragenden Küche im Grunde genommen keines speziellen Anlasses, den Weg nach Tonbach zu finden. Die Ankündigung von Harald Wohlfahrt jedoch, die Schwarzwaldstube im Juni zu verlassen und den Kochlöffel an den Nagel zu hängen, war erst recht Anlass genug, das Lokal noch einmal zu besuchen, bevor sein 39-jähriger Souschef Torsten Michel endgültig das Zepter übernimmt. Der Abgang des Altmeisters ist natürlich auch Grund genug, ein eigenes Essay (siehe Rubrik „Essays“) in der Würdigung seiner Verdienste zu verfassen.

Änderungen gab es in diesem Haus in jüngerer Vergangenheit etliche – zuerst musste 2015 das allgemeine Programm gekürzt werden, weil die deutsche Politik wieder einmal der Spitzengastronomie Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte: aufgrund der neuen Arbeitszeitenverordnung mussten nicht wenige Sternerestaurants den nachmittäglichen Betrieb gar ganz einstellen – dieser „worst case“ konnte hier wenigstens abgewendet werden. Nach dem ersten Schock gelang es dem Küchenteam sogar, in jüngerer Vergangenheit wieder mehr Opulenz zu präsentieren und neben drei Menüs auch wieder Gerichte à la carte anzubieten. In anderen Ländern Europas wird die Hochküche regelrecht hofiert, während in Deutschland eben weiter fleißig der Bürokratie gefrönt wird …

Die dezente Modernisierung des legendären Speisesaals im letzten Jahr wurde von Gourmets in derart ausgiebiger Intensität debattiert, dass einem schnell klar wurde, wie bekannt die Schwarzwaldstube inzwischen eigentlich ist – andernorts hätte kein Hahn danach gekräht! Jedenfalls ist der barock-artige, schwere Damast gewichen: die fürstlichen Stühle wurden durch modernere und sehr bequeme Stühle ersetzt, und die Vorhänge wurden fast komplett entfernt. Außerdem gab es einen neuen Teppich, neue Fenster und dezent von hinten illuminierte Sitzbänke. Geblieben ist lediglich die legendäre massive Holzdecke, die trotz unveränderter Form weitaus weniger wuchtig als in früheren Tagen wirkt. Meiner Meinung nach war die Renovierung ein gelungener und notwendiger Schritt, um zeitgemäß zu bleiben – der Weitsicht des Innenarchitekten kann ich nur Bewunderung zollen.

Nach neuen gesetzlichen Hürden und Renovierung folgt nun also die dritte und markanteste Veränderung: mit dem Abgang des Grand Chefs verlässt eine Galionsfigur der Gastro-Szene die Bühne. Nicht wenige Gourmets werden diesen (allerdings nachvollziehbaren) Schritt bedauern. Dass das vermutlich letzte große Degustationsmenü des Chefs indes nochmals alle Register zog und verdeutlichte, dass die Küche Wohlfahrts keine spürbaren Verschleißerscheinungen zeigte, machte diesen aufwendigen und recht spontanen Besuch trotz allem überaus lohnenswert. Es ist außerdem erstaunlich, dass man abends an Freitagen und Samstagen etwa drei Monate im Voraus reservieren muss, während derjenige, der mittags am Donnerstag oder Freitag anreisen kann, mit etwas Glück unter einer Woche Wartezeit davon kommt!

Nach all der Vorrede nun aber zum kulinarischen Teil: eingeläutet wird dieser Mittag mit einem fruchtigen Spring Break, zu dem man sogleich drei hochfeine Petitessen reicht: es handelt sich dabei um Varianten verschiedener Tatars, die auf unterschiedlichen Chips (z.B. einem Sepia-Chip) serviert und mit diversen kleinteiligen Details vollendet veredelt werden. Die typischen Löffel-Einstimmungen oder der Vier-Segment-Teller (von mir gerne scherzhaft als „Windows“-Teller bezeichnet) gehören der Vergangenheit an. Noch besser als die großartigen Einstimmungen geriet der Gruß aus der Küche: auf einem bildschön angerichteten Teller befindet sich Kaninchen in allen denkbaren Variationen, beispielsweise in Form eines ummantelten Croustillons. Begleitet wird das Gericht von einer Tomatensphäre, Erbsen in verschiedenen Texturen und etwas Estragon. Ein himmlischer Einstieg!

Der geneigte Gast hat dann die Wahl zwischen zwei Degustationsmenüs (fünf oder sieben Gänge) sowie einem vegetarischen Menü. Außerdem erschweren diverse Gerichte à la carte die Wahl, selbst wenn diese größtenteils auch in den Menüs wieder auftauchen. Das vegetarische Menü ist vermutlich in erster Linie der immer größer werdenden Streuung an Gästewünschen geschuldet, aber da Gemüse nicht wirklich die ultimative Domäne des Chefs ist, würde ich Freunden vegetarischer Kost eher das Essigbrätlein in Nürnberg oder das Lafleur in Frankfurt am Main empfehlen, wenn sie auf diesem Gebiet „state of the art“ erleben wollen.

Den offiziellen Einstieg bilden mildgeräucherte Rotbarbenfilets in pikanter Paprikawürze mit kleinem Artischockensalat und Bärlauchpistou. Der in barocker Opulenz angerichtete Teller hält alles, was er verspricht: die lauwarmen Tranchen vom Fisch sind saftig und vollendet zubereitet. In zwei kleinen Türmchen wurden die diversen Teile der Artischocken (auch die Herzen) bildschön aufgeschichtet und perfekt von dem Pistou begleitet, bei dem der klassische Basilikum durch Bärlauch ersetzt wurde. Optik und Geschmack waren hier auf allerhöchstem Niveau – wo andernorts sinnlose Spielereien von kulinarischen Schwächen ablenken sollen, hat hier alles Substanz und große Ausdruckskraft. Der Datterino-Tomatensaft aus dem Hause van Nahmen ist der perfekte Begleiter zu diesem mediterran anmutenden Gericht.

Auf demselben überirdischen Niveau geht es weiter mit zart angebratener Gänseleberscheibe mit feinen Kräuterspitzen, weißem und grünem Spargel an Trüffelglace. Bei diesem weitaus puristischere Gericht ist Wohlfahrt ganz zuhause: die französische Eleganz und Leichtigkeit, die dieses Gericht ausstrahlt, sucht ihresgleichen. Die seidige Textur der Gänseleber ist kaum in Worte zu fassen, und ihr Schmelz geht mit dem Spargel und dem Trüffel eine perfekte Liaison ein. Der Saft vom Kaiser-Wilhelm-Apfel passt großartig.

Schnitte vom weißen Heilbutt mit Garnelenkruste auf feiner Duftreiscrème und kreolischem Escabechesud wagt einen Spagat zwischen Karibik und Nordatlantik. Der auf den Punkt gegarte Fisch ist saftig und erinnert in seiner Optik dank der Garnelenkruste an die Kindheitstage, als ein Schlemmer-Filet aus der Tiefkühltruhe noch etwas Besonderes war. Dass diese Variante ungefähr hundertmal besser schmeckt ist nicht zuletzt auch der argentinischen Wildgarnele zu verdanken, die das Ganze noch toppt. Der aufgegossene Escabeche-Sud wurde eher ungewöhnlich ganz bewusst mit Kokos aromatisiert und mit etwas Rum aufgewertet, um dem Kokos-Aroma etwas mehr Gewicht zu verleihen. Als Begleiter offeriert man einen spritzigen Secco aus diversen Beeren, der eine hervorragende Ergänzung darstellt.

Orientalische Noten kommen bei Milchlamm aus den Pyrenäen mit Karotten in orientalischen Gewürzen und Kardamomjus ins Spiel. Das Lamm selbst ist großes Kino, denn es wurde „nach königlicher Art“ zusammengestellt. Im Klartext: es wurde Fleisch von allen Teilen des Lamms verwendet und in einer Art Mosaik angeordnet, das zum Schluss mit Bauch ummantelt und so am Auseinanderfallen gehindert wurde – vor dem Servieren wurde es zudem nochmals 12 Stunden bei 72 Grad geschmort. Der einzige kleine Kritikpunkt an diesem Gericht ist die Zurückhaltung der Begleiter, die keinen spannenden Kontrapunkt setzen und die Kreation trotz handwerklicher Souveränität nicht weiter aufwerten. Der Aronia-Saft dazu hat Körper und wirkt trotz der mächtigen Aromen auf dem Teller sehr präsent – der bittere Abgang des Saftes bleibt allerdings gewöhnungsbedürftig.

Die Käseauswahl von Maitre Antony bietet ausschließlich französische Käsesorten bester Qualität an. Zu der Auswahl serviert man diverse Sorten Brot, aber ansonsten bleibt die Begleitung recht spartanisch. Dann gönnt man sich eben nochmals einen Datterino-Tomatensaft …!

Patissier Pierre Lingelser stimmt mit einem entzückenden Pré-Dessert auf die nachfolgenden Höhenflüge ein: in einem kleinen Schälchen wird eine Art Vanillepudding getoppt mit einem Gelée aus Limette und Apfel, während Aromen von Minze und Waldmeister spannende Kontraste setzen. Kleine geeiste Himbeerperlen obenauf sorgen zudem für noch mehr Fruchtigkeit. Sehr schön!

Inspiration von brauner Mandelkuvertüre mit Aprikosen-Lavendelcoulis und Mandelknusper, Bergamotte-Zitornencreme und Aprikosensorbet klingt unterschwellig nach zu vielen Komponenten, doch der Teller belehrt den Gast schnell eines Besseren. Ein farbenfroher Reigen feinst austarierter Begleiter umspielt die Mandelkuvertüre, die allein schon aufgrund ihrer Optik die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dominierender Begleiter ist die fruchtige Aprikose, die in allen nur denkbaren Texturen von kleinen Tupfen an Crèmes in Szene gesetzt wird. Der Service animiert buchstäblich dazu, alle Komponenten zu mischen – einer Aufforderung, der man gerne nachkommt, denn der Verzehr ist die reine Wonne. Der Aprikosensaft zu diesem Feuerwerk an Aromen ist vielleicht nicht originell, aber passend.

Ein zweites Dessert namens Geeiste Schwarzwälder bildet den Abschluss des offiziellen Menüs: eine Sauerkirschsorbet, das mit Tannenharz aromatisiert wurde, bekommt durch Schokoladencrumble und Sauerkirsch-Kompott noch mehr Kontur. Obenauf befindet sich noch eine hauchdünne (vermutlich geeiste) Schokoladenscheibe sowie eine Praline mit Kirschwasserlikör, der vollendet zu der Kreation passt. Im Großen und Ganzen bot diese Kreation vielleicht weniger Kontraste als der Vorgänger, doch kommt man kaum umhin, auch dieses Kunstwerk als sehr gelungen zu bezeichnen – dazu passte natürlich auch die heiße Schokolade …

Insgesamt acht hochfeine Petits fours versüßen den Ausklang, darunter ein Ingwer-Marshmallow, eine Amarena-Praline sowie diverse Macarons und Törtchen. Ein würdiger Abschluss!

Dieses Menü beeindruckte vor allem nochmals durch seine kosmopolitische Prägung: hier wurden mit beeindruckender Leichtigkeit Aromen aus allen Winkeln der Welt kombiniert und mit fast beiläufiger Selbstverständlichkeit brillant in Szene gesetzt. Nichts wirkte verkrampft oder verkopft: trotz aller Kunstfertigkeit bleiben die Gerichte in diesem Haus stets recht leicht zugänglich und überzeugen durch ihre unnachahmliche Eleganz. Bei alledem bleiben die französischen Tugenden wie Harmonie und Ausgewogenheit die Basis von Wohlfahrts Credo. Eine in dieser Form selten erlebte und so konsequente umgesetzte Hinwendung zu Saucen als verbindendem Element hievte die exzellenten Gerichte meist nochmals in ungeahnte Sphären (die Trüffelglace zur Gänseleber war diesbezüglich der absolute Höhepunkt). Modeströmungen finden nur dann Eingang in Wohlfahrts Küche, wenn sie auch kulinarischen Sinn machen und mit seinen Idealen kompatibel sind. Wohlfahrt lag es stets fern, seine Überzeugungen zugunsten der so gierig nach Neuerungen lechzenden Gastro-Szene zu opfern. Dies bedeutet aber keineswegs, dass diese Küche altmodisch wäre – nur hat sie es aufgrund ihrer überragenden Substanz nicht nötig, sich grundlos zu verbiegen und Terrain zu betreten, auf dem sie nun einmal nicht zuhause ist.

Die Servicebrigade um Maitre David Breuer ist weithin gerühmt für ihre präzise und charmante Arbeit – auch der letzte Besuch machte da keine Ausnahme. Sommelier Stéphane Gass gehört längst zu den weltbesten seines Fachs, aber selbst die in der Hierarchie niedriger angesiedelten Kräfte sind mit Leidenschaft und Eifer bei der Arbeit. So wünscht man sich das! Außerdem sind auch die Nebenkosten für ein Lokal mit dieser Reputation absolut fair kalkuliert. Es bleibt dabei: man sollte zumindest einmal im Leben hier gegessen haben!

Ach ja: der Chef war an diesem Tag leider gar nicht anwesend, aber wenigstens wurden die Gäste persönlich vom Patron des Hauses Heiner Finkbeiner begrüßt. Von den insgesamt drei bisherigen Besuchen hat mich dieser am nachhaltigsten beeindruckt – vor diesem Hintergrund darf man erst recht gespannt sein, ob das Niveau auch in der Ära nach Wohlfahrt gehalten werden kann. Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt darauf und verkneife mir solange ein paar Tränen …