„Alle Stile, Trends und Moden werden sich immer wieder darauf reduzieren: was geben die Jahreszeiten her, was kann ich mir leisten und was kann der Koch oder die Köchin?“ (Eckart Witzigmann)
UPDATE (November 2023)
Das Phänomen Tisane ist ein recht erstaunliches: einerseits ist das Restaurant in der Szene natürlich durchaus bekannt, zumal Chefkoch René Stein schon vor der Übernahme dieser Räumlichkeiten im Schwarzen Adler in Nürnberg-Kraftshof reüssiert hatte. Andererseits erlebt man nach wie vor mit einer gewissen Regelmäßigkeit, dass unbedarfte Gäste fasziniert vor der fast vollständig verspiegelten Fassade des Lokals im Augustinerhof (nahe dem Hauptmarkt) stehenbleiben und sich in einer irgendeiner Art und Weise über das Lokal informieren möchten. Dann kann es (speziell kurz vor der abendlichen Öffnung) schon mal vorkommen, dass sich im besten Fall ein Mitarbeiter kurz vor die Tür begibt, ein paar Infos mitteilt und den Interessenten eine Visitenkarte des Restaurants in die Hand drückt. Spontan einen Platz ergattern können diese potentiellen neuen Gäste freilich nicht, denn zum einen ist das Lokal meist ohnehin ausgebucht, und zum anderen erfordert der große Aufwand, der hier im Vorfeld betrieben wird, einen gewissen Vorlauf und somit eine zwingende Reservierung vorab. Angelockt werden die Gäste aber nicht nur die ansprechende Küche des René Stein, sondern auch durch das Konzept, das in Deutschland bislang nur wenige Nachahmer gefunden hat: alle Gäste sitzen an einem Tresen aus Naturstein auf weichen Stühlen in der Höhe von Barhockern rund um die offen einsehbare Küche und geraten oft schnell in einen regen Austausch miteinander.
Seit meinem letzten Besuch ist das Lokal wie erwartet mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet worden, doch selbst den leisesten Anflug von Steifheit sucht man hier nach wie vor vergebens. Sofern keine Einwände bestehen, gehört es hier zur betont lässigen Art, dass sich die Mitarbeiter und Gäste hier duzen. Das Publikum ist hier bunter zusammengesetzt als anderswo, doch eines ist natürlich gleich geblieben: das Menü schlägt mit € 175 zu Buche und ist wie immer fix vorgegeben, wobei auf im Vorfeld kommunizierte Unverträglichkeiten natürlich Rücksicht genommen wird. Die Menükarte liegt dem Gast übrigens als Polaroid-Foto vor und ist an die optionale Getränkebegleitung mit einer Klammer geheftet. Auch sonst hat sich erfreulich wenig geändert, so dass die Details aus meiner ersten Rezension (siehe unten) nach wie vor zutreffen und hier nicht abermals komplett heruntergebetet werden müssen. Eines hat sich dann übrigens doch geändert gegenüber dem Premierenbesuch: die Sommelière ist neu, eine gebürtige Südtirolerin und heißt Martina Prenn. Sie stellt, wie ich schon bald bemerke, einen vollwertigen Ersatz für die inzwischen abgewanderte Vorgängerin Sonja Mohr dar. Der gesamten Truppe macht die Arbeit jedenfalls genauso viel Spaß wie zuvor – und das animierende Green Egg in der Mitte des Raumes ist natürlich eine optische Augenweide, die im Laufe des Abends mehrfach zum Einsatz kommt.
Mit dem nahezu zeitgleichen Eintreffen der Gäste präsentiert man schon mal die hausgemachte Brotauswahl mit bretonischer Butter des Großmeisters Jean-Yves Bordier. Als Apéritif wähle ich dazu das Getränk, das eigentlich als Begleitung für den ersten Gang vorgesehen ist: einen Hibiskus Tonic in XL-Größe, der mit seiner erfrischend-herben Art spritzige Akzente setzt.
Das erste Häppchen, das die Menüfolge einläutet, ist ein geröstetes Brioche, das mit gezupftem Taschenkrebs und einer in geschmacklicher Hinsicht eher norddeutsch anmutenden Mayonnaise sowie Kaviar und Lauch getoppt ist. Man hätte diese leichte und bekömmliche Meeresbrise, die hier unvermutet durch Nürnberg weht, in dieser Form schwerlich erwartet, aber eine ansprechende Petitesse stellt dieser erste Einfall allemal dar.
Dennoch zieht das Niveau mit dem nächsten Apéro gleich um ein gutes Stück an: es scheint eine Stärke von René Stein zu sein, in fast jeder Menüfolge ein Gericht zu inkludieren, das unter einem Espuma gebettet ist und quasi nichts im Vorfeld preisgibt. So auch hier: das schlicht als Auster annoncierte Gericht besteht aus gedämpfter sowie in Zitrone marinierter Auster, einer Austernvelouté und einem betont jodigen Schaum desselben Produkts. Für die geschmackliche Abrundung des andernfalls zu eindimensionalen Gerichts sorgen des weiteren Mini-Croûtons, knackig gegrillter Lauch und etwas Lauchöl. In jeder Hinsicht eine runde Sache, nicht nur wegen des Schälchens!
Der nächste Gang, der kryptisch als „Herbst“ deklariert ist, sollte sich als der komplexeste Teller des Abends erweisen, was bei der bloßen Ansicht des „Rohmaterials“ auf dem Tresen durchaus noch nicht zu erahnen war. In der Praxis wird daraus jedoch ein recht kleinteiliges Arrangement, das in seiner Gesamtheit allerdings erstaunlich stimmig wirkt. Das Sorbet von roter Bete im Mittelpunkt des Geschehens wird umspielt von allerlei Kohlsorten in verschiedensten Zubereitungen, darunter fermentierter Schwarzkohl, sautierter Wirsing und eingelegter Radicchio. Zusammengehalten werden die Komponenten nicht nur mit Hefeöl, sondern auch mit einem Sud aus erwartungsgemäß straff-säuerlichen Holunder-Quitten-Essig. Ihren unnachahmlichen Reiz bezieht diese Kreation aus der trotz aller Komplexität organisch anmutenden Zusammenstellung einfachster Produkte, die dank natürlicher Techniken erstaunlich unverfälscht wirken und ihr großes geschmackliches Potential auch ohne offenkundige Verfremdung preisgeben. Durch die verschiedenen Intensitäten und den unterschiedlichen Biss beugt man der potentiellen Gefahr eines Abdriftens in kulinarische Langeweile effektiv vor – man könnte meinen, dass das keinen Kilometer entfernte Essigbrätlein als Inspirationsquelle gedient haben mag!
Der in puncto Nomenklatur „Kohl“ getaufte nächste Gang bildet im Grunde ein Tandem mit dem Gang zuvor, weil er angesichts des Einsatzes weitgehend ähnlicher oder identischer Produkte thematisch ausgesprochen eng damit verwoben ist. Den gegrillten Wirsing und den fermentierten Chinakohl kombiniert die Küche mit einer buttrigen Dillemulsion, die nicht nur leicht süßlich, sondern dabei auch erstaunlich körperbetont gerät. Tatsächlich besteht der größte Unterschied zum Vorgänger jedoch darin, dass durch die Beigabe von etwas krossem Rinderspeck kein rein vegetarisches Gericht vor dem Gast steht und es etwas weniger elegant anmutet. Gelungen ist das fraglos dennoch, wenngleich eine Einordnung mangels Vergleichen gar nicht so leicht fällt.
Echt minimalistisch wird es dagegen zu Abwechslung bei der handgetauchten norwegischen Jakobsmuschel, die ganz klassisch gebraten wurde. Im Grunde wird sie aber von der Begleitung dominiert, denn die mit brauner Butter bestrichenen und gedämpften Spinatblätter sowie die Spinatsauce darunter machen geschmacklich derart auf sich aufmerksam, dass die Muschel kaum dagegen ankommt und ich dem Gang in puncto Balance eine gewisse Unwucht attestieren muss. Die Qualitäten der Coquille sind fraglos vorhanden, werden aber auf eher unvorteilhafte Weise relativiert, so dass mir die kurz zuvor verkostete Muschel in einer ähnlich minimalistischen Variante aus dem Sparkling Bistro nicht zuletzt dank einer eleganteren und dezenteren Entourage doch erheblich besser zusagte.
Anschließend steht Blumenkohl im Mittelpunkt des Geschehens, der in nicht weniger als vier offensichtlichen (und vielleicht noch in einigen weiteren, weniger offenkundigen) Auslegungen auf den Teller gelangt: sowohl in getrockneter, blachierter und frittierter Zubereitung als auch in Form eines gerösteten Purées drängt sich der Hauptdarsteller auf markige, aber kreativ-vielseitige Weise in den Vordergrund. Gut versteckt hinter den getrockneten Blättern findet man noch eine winzige Salatgarnitur, doch dank ein paar Spritzern Zitrone gelingt es zumindest, eine schlüssige Verbindung zwischen den recht grellen Kontrasten der alles bedeckenden, geschäumten Hummerbisque einerseits und dem Kohl andererseits zu schaffen. Obgleich optisch eher reduziert, hefte ich diesem Gang dennoch das Attribut des experimentellsten Beitrags an diesem Abend an, dessen abschließende Beurteilung mir schwer fällt: einerseits möchte man den Mut, das Potential von weitgehend vernachlässigten oder unterschätzten Produkten freizulegen, loben, aber andererseits finde ich die Kombination von recht bitteren Kohlsorten mit den Aromen von Krustentieren als wenig organisch, ja fast schon problematisch.
Gewohnte Gefilde steuert René Stein dagegen mit dem nächsten Teller an, denn seine fast schon ikonische Auslegung der Taube gab es bereits im letzten Jahr in fast unveränderter Form zu bestaunen. Schrieb ich letztes Jahr noch, dass dieser Gang „gewagt“ sei, so hätte ich inzwischen keine Bedenken, dieses Prädikat anderen Gerichten dieses Tages zu verleihen und diesem fast schon zum Klassiker avancierten Beitrag eine weitere Steigerung zu attestieren: die vorzügliche Konsistenz des zarten, tiefroten Fleischs verstärkt die mineralisch-herben Noten des Geflügels ganz erheblich und korrespondiert wunderbar mit der Liebstöckelsauce von enormem Nachhall, in der auch Tropfen von Beifuß-Öl zur Veredelung beitragen. Der Ersatz von fruchtig-herben Preiselbeeren wirft meines Erachtens mehr Dividenden als die Variante des Vorjahres ab und setzt gekonnte säuerliche Akzente voller Facettenreichtum. Sehr gelungen und körperbetont!
Schon im letzten Jahr diente „Ananas“ als Gaumenputzer vor dem Hauptgang: geändert hat sich fast nichts an dem kühnen Beitrag, der aus einem Sorbet von gegrillter Ananas, kandierten Oliven und französischem Olivenöl besteht. Die fruchtigen Noten werden heuer allerdings von noch rauchigeren Noten im Abgang abgelöst als im Jahr zuvor – es schmeckt fast nach Whisky, so malzig-torfig ist das! Gefällig ist dieses Intermezzo zwar nicht, aber ein echtes Statement ist es allemal.
Im Vorjahr diente der Gang mit der Taube übrigens als Hauptgericht, während diesmal „Tisane“ diese Ehre zuteil wird. René Stein beizt sein „Sauerländer Wagyu“, das von einem Hof im sauerländischen Arnsberg stammt und kombiniert es mit confiertem Eigelb, fermentiertem Lauch und einer Rinderessenz (deren französischer Begriff „Tisane“ bei der Namensgebung des Restaurants Pate stand). Dabei erinnert dies durchaus an japanisches Ramen, denn in großer Klarheit und schnörkelloser Reinheit werden die eingesetzten Produkte so verarbeitet, dass sie eine faszinierende geschmackliche Tiefe erlangen, die sehr beachtlich ist und mich überzeugt.
Das Dessert rund um Apfel ist eher simpel gestrickt, lässt aber zumindest sicheres Handwerk erkennen, das einmal mehr auf den an diesem Abend häufig zelebrierten Purismus setzt. Das Apfelsorbet thront auf karamellisiertem Sauerrahm und wird von einem mit Whisky abgelöschten Apfelschnitz sowie einer Art dünnen Karamellsauce begleitet. Als echter Aufreger entpuppt sich dieser eher harmlose Beitrag schwerlich, weshalb hier vermutlich auch das größte Potential für Verbesserungen abzurufen wäre – es ist immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Vorjahr, wo nach dem Hauptgang gleich ein Reigen an Petits fours aufgetischt wurde.
Beagter Reigen wurde diesmal dafür reduziert auf eine vorzügliche Buchtel (die dem Sparkling Bistro durchaus Konkurrenz macht) mit kanadischem Ahornsirup und einer süchtig machenden Kokos-Vanille-Crème – alles in allem ein eher ungewöhnlicher Ausklang, aber zumindest qualitativ über jeden Zweifel erhaben und nochmals gut sättigend.
René Stein zeigt sich den ganzen Abend über immer wieder an jedem Platz und ist jederzeit für einen kurzen Smalltalk zu haben, sofern es sein Arbeitspensum zulässt. Hektik kommt trotz allem nie auf, weshalb es durchaus Sinn und auch Freude macht, dem Team mal über eine längere Zeit bei der Arbeit zuzuschauen. Viele der Zutaten sind längst vor dem Eintreffen der Gäste verarbeitet worden, weshalb sich der größte Teil der Arbeit abends dem Anrichten der Teller widmet – was ja auch insofern Sinn macht als diese optische Komponente den Gästen etwas bietet.
Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass eines der Talente des Chefs darin besteht, einfachste Viktualien wie Kohlsorten gekonnt mit Luxusprodukten zu kombinieren und dabei den profanen Komponenten den ihnen gebührenden Platz einzuräumen – manchmal sogar zu sehr wie beim Gang mit der Jakobsmuschel. Außerdem hat sich René Stein auf ein Spiel eingelassen, dessen Reiz darin besteht, die Erwartungshaltung des Gastes in die Irre zu führen (Blumenkohl mit geschäumter Krustentierbisque) oder den Gast praktisch bis unmittelbar vorm Verzehr (Auster) im Unklaren über die eingesetzten Produkte und Techniken zu lassen. Meist gelingt diese Ästhetik richtig überzeugend, weshalb ein Abend hier nicht nur wegen der ungezwungenen Atmosphäre, sondern auch wegen der zahlreichen Überraschungen wenig vorhersehbar bleibt.
Bei alledem fällt es dennoch schwer zu definieren, wie die kulinarische Handschrift des Chefs aussieht. Es gibt einige wiederkehrende stilistische Elemente, aber ein echter Fokus auf eine bestimmte Produktgruppe oder ein Faible für die Küche eines Landes oder einer bestimmten Region konnte ich noch nicht eindeutig ausmachen. Das heißt nicht, dass das Menü in irgendeiner Form missraten wäre, aber der Eindruck wenig zusammenhängender Gerichte führt dazu, dass einiges wie Stückwerk wirkt und eine klare Dramaturgie noch nicht sehr ausgeprägt ist. Anders sieht es aus, wenn man die Kreationen einzeln bewertet: ansprechende Einfälle gibt es hier zuhauf, die man von anderen Lokalen so nicht einmal in ähnlicher Form kennt. Wären nicht hie und da die kleineren Ausritte gewesen, so hätte ich insgesamt wohl nur die wenig zusammenhängende Menüfolge an sich moniert. Reichlich kompensiert wird dieses Menetekel jedoch durch die virtuose Verarbeitung gerade der simpelsten Produkte oder auch dem bemerkenswerten Gespür für kühne und doch meist stimmige Kombinationen.
Ich sehe in dem Tisane daher durchaus einen Geheimtipp für den zweiten Stern, auch wenn das Lokal an diesem Abend knapp an einer höheren Note als im Vorjahr vorbeischrammte. Ich bemühe folgendes Wortspiel: der erste Stern ist für René in Stein gemeißelt, und ein zweiter Stern würde wohl schwerlich zu einem Stein des Anstoßes werden. Auf Nachfrage nach meinen Eindrücken teile ich dem Chef mit, dass ich den zweiten Stern jedenfalls nicht ausschließen würde, auch wenn René Stein selbst bislang weniger daran zu glauben scheint. Doch selbst wenn es nicht klappen sollte, dann bleiben dem Chef, der Anfang Vierzig ist, notfalls noch ein paar Jahre, um den entscheidenden Schritt zum zweiten Macaron zu machen. Für Nürnberg wäre es nach dem Dauerbrenner Essigbrätlein und dem etz sicherlich eine tolle Geschichte, wenn mit dem Tisane noch ein dritter Zweisterner hinzu käme! Dann wäre sie nach Berlin, Hamburg und München erst die vierte Stadt in Deutschland, die das geschafft hätte! So oder so ändert es nichts daran, dass die Frankenmetropole sich inzwischen zu einem der attraktivsten Ziele für Gourmets in Deutschland gemausert hat – woran das Tisane mit wie vielen Sternen auch immer seinen verdienten Anteil hat.
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Tisane
Augustinerhof 1
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/376766276
www.restaurant-tisane.de
Guide Michelin 2023: *
Gault&Millau 2023: 3 Toques
GUSTO 2023: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2024: 3 F
10-gängiges Menü: € 175
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„Ich bin wie ein Koch. Wenn ein Film fertig ist, setze ich mich hin und schaue, ob die Sache den anderen schmeckt.“ (Roman Polanski)
März 2022
Als vor zwei Jahren die Schließung eines weiteren, angeblich ordentlichen Lokals namens Schwarzer Adler im Nürnberger Stadtteil Kraftshof bekanntgegeben wurde, maß ich diesem Umstand keine besondere Bedeutung bei, da ich es nie besucht hatte und mir der Name des Chefs auch nicht wirklich etwas sagte. Inzwischen weiß ich es besser, denn mit der Ankündigung, dass im Herzen der Nürnberger Altstadt demnächst schon wieder ein neues herausragendes Restaurant öffnen würde, war meine Neugier geweckt. Ich hatte schon vermutet, dass der Koch jenes Etablissements in Kraftshof dahinter stecken könnte – und lag richtig. René Stein würde fortan also versuchen, ein neues Lokal im Herzen der Frankenmetropole zu etablieren und hatte dafür eine Location im schicken Areal des Augustinerhofs auserkoren. Bereits bei meiner jüngsten Stippvisite im Essigbrätlein einige Wochen zuvor war ich schon mal an dem Lokal vorbeigeschlendert. Die vollverglaste Fensterfront gestattet jedoch tagsüber keinen Blick ins Innere, was mich noch zusätzlich reizte. Nur wenn drinnen abends die Lichter angehen, ändert sich dies – und das durchaus nicht zum Nachteil des Lokals, denn die Zahl an vorbei schlendernden Passanten, die ob der ungewohnten Optik des öfteren innehalten und durch die halbtransparente Scheibe lugen, summiert sich im Laufe des Abends durchaus zu einer stattlichen Zahl auf. Es ist also davon auszugehen, dass dem Lokal die Gäste in absehbarer Zeit nicht ausgehen dürften, zumal das ungewöhnliche Konzept auch von außen als solches klar und deutlich erkennbar ist.
Dies liegt beileibe nicht ausschließlich an der Optik selbst, obwohl schon die Anordnung der Sitzplätze entlang eines einzigen Tresens aus Naturstein in zwei rechten Winkeln bemerkenswert genug ist. Insgesamt bietet das Lokal nämlich nur etwa fünfzehn Gästen Platz, die auf drehbaren Barhockern Platz nehmen und aufgrund der Anordnung besagter Theke vollständigen Einblick in die offene Schauküche haben. Hier werkelt René Stein zusammen mit seinem Souschef und einer weiteren Hilfskraft, während sich Sommelière Sonja Mohr, eine echte Powerfrau, auf kompetente Weise um das leibliche Wohl der Gäste kümmert und mit mehr als ungewöhnlichen Empfehlungen beim Wein aufwarten kann. Mehr als vier Angestellte braucht diese schicke neue Location somit nicht, um über den gesamten Abend hinweg bestens zu funktionieren. In einem Etablissement, wo Gastraum und Küche zu einem homogenen Komplex verschmelzen, wird der Gast mit auf eine Reise genommen, an der er erheblich mehr Anteil als in gewöhnlichen Lokalen hat. René Stein lässt es sich nicht nehmen, die Ideen hinter den Gerichten und ihre Herstellung häufig selbst zu erläutern, was den Grad an Authentizität nochmals spürbar erhöht. Bei alldem bleibt der Chef trotzdem ein toller Typ, der zwar vor Energie sprüht, aber niemals belehrend wirkt. Im Gegenteil: die Gäste werden geduzt – und doch herrscht im Gegensatz zu so manchem Berliner Lokal ein umgänglicher Ton, der nie plump wirkt. Die teils recht fetzige Musik dürfte ebenfalls nicht unbedingt nach dem Geschmack jedes Gastes sein, aber sei’s drum. Notabene: spontane Besuche sind wegen der genauen Bemessung der Viktualien nicht möglich, sondern müssen online angemeldet und im Voraus bezahlt werden – ein Trend, der sich in Zukunft wohl angesichts von sogenannten „No-shows“ noch weiter verstärken dürfte. Es sei vorweggenommen, dass die zu berappenden € 150 für das Essen gut investiert sein sollten …
Trotz eines überaus urban anmutenden Ambientes setzt René Stein weitgehend auf eher rustikale Präsentation mit meist recht einfachen Produkten – dennoch entbehren seine Teller nicht selten eines gewissen Twists, mit dem Erwartungshaltungen gekonnt in die Irre geleitet werden. Immer dort, wo eine luxuriöse Aufwertung zumindest Sinn macht, darf man dennoch mit einer Zutat der hochpreisigeren Art rechnen – einen ersten Eindruck davon soll mein Bericht vermitteln. Angesichts des hohen Aufwands bei nur vier arbeitenden Personen muss das Menü zwangsläufig gut getaktet sein, so dass alle Gäste gebeten werden, innerhalb eines relativ engen Zeitfensters zu erscheinen. Nach dem Auftragen der Einstiege, welches noch vom Zeitpunkt des Erscheinens der Gäste beeinflusst ist, wird danach praktisch allen Besuchern simultan der jeweils nächste Gang serviert – anders wäre dies auch gar nicht zu bewältigen.
Los geht es zu einem Glas Bio Weiss von Jörg Geiger mit einer Kombination von Brokkoli mit Hüttenkäse, die auf gesunde Weise cremige und bittere Aromen miteinander verbindet. Deutlich straffer und trotzdem sehr bekömmlich gerät dagegen die kurz gegrillte und confierte Kartoffel auf einer intensiven Schalottentapinade, doch auch die hauchzarte und kross gebackene Schweinehaut in dem Ast, die lediglich etwas Salz und tasmanischen Pfeffer abbekam, erweist sich als leichter, wenngleich noch nicht so komplexer Einstieg – die Spannungskurve soll wohl eher langsam gesteigert werden.
Das hausgemachte Sauerteigbrot mit Salzbutter aus Saint-Malo wird sich den ganzen Abend lang als angemessener Begleiter erweisen …,
… doch der erste Gang, mit „Was für die Seele“ praktisch nichtssagend betitelt, sollte meine Aufmerksamkeit schon bald wieder auf andere Dinge lenken: in diesem Fall haben wir es mit einem aromatischen dichten Hühnerfond mit Fenchelblüten, gerösteter Zwiebel und fermentiertem Spitzkohl zu tun. In diesem durchaus auf asiatische Aromen setzenden und erdigen Fond setzt gerade der Fenchel mit betont süßlichen Aromen ein erstes Ausrufezeichen. Eins ist klar: dieser schöne und spätwinterliche Auftakt macht unbedingt Lust auf mehr!
Schnell ist auch das Eis zwischen den Gästen gebrochen, denn angesichts des in Deutschland immer noch seltenen Konzepts der offenen Schauküche mit allen Gästen an einem Tisch schweift der Blick natürlich immer wieder nicht nur nach vorne, sondern auch nach links und rechts. Es dauert nicht lange, bis ich mit der Gruppe links von mir ins Gespräch komme. Drei mondän gekleidete Schwestern und zwei weitere Freundinnen haben sich hier quasi zum „Mädelsabend“ auf Sterneniveau verabredet und sollten ihre Entscheidung keinesfalls bereuen. Da die Damen im Laufe des Abends fleißig ihre Plätze tauschen und dieser Umstand hier überhaupt kein Problem darstellt, kann ich mich nebenher praktisch mit allen von ihnen einmal unterhalten. Ich erfahre dabei, dass sie (noch) nicht so häufig in diesem Segment essen gehen und von mir unbedingt wissen wollen, welche Adressen (bevorzugt im Raum Nürnberg, aber auch in ganz Deutschland) ich sonst so empfehlen könnte. Zwangslose Gespräche dieser Art sind es, die einen unverzichtbaren Teil des Reizes von diesem Lokal ausmachen und die meist von ganz alleine geschehen. Steifheit und Spießigkeit haben im Tisane jedenfalls nichts verloren – quasi casual fine dining mit anderen Gästen zusammen. Ungesellige Gäste werden hier jedenfalls einen schweren Stand haben!
Ach ja: die Speisekarte (wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen möchte) gerät noch knapper als im unweit entfernten Essigbrätlein und besteht im Grunde genommen aus einem Design, das an Polaroid-Fotos vergangener Tage erinnert. Jeder Gang wird hier praktisch nur mit einem einzigen Wort beschrieben, das zudem meist eine Zutat von untergeordneter Bedeutung aufgreift – insofern könnte man mit Fug und Recht von einem echten Überraschungsmenü sprechen, denn gegessen wird, was auf den Tisch kommt!
Das kann sich jedoch glücklickerweise mehr als sehen lassen: beispielsweise wäre da der Gang „Holunder“, in dessen Zentrum eine stattliche Jakobsmuschel thront. Das gebratene und mit Rauke getoppte Exemplar ruht auf einem Holunderblütenauszug mit Sirup, der mit etwas gerösteter Hefe gedopt wurde. Ein kleiner Crunch von Knoblauch unter der Muschel erweitert das Aromenspektrum noch zusätzlich, so dass sich dem Gast eine ungewohnt komplexe und andersartige Geschmackswelt auftut. Gerade in puncto Vielfalt beim Biss überzeugt der Gang, aber dennoch würde ich ihn zu den bislang eher weniger ausgereiften Einfällen des Abends zählen wollen, bei dem es noch brachliegendes Potential abzurufen gilt.
Die Küche steigert sich jedoch weiterhin bei gegrillter „Schwarzwurzel“ mit frittiertem Bärlauch. Eine höchst ungewohnte und mutige Begleitung, bestehend aus Ahornsirup, Yuzu und Senf sorgt für ungewöhnliche Geschmackserlebnisse, die durch etwas Crème fraîche vor zuviel Intensität bewahrt werden. Dieser enorm subtile Gang kombiniert Schärfe und leichte Süße auf gekonnte Weise, zumal auch überraschende Temperaturunterschiede für keinerlei Vorhersehbarkeit sorgen: das mürbe Schwarzwurzelgemüse beansprucht durch seine auffallend kalte Temperatur die Hauptrolle in diesem Gericht, und doch hat jede Komponente in diesem scheinbar harmlos anmutenden Gang ihre Daseinsberechtigung. Das Kalkül hinter diesem hochgradig individuellen Teller ist voll aufgegangen: viel gewagt und alles gewonnen – kann man da nur sagen!
Dass René Stein insbesondere die Kunst, aus wenig viel zu zaubern, beherrscht, beweist er mit „Sellerie“: das Sorbet (!) von Sellerie bekommt eine Prise Salzzitronenpuder ab, während weitere Segmente des Hauptdarstellers und Selleriesaat mit etwas Radicchio begleitet werden. Die Abrundung des Gangs mit etwas Brotöl erhöht dessen Bekömmlichkeit ganz erheblich, denn gerade der eingelegte Sellerie bedarf aufgrund seines herb-säuerlichen Charakters einer spürbaren und präzisen Verfeinerung. Dies gelingt jedoch ausgezeichnet, zumal die Vielfalt bei den Texturen und die reizende Säure den Verzehr trotz eines recht intellektuellen Ansatzes dahinter durchaus zu einem Genuss ersten Ranges machen. Stark!
Ganz schlicht in puncto Optik gerät dagegen „Topinambur“, wohl das derzeitige Modeprodukt schlechthin. Hier umspielen Velouté und Crème sautierte Steinpilze und gehobelte Egerline, die unter dem sämigen Schaum versteckt sind. Gerade wegen seiner Schlichtheit ist dieser an der Perfektion kratzende Gang in seiner Erdigkeit regelrecht betörend und ergreifend. Wundervoll!
Zum Höhepunkt des Abends gerät „Bäckchen“, das in seltener Gedrängtheit Umami-Wucht auf engstem Raum verdichtet. Die nicht ganz so mürb wie erwartet, sondern noch leicht festen und geschmorten Rinderbäckchen werden mit Anchovis, Zwiebeln und Kapernsauce ungeheuer kraftvoll begleitet, zumal auch das Fundament aus Tisane de Boeuf (besser bekannt unter dem englischen Namen Beef Tea) nicht nur auf herzhafte Weise begleitet, sondern auch die Röstaromen fast schon grell in Szene setzt. Dieser kompakte und enorm ausdrucksstarke Gang setzt ein denkwürdiges Statement, das man so schnell bestimmt nicht vergisst! Absolut großartig und – Hinweis an die Küche – mit dem Potential zum Signature Dish, zumal der französische Begriff Tisane für den Beef Tea auch noch dem Lokal den Namen verlieh!
Sinn für Humor beweist die Küche ebenfalls, denn „Kaffee“ ist offenbar die naheliegendste Bezeichnung für den folgenden Gang! Der gegarte und kurz flambierte Stör badet in einer Kaffee-Beurre-Blanc und bekommt noch etwas Blattspinat zur Seite gestellt. Die Beurre Blanc selbst ist in ihrer ungeahnten Fruchtigkeit untadelig, aber in diesem Wettstreit zweier sehr dominanter Begleiter hat mich dann doch die Tatsache „ge-stör-t“, dass der Fisch in aromatischer Hinsicht viel zu schwach auf der Brust daherkommt, um dem etwas entgegensetzen zu können. In der Balance konnte mich dieser Gang somit am wenigsten im Laufe des Abends überzeugen, doch den Kredit vom Gang zuvor hatte die Küche natürlich noch längst nicht verspielt!
„Ananas“ ist dann als Gaumenreiniger zu verstehen, der auf ungewohnte, aber höchst launige Weise kandierte Oliven mit Ananassorbet und Olivenöl (der Kniff mit dem Öl funktioniert erneut!) zu einem runden und ausgewogenen, aber dennoch fordernden Intermezzo kombiniert. Während die meisten Einschübe vor dem Hauptgericht im Allgemeinen eher harmlose und gefällige Kreationen darstellen, so kann das von diesem Einfall wahrlich nicht behauptet werden!
Gewagt in seinem Purismus ist auch „Taube“, denn das zarte Impérial-Exemplar gelangt als geröstete Tranche und als confierte Keulen auf den Teller, wird ansonsten aber nur auf reduzierter Taubenjus mit Noten von Wermut und Petersilie gebettet. Mit dieser Konzeption traut sich die Küche wahrhaftig etwas, denn ohne die starken Kontraste zwischen den leicht bitteren Röstaromen und der deftigen Keule hätte hier schnell Langeweile Einzug halten können. So hingegen führte das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den Varianten ein und desselben Produkts zu einer reizenden Konstellation, die bis zum letzten Bissen spannend blieb, denn die grandiose Qualität der Taube selbst tat ihr Übriges und überzeugte auch den letzten Skeptiker!
Am Ende dieses teils rauschhaften Abends stand mit „Montreal“ eher eine Vielzahl kleiner Petitessen als ein einziges echtes Dessert an: zur klassischen Buchtel mit Ahornsirup (davor) gesellten sich etwas weniger klassische Einfälle wie etwa ein Orangentörtchen mit Sahne, eine Praline von weißer Schokocrème und Pfeffer auf einem Haselnuss-Knusperboden, eine hauchzarte Scheibe von dunkler Schokolade mit Meersalz (im Baumstamm), links ein Sorbet von Tonkabohne (glaube ich zumindest …) sowie zu guter Letzt eine gehaltvolle und regelrecht süchtig machende Kokos-Vanille-Crème (hinten rechts). Mag sein, dass einige Gäste diesen etwas alternativen Ausklang lieber zugunsten eines klassischen Desserts eingetauscht hätten, aber an der grundsätzlichen Qualität dieser Parade wäre ein solcher Wunsch jedenfalls nicht adäquat festzumachen.
Was nehme ich nun von diesem Abend mit? In der bisweilen recht konformen Landschaft der Haute Cuisine ist dies auf jeden Fall eine Adresse wie sie kaum individueller sein könnte – sowohl beim Raumkonzept als auch beim Küchenstil selbst. Geschult unter anderem bei Martin Göschel (damals im Tigerpalast in Frankfurt am Main, inzwischen im Sommet in Gstaad) und Juan Amador (inzwischen in Wiens einzigem, nach ihm benannten Dreisterner gelandet), blieb René Stein im Wesentlichen doch den klassischen Grundprinzipien verhaftet – nicht zuletzt deshalb, weil ein Kochbuch des legendären Drei-Sterne-Kochs Dieter Müller seinerzeit besonders großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben schien. Dennoch sprüht er vor eigenen Ideen und schafft es immer wieder, profane Produkte völlig neu zu kombinieren und ins beste Licht zu rücken. Mit Routine hat seine Küche praktisch nicht zu tun – und genau deshalb ist sie für ein junges, urbanes Publikum zumindest dann ausgesprochen verlockend, wenn es das Portemonnaie zulässt. Ein wirklich vorzeigbares und faires Preis-Leistungs-Verhältnis (zumindest beim Essen) trägt übrigens zur weiteren Attraktivität dieses ziemlich einzigartigen Abends bei: hier kommt man viel leichter ins Gespräch mit anderen Gästen als anderswo, philosophiert über Aromen und staunt ob der teils wirklich bemerkenswerten Darbietungen.
Ich habe keine Zweifel, dass René Stein in seiner Location erst am Anfang seiner Möglichkeiten steht und nach einiger Zeit, wenn gewisse Abläufe erst einmal eingespielt sind, sich weiter daran machen wird, seine Fähigkeiten abermals zu verbessern. Noch wirken nicht alle Gerichte gleichermaßen ausgereift und durchdacht, doch werden diese Prozesse offenbar stetem Wandel unterzogen und die Gerichte kritisch hinterfragt. Dass die Mehrzahl unter ihnen schon jetzt mehr als vorzeigbar ist, sollen die von mir vergebenen 17 Punkte deutlich machen – wobei der Trend bereits weiter nach oben zeigt und die nächsthöhere Note keineswegs außer Sichtweite ist. Aufgrund der noch nicht so lange erfolgten Eröffnung des Lokals sind die meisten Guides noch nicht auf den Zug aufgesprungen, weshalb meine Einschätzung einen wertvollen Fingerzeig liefern soll.
Selten habe ich einen launigeren Abend zu solchen Kosten mit echt pfiffiger Küche erleben dürfen: regelrecht beschwingt tragen mich meine Schritte durch die Nürnberger Altstadt! Ein Besuch hier sei daher dringend empfohlen – mir jedenfalls dürfte es überhaupt nicht schwerfallen, zum Wiederholungstäter zu werden!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Tisane
Augustinerhof 1
90403 Nürnberg
Tel.: 0911/376766276
www.restaurant-tisane.de
Guide Michelin 2022: –
Gault&Millau 2021: –
GUSTO 2022: 8,5 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: –
10-gängiges Menü: € 150