Rutz***, Berlin

„Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

September 2021

Da ließ der Guide Michelin im März 2020 aber mal eine tüchtige Bombe platzen: nach Hamburg (The Table) und München (Atelier) hatte nun endlich auch die Hauptstadt Berlin ihren ersten Dreisterner. Anstatt jedoch einen erwartbaren Kandidaten wie etwa das Facil, Tim Raue oder das Lorenz Adlon Esszimmer zu küren, fiel die Wahl auf das weitaus weniger renommierte und vergleichsweise unbekannte Rutz von Chefkoch Marco Müller. Das einen Kilometer nördlich vom Bahnhof Friedrichstraße in der Oranienburger Vorstadt gelegene Lokal war erst 2017 mit dem zweiten Stern ausgezeichnet worden und erlangte den begehrten dritten Macaron somit schon nach der erstaunlich schnellen Zeit von drei Jahren – ein nahezu beispielloser Vorgang in Deutschland, wenn man einmal vom Atelier in München absieht.

In dem von außen unscheinbaren, aber innen durchaus elegant auf zwei Etagen eingerichteten Lokal bekommt man eine elaborierte Küche geboten, die in einer durchdachten Mischung aus relativ konsequenter, aber keineswegs sklavisch eingehaltener Regionalität und einer gewissen Gemüselastigkeit ein beachtliches Profil entwickelt hat. Chefkoch und Mastermind Marco Müller, der voriges Jahr seinen 50. Geburtstag feierte, hat sogar jüngst mit dem Rutz Zollhaus eine unweit entfernte Dépendance eröffnet, in die die ehemalige Rutz Weinbar umgezogen ist – dadurch gewann man das Erdgeschoss als zusätzlichen Raum für das Sternerestaurant hinzu. In dem mit gläsernen Weinschranken und bernsteinfarbenen Materialien ausgestatteten Lokal herrscht eine insgesamt zwangslose, aber mit der Dauer auch etwas lärmige Atmosphäre.

Da dies der Premierenbesuch war, gestalteten sich unsere Vorfreude und Erwartungshaltung gleichermaßen hoch. Einiges hatte ich natürlich trotz allem im Vorfeld schon vernommen – und außerdem waren wir schon mal vor knapp drei Jahren nach dem mittäglichen Besuch im inzwischen geschlossenen reinstoff durch die Räume geschlendert, was man uns freundlicherweise genehmigt hatte. Das offene Raumkonzept ist durchaus ansprechend, und vorbei an der einsehbaren Küche geleitet man uns zu unserem kleinen quadratischen Tisch an der Fensterfront im Obergeschoss. Zu einem Mixgetränk aus Sauerampfer und Senchatee serviert man auch ohne Umschweife die erste Kleinigkeit, die laut Service gleich „die Philosophie des Hauses“ verdeutlichen soll. Dabei handelt es sich um eine hochkonzentrierte Essenz von Birkenwasser, Lärchennadelnextrakt, Tomate und Sauerklee. Das klingt nach eher exotischen Produkten oder zumindest Kombinationen aus heimischen Wäldern und Feldern, aber der erfrischende und intensive Geschmack dieses kleinen Einsteigers macht schon mal durchaus etwas her. Von der Menge her wirkt es wenig, aber tatsächlich wäre hier mehr fast schon zu viel des Guten gewesen.

Zur Auswahl steht lediglich, ob man das volle Menü namens Natur&Aromen in den vollen acht Gängen (€ 245) oder die verkürzte Version in sechs Gängen (€ 198) genießen möchte. Wir entscheiden uns angesichts weiterer Restauranttermine in unmittelbarer zeitlicher Nähe für die kürzere Variante und harren der Dinge, die in den kommenden Stunden auf uns zukommen werden. Einen wirklich starken Eindruck hinterlässt dabei vor allem der nächste Gruß: Tatar vom Husumer Lamm wird auf einem essbaren Chip mit Klee, Lauch und einer Bärlauch-Emulsion höchst ungewöhnlich, aber letztlich sehr schlüssig begleitet. Fast lenken die Nebendarsteller von der Tatsache ab, dass das wirklich grandiose Tatar im Mittelpunkt stehen sollte, doch tatsächlich wären die meisten der folgenden Gerichte ohne die komplexen Details in der Tat erheblich ärmer.

Zumindest in optischer Hinsicht ist das letzte Amuse etwas simpler gestrickt, aber auch gestocktes Ei mit Rauchaal-Schaum, Estragon, Oxalis-Pulver und Erbsen vereint eine elegante Würze mit zahlreichen gut ausgeklügelten Konsistenzen und eine aromatische Vielfalt, die man hinter diesem harmlos anmutenden Gang eher nicht vermutet hätte. Der Aufwand ist jedenfalls erheblich größer als die Optik verrät, aber das Gericht zahlt es auch mit komplexem Geschmack zurück. Diese Küche macht es ihren Gästen fraglos nicht immer leicht, aber wenn in irgendeiner deutschen Großstadt gegen den Strich gebürstet wird, dann ist es ja wohl Berlin! Insofern sollte spätestens jetzt niemand mehr überrascht sein, dass man den größten Gewinn aus dieser Küche nur mit einem Maximum an Neugier, Aufgeschlossenheit und Hingabe ziehen kann.

Zum Auftakt ins Menü versteckt die Küche Tatar von Kaisergranat flächendeckend unter Gurke, die aufwendig vakuumiert und bei Niedrigtemperatur gegart wurde. Die blätterförmigen, weißen Scheiben von geeister Sauercrème weisen deutliche Aromen von Holzkohle auf, während der mit roten Zwiebeln und Kiefernadelnöl aromatisierte Sud im Verbund mit Salzwiesenkräutern einen kräftigen Kontrapunkt setzt. Allerdings passiert mir auf diesem Teller fast schon zu viel, so dass ich diesem Einfall eine gewisse Kopflastigkeit attestieren würde, bei der die Balance zu Ungunsten des Krustentiers ein wenig zu deutlich zur Gurke hin verschoben ist. Fraglos wurden hier starke Aromen auf engsten Raum gedrängt, aber die ganz große Begeisterung wollte sich noch nicht einstellen, weil die Umsetzung der an sich guten Idee noch etwas Luft nach oben hatte. Ins Glas kommt als flüssiger Begleiter Gurkensaft mit Waldmeister und Pinienöl – spritzig und erfrischend.

Wesentlich besser und überzeugender gerät der zweite Gang, der Kartoffel (gebrüht, gebacken und Asche) in launiger Vielfalt in den Mittelpunkt stellt. Etwas Gelbschwanzmakrele und Ceta-Kaviar, die sorgsam versteckt wurden, steuern ausgesprochen passende und wohltuende mineralische Frische bei, während feine Akzente von Riesling und erdige Noten von etwas Rübe auch aus diesem Gang einen filigranen Einfall machen, der aber nichts Überflüssiges aufweist. Unterm Strich wurde hier dem Hauptdarsteller trotz allem die Bühne überlassen, wodurch die verschiedenen Konsistenzen besonders gut zur Entfaltung kamen. Fraglos ein Höhepunkt der Menüfolge, zumal sich das Mix-Getränk aus Riesling, Kombucha und Zitrus harmonisch einfügte.

Erst jetzt streut die Küche die Brotauswahl ein und begründet dies mit der Tatsache, dass die verfrühte Zufuhr von Kohlenhydraten den Genuss wegen vorzeitiger Sättigung möglicherweise erheblich einschränken könnte – eine nachvollziehbare Argumentation, da das gehaltvolle, aber sehr bekömmliche Sauerteigbrot und das ausgesprochen herzhafte kleine Blutwurstbrot im Verbund mit Salzbutter und Fenchel-Anis-Butter durchaus sättigend wirken können.

Den optischen Höhepunkt des Menüs hat der dritte Gang zu bieten, der Quellforelle in den Mittelpunkt stellt. Die mit etwas Petersilie veredelte Buttermilch ist ein wunderbar kühler und säurebetonter Begleiter des lauwarmen Fischs, der seinerseits mit intensiven, geeisten Korianderperlen und Ceta-Kaviar bedeckt ist. Als überraschende Komponente entpuppt sich eine krosse Brathendlhaut, die dem tendenziell weichen Gang mehr Biss verleiht und markanten Fettgeschmack beisteuert. Speziell die Buttermilch gerät überaus komplex im Geschmack, doch auch der gesamte Teller punktet mit makelloser Frische. Ein weiterer starker Einfall, der mit Molke, Zitrus und Petersilienwurzel thematisch stimmig im Glas abgerundet wird.

Als nächste „Inspiration“ (so werden die Gänge hier bezeichnet) wird Kalb ins Zentrum des Geschehens gerückt. Das herzhafte Bries labt sich an einem cremigen Schaum von Wunderlauch und Apfel, während die mehr als sechs Stunden karamellisierten Zwiebeln obenauf weitere dezente Süße beitragen. Im Vergleich zu den Vorgängern ist die Zahl der verwendeten Komponenten geradezu überschaubar, doch gerade diese Disziplin scheint die Küche besonders gut zu beherrschen, denn aufgrund des ausgewogenen und doch intensiven Geschmacks und der klaren Struktur dieser Eingebung gerät diese Idee zur vielleicht besten des gesamten Abends. Tee von gerösteten Zwiebelschalen und Malz betont abermals gekonnt die erdigen Noten und rundet ein kleines Meisterwerk formvollendet ab.

Der Hauptgang, als „eine Kindheitserinnerung“ bezeichnet, besteht aus zwei Teilen. Zunächst presst die Küche Haut, Tatar und eingedicktes Blut vom Schwein als hocharomatische „Bombe“ auf dicht gedrängten Raum, um im zweiten Teil das aromensatte, zartrosa gebratene Fleisch umso ausladender in Szene zu setzen: Bohnenkraut bereitet dem Hauptdarsteller eine würdige vegetabile Bühne. Trotz vieler gewöhnlicher Produkte sind es im zweiten Teil eher die weniger landläufigen Beigaben wie Kombu, Ponzu und Lardo (hauchdünn geschmolzen auf dem Fleisch), die sparsam dosiert einen eher simpel wirkenden Gang souverän veredeln und doch jederzeit daraus eine bekömmliche und gelungene Inspiration machen. Der Sinn des recht süßen, flüssigen Begleiters in Form von Birnensaft und Krustentierbitter will sich mir allerdings auch nach der abermaligen Erklärung durch Frau Großmann partout nicht erschließen.

Als Pré-Dessert streut die Küche eine wahrhaftig markige Erfrischung ein, die nichts für Zartbesaitete ist: ein Tagetes-Sorbet wird mit Rhabarber-Öl einerseits fruchtig abgefedert, aber andererseits durch einen guten Schuss an Gin wieder intensiviert. Es wirkt fast wie ein individuell dekonstruierter Gin Tonic mit Langzeitwirkung sowohl am Gaumen als auch im Gedächtnis. Dabei warnte die Farbe ja schon vor, dass hier etwas Knalliges passieren würde!

Beim Dessert beansprucht zunächst das Joghurtbaiser die optische Aufmerksamkeit für sich, doch schon bald intensivieren das grüne Shisosorbet unter dem Shisoblatt und der Sauerkirschsud unten das Geschmackserlebnis ganz erheblich. Durch die Beigabe von Knöterich wirkt das Ganze noch erheblich herber, doch insgesamt überzeugt der facettenreiche Geschmack, selbst wenn dieser Ausklang nicht so ungewöhnlich wirkt wie manches andere an diesem Abend. Wie so oft sehe ich auch hier wieder einmal beim Dessert das größte Potential für weitere Verbesserungen und Ideen. Ein Saft von Sauerkirsche mit Shiso verdeutlicht, dass die Nähe zum Ausklang hier fast schon zu groß ist und die Ideen vielleicht ein wenig ausgegangen sind. Alles in allem ein für Berlin typisches, löblicherweise weitgehend auf Vermeidung von Zucker ausgerichtetes Dessert, dessen Ergebnis allerdings für meine Begriffe noch nicht auf demselben Niveau wie so manch andere Darbietung an diesem Abend steht.

Drei Petits fours gibt es noch zum Mitnehmen (daher ohne Foto), doch als letzten Ausklang beansprucht die Küche die Aufmerksamkeit des Gastes nochmals in recht intensiver Weise: ein Fichtennadelneis wird mit Berberitze und Haselnuss ohnehin schon recht dominant begleitet, doch herbe Kaffee- und Raucharomen sorgen dafür, dass dieses Finale alles andere als ein fader Abgesang wird. Vielmehr animiert diese letzte Petitesse eher dazu, den Abend umgehend nochmals Revue passieren zu lassen – etwas, das wir bei der Fahrt mit der U-Bahn auf dem Weg zurück ins Hotel in der Tat ausgiebig tun.

Das war ein durchaus fordernder Abend, denn der Verzehr der Speisen erforderte ein hohes Maß an Aufgeschlossenheit und Konzentration gleichermaßen: die komplexen Einfälle der Küche kann man mit beiläufigem Verzehr kaum ausreichend würdigen. Zu subtil und voller kleinteiliger, wichtiger Effekte sind die Gerichte, um ihr Strickmuster mit Leichtigkeit zu dechiffrieren. Man muss sich also schon auf diesen eigenwilligen Stil voll einlassen, um einen lohnenden Genuss daraus zu ziehen. Wer dazu aber die Bereitschaft (und die Kompetenz) mitbringt, der wird in den allermeisten Fällen durchaus mit einer Erweiterung des kulinarischen Horizonts reich belohnt. Dennoch glückte noch nicht jeder Einfall in demselben Maße, wobei das tragfähige und zukunftsweisende Konzept an sich absolut beeindruckend ist. Meine Kritik zielt eher darauf ab, dass ich Herrn Müller in den nächsten Jahren durchaus noch zutraue, die Gerichte weiter zu verfeinern und zu optimieren. Vor diesem Hintergrund würde ich die Leistung der Küche bei zweieinhalb Michelin-Sternen ansiedeln: einerseits, weil sie den meisten anderen Zweisternern tatsächlich um einen Schritt voraus zu sein scheint, andererseits aber auch keine drei Sterne, weil das letzte Maß an Optimierung und Unverwechselbarkeit für mich noch nicht gegeben zu sein scheint. Sicherlich darf man für die Zukunft von einer schrittweisen, quasi nachträglichen Bestätigung dieser außergewöhnlichen Ehre ausgehen, aber die besten Konkurrenten in der Hauptstadt schneiden meines Erachtens nicht schlechter als das Rutz ab. Wenn der dritte Stern indes der weiteren Motivation, die Gerichte zur Perfektion zu treiben, förderlich ist, dann soll mir das andererseits auch recht sein.

Eine derart virtuose Inszenierung von Regionalität ist mir noch selten untergekommen, denn mit der puristischen und minimalistischen Stilistik der radikalsten Exponenten dieser Strömung hat das Rutz tatsächlich nur wenig gemeinsam. So sucht man die dogmatische Anwendung gewisser Techniken wie der IkeJime-Methode, die in bestimmten Kreisen fast eine Art Mantra darstellt, hier genauso vergeblich wie den vollständigen Verzicht auf Luxusprodukte. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass Marco Müller immer dort, wo es sinnvoll oder notwendig erscheint, durchaus willens ist, den regional gesteckten Rahmen zu durchbrechen. Geschmack geht ihm ganz klar über Selbstkasteiung, und so überzeugt das Ergebnis meist in weitaus stärkerem Maße als bei den Ultra-Puristen der Nova-Regio-Strömung. Tendenziell sehe ich im Rutz eher in einer gewissen Überfrachtung unter Verwendung zu vieler Komponenten die Achillesferse. Waren alle Gerichte erkennbar von einer meist recht kühnen Grundidee durchdrungen, so gelang ihre Umsetzung noch nicht immer gleichermaßen souverän. Dennoch muss dies natürlich selbst unter Berücksichtigung der hier so geschätzten Nachhaltigkeit keinen Dauerzustand darstellen. Ich jedenfalls habe nicht den Eindruck gewonnen, dass man sich hier auf den Lorbeeren ausruhen will, sondern mit unvermindertem Forscherdrang weiter an der Optimierung der Inspirationen feilt.

In der Rückschau fällt es mir tatsächlich nicht leicht, ein endgültiges Urteil zu fällen. Dass es der Küche hier nicht an Ideen und Experimentierfreude mangelt, war jederzeit spürbar. Außerdem merkte man den Angestellten durchaus die Freude bei der Arbeit an und auch die gewisse Ehre, hier arbeiten zu dürfen. Allen voran trifft dies auf Maître Falco Mühlichen und die Sommelière Nancy Großmann zu, die trotz ihres noch jungen Alters von Anfang 30 bereits vom Gault&Millau zur diesjährigen Sommelière des Jahres gekürt wurde – eine Ehre, die in der Vergangenheit zudem noch nicht so vielen Frauen zuteil geworden ist und daher umso höher einzuschätzen ist. Dieses Duo geleitet unaufgeregt durch den Abend und schafft den heiklen Spagat zwischen den beiden Extremen Belehrung einerseits oder Vernachlässigung des Gastes andererseits bei der Erläuterung der durchaus komplexen Speisen. Kritikwürdiger ist eher die Preisgestaltung der Nebenkosten (insbesondere die alkoholfreie Begleitung mit € 14 pro Glas ist nicht gerechtfertigt), zumal auch die Menükosten angesichts relativ weniger Extras nicht so günstig geraten. Nun ja: wenigstens ist im Gegenzug das Wasser inkludiert, was beileibe keine Selbstverständlichkeit darstellt. In Summe teile ich eher die Ansicht des Gault&Millau als die des Guide Michelin, der meiner Auffassung nach diesmal ungewöhnlich forsch vorgeprescht ist. Dennoch lohnt es sich mit Sicherheit, die weitere Entwicklung aufmerksam zu verfolgen, da die Geschwindigkeit, mit der hier in den vergangenen Jahren Fortschritte erzielt wurden, sehr bemerkenswert ist. Weitere Besuche sind daher sehr wahrscheinlich …

Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten

 

Rutz
Chausseestrasse 8
10115 Berlin
Tel.: 030/24628760
www.rutz-restaurant.de

Guide Michelin 2021: ***
Gault&Millau 2021: 18 Punkte
GUSTO 2021: 10 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 4,5 F

8-gängiges Menü: € 245