Der Zauberlehrling*, Stuttgart

„Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.“
(aus Der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe)

Dezember 2021

Auch heutige Spitzenköche haben mal klein angefangen: beseelt von dem Wunsch, es ihren großen Meistern nachzutun, suchen sie allmählich ihre eigenen Wege und wollen beweisen, dass sie auch selbständig zu großen Taten fähig sind. Während Deutschlands Dichterfürst uns suggeriert, dass derartige Vorhaben meist risikobehaftet sind, hält es viele talentierte Jungköche nicht davon ab, genau das oben skizzierte Wagnis einzugehen. Im Falle des jungen Chefkochs Fabian Heldmann könnten die Lehrmeister allerdings kaum größer sein: zunächst bei Wolfgang Becker in Trier, ging es dann weiter zu Christian Jürgens an den Tegernsee und schließlich zu Christian Bau an die luxemburgische Grenze. Da die beiden letztgenannten Chefs beide mit drei Michelin-Sternen dekoriert sind, könnte die Qualität der Ausbildung schwerlich besser sein – an der Erwartungshaltung und der damit verbundenen Bürde sind allerdings auch schon etliche gescheitert. Schauen wir mal, wohin der Weg des Fabian Heldmann noch führt …

Zehn Gehminuten entfernt vom Stuttgarter Schlossplatz, wo das Herz Baden-Württembergs schlägt, beginnt hinter dem Charlottenplatz das Amüsierviertel der Stadt, auch bekannt unter dem Namen Bohnenviertel. Hier entstand hinter einer auffallend roten Fassade vor einigen Jahren das Designhotel Der Zauberlehrling, an das mittlerweile auch ein Sternerestaurant angegliedert ist. Dies ist das Reich des jungen Kochs Fabian Heldmann, der ein recht kleines Genussrefugium inzwischen in eine stattliche Adresse zu transformieren wusste, die schon über die Grenzen der Stadt hinaus Bekanntheit erlangen konnte. Ansonsten weiß ich relativ wenig über dieses Lokal, dessen Besuch kurz vor Weihnachten zum Glück noch geklappt hat. Ob die Darbietungen so zauberhaft sein werden wie die vollmundige Namensgebung es erahnen lässt?!

Nach meiner Ankunft führt mich der Weg erstmal zur Toilette, was deshalb eine Erwähnung wert ist, weil diverse Gimmicks selbst diesen sonst so profanen Raum in einen besonderen Ort verwandeln und dem Namen des Lokals alle Ehre machen – mehr sei hier nicht verraten! Im Kamin brennt ein kleines Feuer, doch auch so ist der Gastraum selbst relativ hell. Auffällig erscheint, dass die teils runden, teils eckigen Tische in drei verschiedenen Farben eingedeckt sind: jeweils in weiß, fliederfarben oder lavendelfarben. Eine optische Entsprechung findet diese Idee auch in den Outfits der weiblichen Servicekräfte, die diese Farbthematik wieder aufgreifen – die männlichen Servicekräfte tragen zumindest violette Krawatten. Hoffen wir, dass der relativ hohe Anteil an Schauwerten schon vor dem Beginn der eigentlichen Darbietung sich nicht auf selbige überträgt und womöglich substantielle Schwächen kaschieren muss.

Angeboten wird jedenfalls ein einziges, siebengängiges Menü zu € 150 mit einer ganz stattlichen Anzahl an nicht so preiswerten Viktualien. Eine Begleitung dieser Folge mit alkoholfreien Getränken wird ebenfalls offeriert, so dass ich von dieser Option Gebrauch mache und gespannt warte, wie überzeugend dieser Abend wohl geraten würde. Jedenfalls kommt unmittelbar nach dem Apéritif (ein Glas SeccOhne vom Staatsgut Weinsberg) ein heißes Erfrischungstuch, was angesichts der beißenden Kälte draußen eine hochwillkommene Geste darstellt. Neben dem Verweis auf die erhobene Wasserpauschale für den ganzen Abend bietet man mir umgehend Fachlektüre an, doch angesichts der zahlreichen Eindrücke an diesem Abend wird mir unterm Strich gar nicht so viel Zeit dafür zur Verfügung stehen.

Der Einstieg wird gestaltet mit drei Kleinigkeiten, die dank guten Handwerks umgehend einen soliden Eindruck hinterlassen: zum einen Rote-Bete-Macaron mit Gänseleber und Apfel (links), dann ein Kalbstatar mit Kirschtomaten auf einem Sonnenblumencracker (rechts), und schließlich ein Cornetto mit Rauchfischcrème und Lachstatar.

Ein weiterer Gruß aus der Küche hält das eben gezeigte Niveau problemlos: zu frittierten Shiitake-Pilzen gießt man eine Dashi auf und umspielt das Ganze mit Crème und Bohnen von Edamame. An Zauberei grenzt das noch nicht, aber ordentliches Ein-Stern-Niveau hat diese Petitesse allemal zu bieten, zumal die Pilze nur selten auf diese Weise zubereitet werden und eine eigene Idee sicher umgesetzt werden konnte. Außerdem wird dieser Einfall jedem Gast am Tisch vom Chef zur Begrüßung persönlich erläutert.

Die Brotauswahl mit Paprikabutter aus Saint-Malo sowie die vier verschiedenen Salze – zwei davon hausgemacht – zeugen davon, dass Routine auch auf diesem Gebiet keinen Platz hat. Das ständige Bemühen um Originalität ist dem Team ständig anzumerken, nur überhand nehmen sollte es natürlich nicht – diese Brotauswahl geleitet jedenfalls gelungen bis zum Hauptgang.

Als überraschend gelungener Auftakt ins Menü sollte sich Rind, Kaviar und Crème fraîche entpuppen. Was harmlos angekündigt wurde, erweist sich als zweierlei Interpretation des Fleischs in Form von kühlem Tatar und hauchdünnem Carpaccio. Die winzige Nocke mit – man höre und staune – Prunier-Kaviar steuert zu den mineralischen Aromen des Fleischs eine schöne Salinität bei. Kontrastierend und wohltuend geraten ein Sud sowie ein kleiner Salat von Rotkohl mit duftiger Süße, wobei das cremige Eis die Palette an Konsistenzen noch weiter sinnvoll aufwertet. Die gepufften Tapiokaperlen sorgen schließlich für leichten sowie bereichernden Biss und runden einen Gang ab, der eher schon das Format eines Meisters als das eines Lehrlings genießt. Dabei ist nicht nur die Optik von bleibendem Wert, sondern auch der Umstand, dass die Qualität dieser Eingebung die Amuses schon deutlich toppt. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, wenn der Chef diesen Gang zum Signature Dish befördern würde – das Zeug dazu hätte er allemal! Sehr stark!

Braver geht es im nächsten Gang bei Perlhuhn, wildem Brokkoli und Liebstöckel zu. In einer mehr oder weniger erwartbaren Inszenierung mit zusätzlich frittierter Haut des Huhns sorgt der mit Liebstöckel veredelte Sud für ein rundes Geschmacksbild, während Pilze und Pilzcrème zumindest das optisch auffällige Bouquet um den Brokkoli sinnvoll bereichern. Das fehlerfrei ersonnene Gericht wirkt leicht asiatisch und bietet solide Sterneküche mit relativ kräftigen und wenig subtilen Aromen. Mit etwas mehr aromatischer Detailarbeit wäre hier noch einiges mehr herauszuholen gewesen – so bleibt es alles in allem ein durchschnittliches Gericht.

Zum dritten Gang gießt der Service zu sanft gegartem Kabeljau eine karamellisierte Beurre blanc auf. Optische Spielereien wie die violetten Kartoffel-Chips und die Sponges aus Lauch (auch in geschmorter Form auf dem Teller zu finden) haben nur bedingt einen wirklichen aromatischen Sinn, während dagegen Schnittlauchöl und Spritzer von Zitrone das optisch gefällig inszenierte Gericht auch geschmacklich weiter aufwerten. Unterm Strich steht ein typisches Wohlfühlgericht auf Ein-Stern-Niveau, das keinen Gast erschrickt oder überfordert – was auch auf die meisten anderen Teller zutrifft, denn bis hierher war jedenfalls kein wirklich schwaches Gericht dabei.

Dem vegetarischen Zeitgeist huldigt die Küche ebenfalls, denn Pilz Dim Sum, Portobello und Cordyceps ist als monothematisches Gericht rund um Pilze konzipiert. Tatsächlich ist dies eine der besten Kreationen des Abends, denn trotz der selbst auferlegten Beschränkung gelingt es Fabian Heldmann, den Pilzen – darunter auch Buchenpilze und Kräuterseitlinge – diverse geschmackliche Intensitäten und Konsistenzen zu entlocken. Die Beigabe eines Dim Sum mit Pilzfarce und der Aufguss einer Vegi-Jus führen zu einer äußerst stimmigen Abrundung eines herben und erdig anmutenden Gerichts, das nicht zuletzt dank seiner Individualität sehr zu überzeugen vermag. Wenn es hier überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann sei lediglich die Frage gestattet, weshalb noch im Winter so ein herbstlicher Gang präsentiert werden muss.

Die zusätzliche Option auf Tagliatelle mit weißem Trüffel (der separat und grammweise abgerechnet wird) und einer getrüffelten Sauce lasse ich mir schon deshalb nicht entgehen, weil im Jahr zuvor die gesamte Trüffelsaison dem leidigen Lockdown zum Opfer fiel. Dieses unkomplizierte Wintergericht erfüllte die in es gesteckten Erwartungen vollauf und wertete das Menü somit weiter auf.

Dass der Zauberlehrling (aka Fabian Heldmann) noch der einen oder anderen Verlockung widerstehen sollte, bewies dann die Erfrischung vorm Hauptgericht. Mit großem Bohei wird hier ein recht harmloses Mango-Passionsfrucht-Sorbet (oben rechts im Bild) in Szene gesetzt: durch eine effektvolle Trockeneis-Darbietung wird der gesamte Tisch fast eine halbe Minute lang in Nebelschwaden eingehüllt. Machen wir uns nichts vor: während die Mehrzahl der offenbar in Sachen Gourmetküche eher unerfahrenen Gäste auf solche Spielereien voll abfährt, muss doch ganz nüchtern festgehalten werden, dass der kulinarische Mehrwert durch solche Aktionen nicht im Geringsten aufgewertet wird und diese im schlimmsten Fall ihre Daseinsberechtigung lediglich aus der Tatsache ziehen, dass unbedarfte Gäste dadurch erfolgreich vom Wesentlichen abgelenkt werden können. Das hat Fabian Heldmanns schon ordentlich gereifte Küche kaum mehr nötig, so dass diese Luftnummer bald wieder eingemottet werden kann, sobald die Zahl an Stammgästen, die solchen Sperenzchen nichts abgewinnen können, groß genug geworden ist.

Ich richte den Fokus gleich wieder auf den Hauptgang, denn Westholme Wagyu Beef, Kürbis, Miso und Orange bringt mein Blut wesentlich stärker in Wallung als die eben gezeigte Darbietung aus dem Chemiekasten. Das zum Upgrade von € 12 erhältliche Hauptgericht (die Alternative wäre Iberico-Schwein gewesen) bringt das Filet auf den Teller, während geschmorte Bäckchen à part in einer kräftigen Rinderjus im Glas serviert werden. Die Qualität des Fleischs spricht angesichts intensiver Röstaromen und des hohen Fettanteils für sich, doch erstaunlicherweise hat der Zauberlehrling für sein Meisterstück sein Augenmerk im selben Maße auf die Beigaben gerichtet. Das zahlt sich voll aus, denn der zunächst eingelegte und danach mit Orangenpaste eingeriebene Kürbis wurde noch acht Stunden geschmort und entfaltet so einen diffizilen Geschmack, der seinesgleichen sucht. Zusammen mit der Würze von Miso und der beachtlichen Jus entsteht so ein ungeahnt großes und komplexes Aromengeflecht, das die Voraussetzungen zur Meister-Beförderung übererfüllt. Wirklich hervorragend! Auch der eigens für diesen Gang ausgewählte Getränkebegleiter, Jörg Geigers Inspiration 4.7 (Traube, Chili, Kirsche) schmiegt sich vollendet an und rundet ein erstaunlich hochwertiges Gericht würdig ab. Bravo!

Nach diesem aromensatten Plat principal lasse ich mir vom Service erst mal ein Tonic Water aufreden, das ich deshalb bestelle, weil mir der Hersteller Seventeen überhaupt nicht geläufig war. Doch, siehe da: Überraschung! Der Geschmack ist grandios und gehört eindeutig zur absoluten Upper Class unter den Tonics – so gut, dass es fast schon einer Sünde gleichkäme, ihn mit einem Gin zu mixen …

Zum Käsegang ersinnt die Küche einen Teller, der geschmolzenen St. Nectaire in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Den Rest des Gangs erläutert mir der Service als eine Art dekonstruierter „Obazter“, denn Breznknödel, Speck und Spitzkohl rücken das Bällchen geschmacklich durchaus in die Nähe des bayrischen Aufstrichs. Kleine, darunter versteckte Segmente von Birne streuen etwas Fruchtigkeit bei, was aber nichts daran ändert, dass die Neuinterpretation zwar originell, aber trotz allem geschmacklich wenig überraschend umgesetzt wurde. Gut gemeint, aber noch etwas ausbaufähig.

Das völlig winterliche Dessert rund um Bratapfel, weiße Schokolade und Rum überzeugt dagegen nochmals auf ganzer Linie: im Zentrum der Aufmerksamkeit thront ein falscher Apfel aus geeister Apfelummantelung mit einer Füllung von Sahne und Apfelragout. Die geschmackliche Abrundung mit Rum ist vollkommen gelungen, und auch das Crumble ist sorgsam eingebettet. Dieser raffiniert ersonnene Nachtisch kann gar nicht so leicht angemessen beschrieben werden, denn seine Herstellung ist im Gegensatz zu so manch anderer Darbietung an diesem Abend gar nicht so leicht zu dechiffrieren. Jedenfalls ein ausgezeichneter Ausklang!

Unter den Ausklängen geraten das Passionsfruchtgelée und der Zitronen-Oliven-Marshmallow trotz der exotisch klingenden Konstellation eher durchschnittlich, aber bei der Himbeerpraline mit geradezu idealer Süße zieht das Niveau nochmals merklich an.

Besonders positiv an diesem recht kurzweiligen Abend ist hervorzuheben, dass kein einziger Teller unterdurchschnittlich geriet – bei einem so junge Koch keine Selbstverständlichkeit, wenn mal der Gaul mit ihnen durchgeht. Sicherlich ist das eine oder andere bisweilen recht verspielt, doch ging es praktisch nie zu Lasten des Geschmacks. Was Fabian Heldmann in seinen besten Momenten zelebriert, ist bereits sehr ausdrucksstark und von klaren Ideen durchdrungen. Deren Umsetzung gerät noch etwas unstet, aber eine stabile Leistung bot wirklich jeder Gang dieser Menüfolge. Highlights, die das in dem jungen Koch schlummernde Potential erahnen lassen, waren das Tatar, der Pilzgang und das Dessert – hier bewegte sich die aromatische Umsetzung auf Augenhöhe mit den teils recht abenteuerlich anmutenden Einfällen. Bei anderen Gelegenheiten schien die Optik noch etwas über den Geschmack zu triumphieren, doch allerspätestens mit der ultimativen, glänzend bestandenen Reifeprüfung im Hauptgang war die Rechtfertigung für den Michelin-Stern erbracht worden. Wenn die Zahl der überflüssigen Spielereien künftig noch etwas stärker zugunsten des Geschmacks in den Hintergrund treten sollte, dann wäre eine weitere, gewinnbringende Steigerung durchaus plausibel. Wer möchte es andererseits einem Koch, der Mitte 30 ist, verdenken, dass er noch stärker experimentiert und im Begriff ist, seinen persönlichen Stil zu suchen?

Eine grundsolide Adresse ist der Zauberlehrling schon auf jeden Fall. Angesichts fairer Nebenkosten und eines angemessenen Service sollten nur wenig Gründe gegen einen Besuch sprechen, wenn es nicht gerade die Champions League der Hochküche sein muss. Nach meinem persönlichen Empfinden war die gezeigte Leistung absolut ausreichend, um die von mir vergebenen 17 Punkte zu rechtfertigen. Der Trend zeigt definitiv nach oben: nun gilt es, das weitere Potential freizulegen. Die Voraussetzungen dafür stehen gut, denn echte Fehltritte gab es keine an diesem Abend. Etwas weniger überdrehte Momente und noch mehr Fokussierung auf den Geschmack könnten künftig noch mehr Dividenden abwerfen, aber um eine reizende und für Einsteiger besonders geeignete Adresse handelt es sich hier schon längst.

Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten

 

Der Zauberlehrling
Rosenstr. 38
70182 Stuttgart
Tel.: 0711/2377770
www.zauberlehrling.de

Guide Michelin 2021: *
Gault&Millau 2021: 16 Punkte
GUSTO 2022: 7,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2021: 2,5 F

7-gängiges Menü: € 150