„Der Zauber steckt immer im Detail.“ (Theodor Fontane)
UPDATE (Februar 2023)
Einerseits könnte man geneigt sein, diese Rezension als Update zu bezeichnen, da das Lokal, über das zu berichten sein wird, noch immer dasselbe ist. Auch am bistro-ähnlichen Intérieur hat sich nur wenig geändert, und selbst Sommelier Julien Morlat, der diesem Hause schon viele Jahre lang die Treue hält, geht seinem Auftrag mit ungebrochenem Elan nach. Geändert hat sich „nur“ die Besetzung des wichtigsten Postens, nämlich des Chefkochs – doch in diesem Falle sorgte der Umbruch dafür, dass regelrechte kulinarische Schockwellen durch die bayrische Landeshauptstadt rauschten. Nach dem Abgang von Christoph Kunz im Frühjahr des vergangenen Jahres sickerte rasch durch, dass der ehemalige Chef schon bald ein (inzwischen eröffnetes) Pop-up in der Maxvorstadt im Norden von München eröffnen würde. Über die künftige Besetzung des vakanten Postens im Alois herrschte dagegen allgemeines Rätselraten, bis wenige Wochen vor der Neueröffnung (nach einem halben Jahr Vorbereitungszeit mit kompletter Schließung) im Oktober des letzten Jahres die Bombe platzte: die Geschäftsleitung präsentierte mit Max Natmessnig als Nachfolger einen der jungen Shootingstars der Szene, der zuvor schon gehörig auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Dieser war bereits mit seinem Rote Wand Chef’s Table in Lech am Arlberg erfolgreich gewesen, unter anderem weil er dort als einer der ersten Köche in Österreich das Prinzip der offenen und quadratischen Schauküche einführte, um welche die Gäste herum platziert werden. Mindestens genauso wichtig für die Entwicklung des Senkrechtstarters war jedoch die Arbeit als Souschef des genialen Mexikaners Cesar Ramirez im Chef’s Table at Brookyln Fare in Manhattan, das einigen Kennern als das weltbeste Restaurant gilt (und von mir leider noch immer nicht besucht worden ist …). Für den Mittdreißiger Nattmessnig war der Abschied aus Österreich insofern logisch, da der Guide Michelin seit 2010 außer in Wien, Salzburg und im Kleinwalsertal keine Sterne mehr vergibt und diese für die Reputation und den Bekanntheitsgrad nach wie vor sehr wichtig sind. So trauten dem illustren Chef fast alle Gäste zu, auf Anhieb zwei Sterne in München erlangen zu können – was zum Zeitpunkt meines Besuchs noch nicht feststand (und als Bewertungsgrundlage dient), aber seit Anfang April in Stein gemeißelt ist.
Jede Menge Vorschusslorbeeren einerseits, zumal ich diesen Chef und seine Fähigkeiten bisher noch nicht kennenlernen durfte, aber andererseits ist die Konkurrenzsituation in München natürlich eine komplett andere als in Vorarlberg: keine 100 Meter vom Alois entfernt kocht Tohru Nakamura auf, während auch das Atelier sowie das Les Deux beide in fußläufiger Entfernung angesiedelt sind. Weitere namhafte Konkurrenten wie JAN, Tantris und EssZimmer verdeutlichen nachdrücklich, wie eng das Rennen um die Spitzenposition in München derzeit ist. Eine eigene Handschrift und die entsprechenden Referenzen erweisen sich da durchaus als hilfreich, weil die bayrische Landeshauptstadt in den letzten zwei Jahren Berlin den Rang als derzeit angesagteste deutsche Gourmetstadt ganz klar abgelaufen hat. Traditionell hat die Bundeshauptstadt die moderneren Restaurants zu bieten, doch wurde gerade in München in den letzten Jahren vieles in der Gastroszene auf den Prüfstand gestellt: herausgekommen ist dabei gemäß meiner Wahrnehmung eine deutlich entstaubte und modernisierte Stilistik, die dank einer ganzen Menge jüngerer Köche überzeugend vorangetrieben wird.
So erweist es sich schon im Vorfeld als faszinierende Angelegenheit, nochmals Revue passieren zu lassen, wie binnen weniger Jahre die Stilistik im Dallmayr, dieser altehrwürdigen Institution, von Grund auf umgekrempelt wurde: fußte die Küche unter Diethard Urbansky noch auf solidem französischem Fundament, so entschlackte bereits Christoph Kunz die Teller deutlich und verzichtete vor allem auf gehaltvolle Saucen. Sein Nachfolger Max Natmessnig kocht jedoch nochmals ein gutes Stück moderner auf und ersinnt Kreationen, die im bundesweiten Vergleich immer wieder durchaus als state of the art gelten können.
Dass diese Aussage jedoch nicht auf die Küche reduziert werden kann, wird mir schon rasch auffallen. Nach meiner Ankunft im Obergeschoß des Feinkostladens geleitet man mich aufmerksam, aber eher unspektakulär an meinen kleinen, runden Tisch, wo ich – wie alle anderen Gäste auch – sogleich mit einem ersten Apéro begrüßt werde, und zwar aus der Hand des neuen Chefs persönlich. Eine dreifach angesetzte Wintergemüse-Consommé auf der Basis von fermentiertem und gegrilltem Lauch versprüht nicht nur wohltuende Wärme an diesem klaren, aber kalten Wintertag, sondern überzeugt mit ätherisch-erdigem Geschmack, bei dem trotz allem die Nuancen der verwendeten Gemüsesorten gut erkennbar bleiben. Optisch harmlos anmutend, legt man hier gleich mit einem Wolf im Schafspelz los: damit setzt die Küche schon zum Auftakt ein kraftvolles Statement ohne falsche Bescheidenheit, mit dem gezeigt wird, wo der Hammer hängt!
Zu einem alkoholfreien Traubensecco reicht man neben einem Erfrischungstuch noch die zu einem Umschlag gefaltete Menükarte, die allerdings rein dekorativen Charakter hat: mittags bietet man hier nämlich für € 160 eine verkürzte, aber selbstredend nicht schwächere Version des Abendmenüs (€ 250) an – was manchen Gästen nicht nur wegen geringerer Kosten attraktiv erscheinen dürfte. Abends ist nämlich selbst unter der Woche meist nur mit größerem Vorlauf ein Platz zu bekommen, während nachmittags die Chancen darauf signifikant steigen – jedenfalls bleiben an diesem Nachmittag einige Tische frei. An der Qualität kann es jedenfalls nicht liegen, denn mit den nächsten zwei Apéros bestätigt der neue Chef endgültig, warum ihm ein solcher Ruf vorauseilt: große Handwerkskunst gibt es sowohl bei der geräucherten Forelle mit Meerrettich und Wasabi auf einem Meringuetaler als auch bei Crème fraîche mit Forellenkaviar, Dill und einer Ummantelung von Nori-Alge zu bestaunen. Während der Beitrag linkerhand durch Kompaktheit und reizende Texturen besticht, setzt die rechte Petitesse mit einem unfassbar transparenten, säuerlich leichten Abgang Maßstäbe, die durch das sensorische Empfinden der auch im Foto gut erkennbaren Texturen beim Verzehr noch weiter angehoben werden. Meines Wissens konnte sich letztgenannter Happen zwischenzeitlich schon in den Rang eines Signature Dishs hocharbeiten – kein Wunder, denn ein derart umfassendes Geschmackserlebnis auf so engem Raum bekommt man nicht alle Tage vorgesetzt!
Um die klassische Nomenklatur mit Begriffen wie Apéro, Amuse, Plat principal oder Dessert schert man sich hier übrigens wenig: jeder Beitrag wird ungeachtet seiner Größe oder seines Umfangs als eigene Zeile auf der Menüfolge gelistet; offenbar soll dies den Verlaufscharakter der Menüfolge stärker betonen und keine unangebrachten Erwartungshaltungen bezüglich etwaiger Portionsgrößen wecken. Da es ohnehin keine Optionen zur Auswahl gibt, lege ich die Menükarte schon bald zur Seite und lasse die weiteren Teller einfach auf mich zukommen. Die Erläuterung der Gerichte obliegt hier nicht nur den Servicekräften, die von Bekah Roberts-Natmessnig und damit der Ehefrau des Chefs geleitet werden, sondern recht häufig dem Grand Chef selbst. Mehrfach bekomme ich die Kreationen vom Ausnahmekoch selbst erläutert, wobei dies an den übrigen Tischen fast in derselben Häufigkeit geschieht. Von der fast schon als unanfechtbar geltenden Auffassung früherer Tage, Küche und Service hätten strikt voneinander getrennt zu sein, will man hier jedenfalls nichts wissen. Das setzt zweierlei voraus: zum einen die genaue Taktung des Menüs, so dass möglichst viele Tische nahezu gleichzeitig denselben Gang vorgesetzt bekommen, und zum anderen die herausragenden Fähigkeiten des Souschefs, mit welchen die vergleichsweise häufige Abwesenheit des Chefs in der Küche kompensiert wird. Hektik oder qualitative Abstriche sind nicht auszumachen, so dass von minutiös einstudierten Abläufen in der Küche ausgegangen werden kann.
Geeiste Entenleber in einer cremigen und nur leichten kühlen Auslegung ummantelt die Küche mit Purple Curry, Mango und Passionsfrucht und verleiht dieser Miniatur damit indisches Kolorit. Dank der launigen Texturen und der unnachahmlichen Fähigkeit des Chefs, viel Geschmack auf sehr engen Raum zu drängen, überzeugt auch diese letzte Kleinigkeit voll und ganz.
Nach den durchaus imponierenden Apéros macht die Küche endgültig ernst: der gebeizte und anschließend auf Binchotan geflämmte Saibling profitiert ungemein von einer subtil mit unterschiedlichsten Kräutern gewürzten Schnittlauch-Kohlrabi-Vinaigrette, die einem allzu vorhersehbaren Charakter entschieden entgegentritt. Einerseits bekommt der Gang durch die Beigabe der Buttermilch rechts einen leichten und bekömmlichen Charakter, andererseits ist das das über den Teller verstreute schwarze Limettenpulver in seiner Wirkung keineswegs harmlos. Unterm Strich erreicht dieser Einstieg dank seiner Kompaktheit und geistigen Durchdringung locker Zwei-Sterne-Niveau – lediglich auf die Beigabe von Tagetes hätte ich eher verzichtet.
Dass das reichhaltige Angebot der Feinkostabteilung auch dem Sternerestaurant eine echte Trumpfkarte in die Hand gibt, weiß Max Natmessnig natürlich auszunutzen: so bewegt sich die lauwarme, in Beurre Blanc pochierte und kurz gegrillte Gillardeau-Auster am Rande der Perfektion. Die Beigabe von Salicorn-Algen, Aki-Kaviar und einer Champagner-Vinaigrette klingt zunächst vielleicht nicht so aufregend, aber spätestens beim Verzehr wird deutlich, mit welch exzeptionellem Beitrag man es hier zu tun hat: der trotz seiner Salinität fast schon cremige Kaviar bittet zu einem verblüffenden und einfach hinreißenden Dialog mit den Kräutern. Geschmackliche Tiefe und aromatische Dichte gehen hier einträchtig Hand in Hand und lassen den Gast rätseln, wie es möglich ist, mit so wenig Raum und Komponenten ein derart intensives Gericht zu zaubern – das ist eben die Kunst. Ach ja: der Chef bezeichnet die überaus generöse Portion an Kaviar bei der Ankündigung ganz bescheiden als „Nockerl“!
Das hausgemachte Sauerteigbrot von ausgezeichneter Qualität wird ganz klassisch mit Salzbutter begleitet, doch ganz so altmodisch bleibt es dann doch nicht. Das zugegebene Schnittlauch-Öl bedeutet letztlich nur einen kleinen Eingriff, aber einen mit großer Wirkung. Akute Suchtgefahr!
Die bislang komplexeste Komposition zaubert die Küche im nächsten Beitrag auf den Teller: so strotzt der leicht geflämmte und perfekt gegarte Seeteufel nur so vor Saft und überzeugt dank perfekter Konsistenz auch mit leichtem Biss. Das hätte man notfalls auch ohne weitere Begleitung genießen können, doch die mediterrane Entourage wertet den Gang noch spürbar auf. Das sorgsam abgeschmeckte Fenchelkompott wird souverän daran gehindert, die fragile aromatische Balance zu ruinieren und schön von der Escabeche-Sauce abgefedert. Jodige Akzente setzt Abalone, während Lardo etwas Deftigkeit beisteuert; für den letzten Feinschliff des durchaus kraftvoll inszenierten Gangs sorgen Dillblüten. Dank klar herausgearbeiteter Aromen bleibt der hervorragende Hauptdarsteller im Mittelpunkt des Geschehens und läuft nie Gefahr, von zuviel Komplexität in den Hintergrund gedrängt zu werden. Alles in allem absolut vorzüglich!
Etwas überrascht nehme ich zur Kenntnis, dass der recht hohe Aufwand die Küche nicht daran hindert, ein ganz ordentliches Tempo anzuschlagen. Offenbar soll sich der Nachmittag nicht spannungslos hinziehen – eine Kunst, die längst nicht jeder beherrscht. Als weniger positiv (wofür das Lokal natürlich nichts kann) registriere ich auch außerdem, dass der vor Jahren noch unverstellte Blick auf die ikonischen Türme der Frauenkirche durch immer mehr Bauten dazwischen versperrt wird.
Meine Blicke wandern daher wieder auf die nächste Darbietung vor mir – eine Erfrischung, die genauso in der Menüfolge annonciert wird. Sie besteht aus einem recht auffälligen Kräutersorbet mit Zitronengrasschaum und Korianderöl, welches Cremigkeit einerseits und leichte Säure andererseits geschickt miteinander koppelt. Die souveräne Gelassenheit, die hier schon an den Tag gelegt wird und auch aus solch vergleichsweise harmlosen Einschüben etwas Besonderes entstehen lässt, bringt mich jedenfalls zum Schluss, dass der neue Chef längst angekommen ist und sich binnen kürzester Zeit schon eingelebt hat.
Zur qualitativen Einordnung der alkoholfreien Getränke zu den Gängen (auf die ich zu Beginn verzichtet habe) bitte ich um eine Begleitung zum Hauptgericht und bekomme einen Rote-Bete-Saft mit Tropfen von frisch gepresster Orange und einer Essenz von Bittersalaten (€ 16) ins Glas geschenkt. Zu diesem durchschnittlichen, aber erkennbar mit dem Gericht korrespondierenden Getränk serviert man Ente an einer mit Entenleber gebundenen Jus. Neben der Orangen-Sabayon zur linken Seite reibt der Service auch noch einige Zesten der Frucht auf den Teller; hinzu gesellen sich außerdem Puntarelle (Winterspargel), Bittersalate und Haxenragout. Dank eher zurückhaltender Begleiter bleibt der Hauptdarsteller im Zentrum des Geschehens, doch auch die zahlreichen Texturen ändern letztlich nichts an meinem Urteil, dass der durchschnittlichste Beitrag bisher das Hauptgericht war, dem es für meine Begriffe noch an einer zündenden Idee fehlte. Produktqualität und Handwerk stimmten natürlich, aber dasselbe Maß an Begeisterung wie bisher entlockte mir das nicht.
Wie zuletzt schon häufiger beobachtet scheint Sauerteig in Desserts derzeit hoch im Kurs zu stehen. Auch der österreichische Shootingstar setzt auf Chips aus diesem Produkt und versteckt karamellisierte Ananas dazwischen. Der Ananassud ist zudem mit etwas Petersilienöl durchsetzt und wirkt so weniger süßlich, was durch die Zugabe des Eises von Salzzitrone erst recht behauptet werden kann. Die kaleidoskopartige Spanne zwischen säuerlichen und süßlichen Spitzen verleiht dem Gang sein Gepräge, doch bleibt dieser jederzeit leicht fassbar und überfordert keinen Gast. Die Chips als bissfestere Komponente in einem ansonsten durchweg weichen Dessert haben zudem ihre Daseinsberechtigung unter Beweis gestellt – somit ein ordentlicher Ausklang, aber kein Knaller.
Diesen Anspruch holt die Küche jedoch nach mit Fujisan-Bread und Kokos-Eis. Auch wenn das karamellisierte und leichte gezuckerte Brot wie eine Kreuzung aus einem Brioche und einem Croissant anmutet, so ließe sich kaum ein passenderer und noch wohlschmeckenderer Begleiter zum Eis vorstellen. Das flexible Wandeln zwischen Schlichtheit und Komplexität ist auch ein Markenzeichen dieser Küche und gerät nie zum reinen Selbstzweck. Gerade ein so schlichter, hochqualitativer Ausklang wie dieser passt da besonders gut und rundet einen sehr starken Nachmittag angemessen ab.
Im Vorfeld der Neueröffnung gab es einen Hype wie bislang nur selten zuvor in München – den durchaus nicht geringen Erwartungen der Fachpresse und Gäste ist Max Natmessnig meiner Auffassung nach bisher voll und ganz gerecht geworden. Auf Dauer wird der Ausnahmekoch sicherlich noch weiter nach oben streben und sich schwerlich mit dem bisher Erreichten zufriedengeben. Dennoch gibt es jetzt schon allen Grund, das bisherige Niveau über Gebühr zu loben: mit einem klaren Gespür für teils kühne, aber selbst dann stimmige Kombinationen betritt die Küche immer wieder wenig ausgetretene Nebenpfade – stets auf der Suche nach neuen Geschmacksbildern, die einerseits verblüffen, aber andererseits trotz allem die Tradition nicht komplett verachten und nur mit unangemessener Radikalität auf sich aufmerksam machen wollen. Es wäre ja auch ein wenig dämlich, einen Küchenstil zu praktizieren, der den Fokus nicht auf Produkte legt, wenn man schon solche Viktualien ein Stockwerk unter sich weiß. Außerdem müsste ein ehemaliger Schüler von Cesar Ramirez, der als der wohl fanatischste Koch des gesamten Planeten in Bezug auf Produktqualität zu gelten hat, ziemlich dämlich sein, wenn er die Ratschläge seines solch hochdekorierten Lehrmeisters in den Wind schlagen würde.
Das neue Servicekonzept mit spürbarer (und sicherlich von vornherein so gewollter) Integration des Chefs in die Servicetruppe kam bei mir gut an und sollte im Sinne des casual fine dining bei der Mehrzahl der übrigen Gäste ebenfalls Anklang finden. Jedenfalls führt die etwas eigenwillige Verteilung der Aufgaben zu keinerlei Einschränkungen oder Einbußen im Service, die negativ aufgefallen wären. Im Gegenteil: am Ende nimmt sich der Chef für mich nochmals etwas mehr Zeit und lässt sich bereitwillig auf einen längeren Plausch mit mir ein. Ich versichere ihm bei der Gelegenheit, dass er von mir die zwei Sterne nach dieser Menüfolge sicher hätte – seit Anfang April wissen wir ja nun, dass die Inspektoren des Michelin die Sache gleich eingeschätzt haben.
Die Menüfolge ist angesichts des hohen Aufwands und der verwendeten Produkte mehr als fair bepreist, was allerdings durch recht hohe Gewinnmargen bei den Nebenkosten wieder aufgefangen werden muss. Die Mehrzahl der Gäste hier nagt schwerlich am Hungertuch, doch unbedachter Trinkgenuss bei der Weinbegleitung (4 Gläser zu € 96) kann rasch ins Geld gehen und sollte bei schlankem Geldbeutel lieber zweimal vor dem Konsum erwogen werden.
Der Zuzug des österreichischen Senkrechtstarters Max Natmessnig ist definitiv ein echter Gewinn für die „Weltstadt mit Herz“. Dem Gast steht in München neuerdings eine bisher ungekannte Vielzahl an unterschiedlichsten Optionen offen, wenn es mal wieder Hochküche sein darf. Wer ins Alois einkehrt, darf sich auf eine absolut zeitgemäße Küche freuen, die teils auf ungewohnte Zusammenstellungen bei den Aromen setzt und die Teller meist mit kaum mehr als drei, vier Komponenten ersinnt. Subtile Balance, reizende Aromenspiele mit durchaus spürbaren Kontrasten und ein sicherer Umgang mit Luxusprodukten sind für mich die offenkundigsten Vorzüge dieser Adresse, die den Konkurrenzkampf längst angenommen hat und einen bleibenden Eindruck hinterlassen will. Dank der knallgelben Fassade des Gebäudes und der Lage direkt neben dem Marienplatz würde das Dallmayr auch ohne sein kulinarisches Flaggschiff gehörig auf sich aufmerksam machen, doch mit dem Alois ist man praktisch perfekt aufgestellt – ein Erlebnis von internationalem Flair, das man sich nicht entgehen lassen sollte!
Mein Gesamturteil: 18 von 20 Punkten
Alois
Dienerstraße 14
80331 München
Tel.: 089/2135100
www.dallmayr.de/alois
Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2022: —
GUSTO 2023: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2023: 4,5 F
11-gängiges Mittagsmenü: € 160
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„Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut.“ (Arthur Schnitzler)
UPDATE (April 2022)
Nach all den Turbulenzen, welche die Corona-Pandemie für München mit sich brachte, freute man sich schon über jede gehobene Gourmet-Institution, die keine Personalrochaden hinlegte. Die bayerische Landeshauptstadt hatte es diesbezüglich so stark wie keine andere Metropole der Republik getroffen (ich berichtete seinerzeit ausführlich in dem Essay „Kulinarisches Erdbeben in Süddeutschland“). Kaum hatten die besten Adressen der Stadt – darunter Tantris, Geisels Werneckhof, Atelier und Les Deux – die mit den Lockdowns einhergehenden Schwierigkeiten durch Wechsel an der Spitze und sonstige forsche Maßnahmen mit Ach und Krach gemeistert, da platzte schon wieder die nächste Bombe! Gerade hatte man sich noch darüber gefreut, dass sich wenigstens das EssZimmer in der BMW-Welt und das Alois im weltbekannten Feinkostgeschäft Dallmayr mehr oder weniger unbeschadet durch die schwierige Zeit gemogelt hatten, und schon kündigte Chefkoch Christoph Kunz im Frühjahr seinen überraschenden Abgang vom Alois an, welches er nach dem Ruhestand seines Vorgängers Diethard Urbansky (unter dem er Souschef gewesen war) im Jahre 2018 als Chefkoch übernommen hatte. Dass man seitens der Geschäftsleitung diesen Schritt sehr bedaure, ließ man über die Medien übrigens an mehr als nur einer Stelle verlautbaren. Somit droht München ein weiterer herber Verlust, da mein letzter Besuch von vor drei Jahren mich durchaus davon überzeugt hatte, welches Potential in dem noch recht jungen Koch steckt.
Das konnte für mich nur bedeuten, dem Lokal rasch ein weiteres Mal die Ehre zu erweisen, bevor es für gut sechs Monate schließen würde und mit einem neuen Chefkoch im Herbst wieder öffnen wollte (falls es die Pandemie zulässt). Wer dies sein wird, ist bisher genauso wenig kommuniziert worden wie die Frage, welche eigenen Pläne den bisherigen Chef nach einer längeren Pause umtreiben. Verharren wir daher lieber in der Gegenwart und versuchen am Ende des Abends dann ein Résumé über den aktuellen Stand der Dinge zu ziehen.
Eine gewisse Überraschung stellte bei der Beförderung zum Chefkoch vor vier Jahren die Tatsache dar, dass das altehrwürdige und traditionsverbundene Haus in Sichtweite des Marienplatzes das Interieur deutlich moderner gestaltete und beispielsweise die Tapeten aus Hirschleder mit Abbildungen von Kranichen zeitgemäß aufhübschte. Viel wichtiger als rein optische Effekte erschien jedoch die Tatsache, dass auch der gediegen-klassische Stil des Diethard Urbansky nun einem deutlich peppigeren, modernen Bistro-Stil weichen musste. Zur nicht geringen Überraschung vieler Fachleute konnte Christoph Kunz gleich im ersten Jahr seiner neuen Mission die beiden Michelin-Sterne seines Vorgängers halten und so gewährleisten, dass dem Lokal weiterhin reichlich Gäste beschieden sein würden. Diese freuten sich natürlich auch darüber, dass Sommelier Julien Morlat – bereits eine Institution – damals im Gegensatz zu Restaurantleiterin Barbara Englbrecht (die sich dem Atelier unter Jan Hartwig anschloss) dem Haus konsequent die Treue hielt und auch in Zukunft weiterhin für die Bouteillen mit großen Gewächsen verantwortlich zeichnen wird.
Auch der deutlich entschlackte Küchenstil kam zur nicht geringen Verwunderung einiger Insider besser als gedacht an: selbst in eher konservativen Häusern wie dem Dallmayr schienen die Gäste wenig Vorbehalte gegen eine leichte und bekömmliche Kost auf Sterneniveau zu haben. So erfreute sich das Lokal weiterhin eines guten Rufs, was zu einem nicht unerheblichen Anteil dem Engagement und dem Mut des neuen Chefs zu verdanken war.
So führen mich meine Schritte wieder einmal die recht gut versteckte Treppe ins Obergeschoss empor, wo mich das Empfangskomitee schon erwartet. Die fast gar als Brasserie-Stil zu bezeichnende Küchenphilosophie findet ihre Entsprechung auch in den relativ kleinen runden Tischen, die zudem fast blank sind und natürlich ohne Leinentuch auskommen. Mein Platz mit Blick zu den Türmen der Frauenkirche (inzwischen durch reichlich Bauten ordentlich verstellt) ist relativ knapp bemessen, doch auch den anderen Gästen scheint dieser Umstand nicht viel auszumachen. Schnell wird der Tisch jedoch mit ersten Aufmerksamkeiten eingedeckt: unter zwei Blättern aus geröstetem Pumpernickel befindet sich etwas Topinamburcrème mit eingedicktem, fermentiertem Himbeersaft obenauf. Kurz darauf gesellt sich ein zweites Apéro hinzu, das ziemlich kühn gerät: Austern-Gelée paart man hier schon mal mit Blaubeere und Buttermilch, aber das aromatische Zusammenspiel der disparitätischen Komponenten entbehrt einer gewissen Sinnhaftigkeit und überzeugt mich daher nur bedingt; flüssig begleitet wird das Ganze mit TeaSecco von Jörg Geiger. Neuartig ja – aber zu welchem Preis?
Besser gelingt der Griff zur Avantgarde beim Amuse bouche: Granola mit Popcorn und Kaviar zu kombinieren würde auch nicht vielen Köchen einfallen! Die Variabilität bei den Konsistenzen macht daraus ein durchaus ungewöhnliches Esserlebnis, doch auch hier wird sich letztlich der optische Eindruck etwas stärker einprägen als der geschmackliche. Die recht grelle Zusammenstellung wirkt auf mich eher gewollt kreativ und bleibt letztlich zu diffus, um voll einzuschlagen – ungewöhnlich ist das aber allemal.
Die Bereitstellung von Lektüre sowie das warme Erfrischungstuch vor dem Menü werden gerne zur Kenntnis genommen. Trotz des corona-bedingten Ausfalls einiger Kräfte sowohl im Service als auch in der Küche scheinen die Abläufe weiterhin wie geschmiert zu laufen. Allerdings bleibt dieser Umstand insofern nicht folgenlos, da es anstatt acht nur maximal sechs Gänge zu € 185 (keine Auswahl) sein werden an diesem Abend. Schon jetzt fällt mir auf, dass hier inzwischen offenbar ein Unterhaltungswert Einzug gehalten zu haben scheint, der unter Diethard Urbansky noch undenkbar gewesen wäre. Der Zustrom an Gästen unter der Woche ist trotz der durchaus nicht so geringen Größe des Lokals einigermaßen bemerkenswert, zumal auch etliche jüngere Gäste die Atmosphäre des Lokals an diesem Abend aufwerten. Jetzt muss nur noch das Essen nach dem recht verhaltenen Start nachziehen …
Dies lässt allerdings noch auf sich warten, denn Jakobsmuschel paart die Küche hemmungslos mit Seeigel-Mayonnaise und fermentierter Erdbeercrème. Leider schmeckt das für meine Begriffe in etwa so stimmig wie es klingt: als würde das Hauptprodukt mit dem eingelegten Fenchel und der Erdbeere nicht schon genug um Rechtfertigung ringen, so gesellt sich auch noch herber Staudensellerie in der Vinaigrette hinzu und sorgt vollends für ein konfuses aromatisches Ergebnis. Die Qualität der geflämmten Muschel ist auch nur durchschnittlich, so dass der flüssige Begleiter – ein süßlich-herber Pink-Lady-Apfelsaft mit Fenchel und Noten von Holz – das Ruder nicht mehr herumzureißen vermag. Leider ein Auftakt, der schnell vergessen ist.
Da spricht man ganz gerne dem hausgemachten Roggen-Sauerteigbrot mit Fassbutter zu, das ungewöhnlicherweise erst jetzt an den Tisch gelangt und im Laufe des Abends in hohem Maße sättigend sein wird.
Im nächsten Beitrag bedeckt Périgord-Trüffel ein Blatt aus Sauerteig, unter welchem sich geröstete Bucheckern an einer Jus laben, die deutliche Pilzaromen aufweist. Im Vergleich zu so manchem Beitrag bisher ist das optisch zurückhaltender und puristischer inszeniert, doch auch diesmal gibt es leider kleine Vorbehalte: so entfalten die Trüffeln (selbst in Form von Marinade) kein nennenswertes Aroma, und auch die Trennschärfe zwischen den Komponenten schiene mir ausbaufähig. Dadurch erhält dieser erdig-herbstliche Gang (im April …) einen zu leichten und körperlosen Charakter, dem es an geschmacklicher Tiefe mangelt. Daraus hätte man mehr machen können.
Allmählich wundere ich mich schon, in welch auffälligem Maße sich die drei Jahre zuvor gezeigte Stilistik geändert zu haben scheint. Ein solcher Prozess mag in der Tat stattgefunden haben, ja – aber gemessen an den bisherigen Eindrücken keinesfalls zum Besseren hin. Zugegeben: andere Gäste störten sich offenbar weniger daran als ich, was ich in erster Linie auf zwei potentielle Gründe zurückführen kann – entweder fehlt es der Mehrzahl an Gästen an Vergleichsmöglichkeiten, so dass sie leichter zu beeindrucken sind oder sie ließen sich (genau wie ich) eben nichts anmerken. Frappierend bleibt der Wandel aber so oder so …
Besserung ist in Aussicht, denn der ausgezeichnete, gebratene Steinbutt aus der Bretagne wartet mit all den Vorzügen auf, die man von ihm erwarten darf: saftig, aristokratisch im Geschmack und doch mit geschmacklicher Dichte. Bei den Begleitern gibt es jedoch erneut Luft nach oben: die Brunoise von rote Bete ist zu sparsam eingesetzt, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen, während der Kaviar auch den Kampf gegen die in dünnen Streifen auf dem Fisch drapierte Pomelo mühelos auf sich nehmen und zu seinen Gunsten entscheiden kann. Der aufgegossene, farbenfrohe Kokos-Yuzu-Sud erweist sich als recht cremig und betont die grundsätzlich fruchtige Ausrichtung des Ganges, doch mehr Power hätte auch dieser ohne Weiteres vertragen können. Der makellose Hauptdarsteller hätte somit von mehr Sorgfalt bei den Begleitern und insbesondere von deren Balance profitieren können.
Wachtel zum Hauptgang kommt in zweierlei Ausführung daher: die gebratene Variante wird mit gebackenem Chinakohl, Radicchio-Gel, Texturen von Quitte und zur geschmacklichen Abrundung mit Tagetes in großer aromatischer Streuung begleitet, während das Ragout von Innereien (unter anderem Magen und Herz) im Schälchen à part deutlich konzentrierter mit Haferflocken und Texturen von Himbeere bereichert wird. Ein kraftstrotzender Gang ist dieses Hauptgericht keinesfalls, so dass mir eine klare Dramaturgie zum Hauptgang hin fehlte. So zog sich dieser Abend bisher mehr oder weniger spannungslos dahin, wenn man von einzelnen Highlights bei der Produktqualität und deren Zubereitung mal absah – ansonsten gab es schlicht und ergreifend zu viel Show und zu wenig Substanz.
Das recht ernüchternde Fazit bisher präsentiert sich dergestalt, dass Unterhaltung und Optik derzeit höher angesiedelt zu sein schienen als präzise Detailarbeit. Mein Urteil tendierte schon deutlich Richtung 16 Punkte, doch dann geschah etwas Unerwartetes, denn mit der Ernüchterung sollte es dann beim Käsegang schlagartig vorbei sein. Der gebackene und ausgesprochen cremige Taleggio wird hier von einem hinreißenden Bouquet aus karamellisiertem Apfel und Rettich begleitet, denn das Zusammenspiel aus fruchtigen und vegetabilen Aromen ist aromenstark umgesetzt. Die Krönung dieses Gangs stellt jedoch der Feinschliff mit einer unter dem Bouquet versteckten Ahorncrème dar, die mit nussiger Herbheit einen idealen Kontrast mit dem gehaltvollen Hauptdarsteller eingeht. Außerdem sorgen noch ein paar Spritzer von Verjus für belebend frische Säure, während ein eigens kredenzter Pflaumen-Radicchio-Saft abermals den eher herben Grundcharakter unterstreicht. Nach all den schalen Darbietungen bisher hätte ich mit einem solch großen Wurf schon nicht mehr gerecht. Überragend und mit Sicherheit ein Kandidat für meine Menüfolge des Jahres!
Wenig Produkte in textureller Vielfalt – unter diesem Motto könnte das Dessert stehen, in welchem Rhabarber die Hauptrolle einnimmt. Der fruchtige Schaum setzt entwaffnend leichte säuerliche Akzente, die von Sauerrahm in diversen Konsistenzen trefflich abgefedert werden. Deutlich mehr Körper steuert das Fichtengel mit seiner für Koniferen typischen ätherischen Aromatik bei, doch auch als grüner Fichtenstaub vermag das Produkt in weniger dichter Form zu überzeugen – ein frühlingshaft frischer, ja beschwingter Ausklang, der zu überzeugen vermochte.
Die Petits fours halten zum Glück das gegen Ende gebotene Niveau. Ob nun ein Rote-Bete-Dip mit Sauerrahm (rechts), Dulcey-Windbeutel, Sauerkirsch-Toffee, Praline mit Ummantelung von Kürbiskern oder Erdnuss-Schnitte mit Yuzu: sie überzeugen allesamt auf ihre Weise und runden ein Menü ab, das die starken Eindrücke zum Ende hin wahrhaftig nötig hatte.
Tatsächlich warf dieser Abend so einige Fragezeichen auf: offensichtlich hatte sich der Küchenstil in den drei Jahren seit meiner ersten Stippvisite unter Christoph Kunz nochmals weiterentwickelt, doch konnte mich die an diesem Abend eingeschlagene Richtung längst nicht immer überzeugen. Waren es beim letzten Besuch zeitgemäße und optisch ansprechende Kreationen mit einem gewissen Twist, so wirkte diesmal so manches erheblich weniger schlüssig. Mal lag es an pseudo-modernen Kombinationen, deren Sinn sich mir nicht erschloss, mal an fehlender Feinabstimmung zwischen den Komponenten und wiederum andermal an einer geschmacklichen Tiefe, die so manchen Vergleich mit ähnlich dekorierten Lokalen hätte scheuen müssen. Natürlich gab es auch Lichtblicke (insbesondere der Käsegang sei hier nochmals deutlich hervorgehoben), doch die lange Anlaufzeit dieses Menüs bis zu einem wirklich überzeugenden Beitrag gestaltete sich als zäh. In dem Bemühen, noch außergewöhnlicher und origineller zu werden, wurde der Bogen für meine Begriffe diesmal deutlich überspannt – mehr als nur ein Teller wirkte over the top. Allzu häufig war der Wunsch, eine ausgefallene Idee in die Tat umsetzen, an der Praxis gescheitert. Speziell gegen Ende des Menüs lieferte Christoph Kunz mit seinem Team den Beweis der Extraklasse noch nach, aber die Darbietung bis dahin konnte keine Maßstäbe setzen, weshalb ich die aktuelle Note des G&M leider nicht bestätigen kann.
Ich vermag natürlich nicht zu sagen, ob die Küche einen schwachen Tag erwischte oder die Luft vor dem anstehenden Abschied einfach schon raus war – so oder so sollte es nicht unbedingt passieren, dass ich einigermaßen ratlos über die Menüfolge sinniere und zu dem Ergebnis gelange, dass ich so einiges an diesem Abend vermisste und mir insbesondere eine stimmige Dramaturgie ganz entschieden fehlte. Natürlich möchte ich Herrn Kunz für den Neustart einen gelungenen Beginn wünschen, hoffe aber dann, dass manches durchdachter wirkt als zuletzt.
Mit Sommelier Julien Morlat behält man im Alois ja zumindest eine Trumpfkarte in der Hand, die man auf keinen Fall achtlos rausrücken sollte – in all den Jahren ist der charmante Franzose zu so etwas wie dem Gesicht des Gourmetrestaurants schlechthin geworden. Durch sein diskretes, leichtfüßiges und kompetentes Auftreten steht er regelrecht über den Dingen und umfängt den Gast mit genau der richtigen Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit – zumindest darauf ist noch jedes Mal Verlass gewesen!
Da im Herbst ein Neubeginn ansteht, ist meine Rückmeldung natürlich einigermaßen obsolet. Dennoch soll diese Reminiszenz an ein bemerkenswertes Lokal im Herzen der Münchner City bewirken, dass man insgesamt gerne zurückdenkt – wenn auch an diesem Abend längst nicht alles optimal lief. Seien wir gespannt, welches Kaninchen die Geschäftsleitung diesmal aus dem Hut zaubern wird …
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Alois
Dienerstraße 14
80331 München
Tel.: 089/2135100
www.dallmayr.de/alois
Guide Michelin 2022: **
Gault&Millau 2021: 18 Punkte
GUSTO 2022: 9 Pfannen
FEINSCHMECKER 2022: 4 F
6-gängiges Menü: € 185
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Mai 2019
Nach dem eher überraschenden Ruhestand des Chefkochs Diethard Urbansky (der zuletzt zwei Michelin-Sterne und 18 Punkte im G&M für sich beanspruchen konnte) im Mai 2018 waren nicht wenige Gourmets gespannt, wie es in dieser Traditionsadresse weitergehen würde. Natürlich gab es niemanden, der dem 60-jährigen Koch nicht den überaus verdienten Ruhestand gegönnt hätte, doch die Sorge, dass kein adäquater Ersatz gefunden werden könnte, trieb dennoch viele um. Inzwischen wissen wir es besser: nach einer zweimonatigen Pause, in der das Interieur des Traditionsrestaurants konsequent verjüngt wurde, übernahm der bisherige Souschef Christoph Kunz und führt nun die elegante Adresse in die Zukunft. Dabei wurde nicht nur das Interieur, sondern auch der Küchenstil und die gesamte Atmosphäre spürbar aufgelockert. Ein Zeichen setzte dabei auch Sommelier Julien Morlat, der trotz der gravierenden Änderungen dem Haus die Treue hielt und den neuen Kurs bereitwillig mitträgt. Die ehemalige Restaurantleiterin Barbara Englbrecht ist inzwischen zwei Steinwürfe weiter im Atelier im Hotel Bayerischer Hof gelandet, sodass Monsieur Morlat nun auch ihre Aufgaben übernommen hat. Der lockere, unverkrampfte Stil des immer noch recht jungen Maîtres, der auf ein engagiertes Team bauen kann, kommt dabei gut an, zumal er sich offenbar gut an Gäste aus der Vergangenheit erinnern kann, selbst wenn sie schon seit zwei Jahren (Asche auf mein Haupt!) nicht mehr hier waren.
Die Tischdecken sind dem neuen Stil gewichen, so dass inzwischen auf blanken, meist kreisrunden Tischen getafelt wird. Auch die edlen Hirschleder-Tapeten wurden inzwischen durch (immer noch) hochwertige Tapeten mit einem Kranichmuster ersetzt (blau in dem einen Saal, gelb im anderen); geblieben ist dagegen die große Fensterfront mit dem Blick auf die Frauenkirche, auch wenn durch Neubauten auf der gegenüberliegenden Seite dieser inzwischen nicht mehr ganz so unverstellt wie früher ist. Was gottlob ebenfalls erhalten blieb, ist die unbeschreiblich wohltuende und ruhige Atmosphäre, wenn man erst einmal die Treppe zum Lokal im 1. Stock des weltbekannten Feinschmeckerladens erklommen hat. Nach all dem Lärm der Stadt und dem Trubel in Europas größtem Delikatessengeschäft freut man sich allein schon wegen der Ruhe oben auf ein entspanntes Lunch zu € 89 für vier Gänge. Der Küchenstil mag sich geändert haben – die Qualität der Produkte dagegen ist nach wie vor Spitzenklasse (alles andere wäre angesichts des lukullischen Schlaraffenlands im Erdgeschoss auch eine große Überraschung). Wer mehr über das ehemalige Restaurant Dallmayr erfahren möchte, dem sei meine Rezension vom Mai 2017 empfohlen. Unsere Erwartungshaltung an das Alois (das nach dem Vornamen des Firmengründers getauft wurde) ist hoch, denn der Guide Michelin hielt trotz Kochwechsels und Konzeptänderung an den zwei Sternen fest, die das Lokal zuvor innehatte. Normalerweise ist jedes einzelne dieser Phänomene schon fast ein sicherer Beleg für eine Abwertung, doch hier liegt offensichtlich ein Ausnahme vor – ob zurecht, wird sich noch herausstellen.
Zu einem Träublein-Secco Vaux aus dem Rheingau werden zwei Petitessen auf je einem Teller voller Getreidekörner (schon das erste Indiz für den neuen Stil) serviert: zum einen eine schlanke, aber dennoch geschickt veredelte Neuinterpretation eines „Strammen Max“ mit geröstetem Brot und obenauf Crème von gekochtem Eigelb sowie gebeiztem Eigelb. Zum anderen befindet sich in einem Roggen-Tartelette unter einer Joghurtcrème ein wunderbares Saiblingstatar. Der zweite Gruß macht mehr her als der erste, doch beweisen beide Häppchen, dass Hochküche natürlich nicht nur von Spitzenprodukten leben muss.
Nach der unauffälligen Brotauswahl erfolgt allerdings der Gegenbeweis, dass Spitzenprodukte der Haute Cuisine natürlich auch nicht schaden: Gillardeau-Auster Nr. 2 wird mit etwas rustikaler Kalbszunge sowie Perlen von geeistem Meerrettich so gekonnt liiert, dass die jodig-salzigen Aromen der Auster perfekt mit der Schärfe des Krens und den deftigen Fleisch-Noten harmonieren. Die federleichte, reduzierte Buttermilch rundet den gelungenen Einstieg angemessen ab. Das lässt man sich gerne gefallen!
Auch die Jakobsmuschel wird vergleichsweise schlicht inszeniert: der gebratene Hauptdarsteller wird mit etwas wildem Brokkoli und Kaviar getoppt und schwimmt in einer Schwedenmilch, die zudem mit etwas Liebstöckel aromatisiert ist. Auch dieser Gang spricht mich an, wenn man einmal davon absieht, dass die aufgegossene Sauce bisher zweimal fast identisch war.
Ein Fleisch gewordener Traum ist das Bugstück vom Wagyu-Rind, dessen Marmorierung beeindruckt und dessen Röstaromen perfekt zur Geltung kommen. Dafür bräuchte es eigentlich gar keine Nebendarsteller, doch auch diese sind trotz ihres „irdischen“ Charakters glänzend veredelt und würdige Begleiter: ein exzellentes Gratin von Süßkartoffel (herrlich mürbe!), getoppt von einer „falschen Tagliatelle“ aus eingelegtem Mango – ein glänzender Einfall. Dazu gibt es noch einen großen Klecks Sauce von grünem Curry – fertig ist ein harmlos anmutendes, aber wirklich großartiges Hauptgericht mit Langzeitwirkung!
Das Dessert ist ein etwa bierdeckel-großes Mürbteig-Tartelette mit frischen Erdbeeren sowie Erbse in verschiedenen Texturen. All dies ist versteckt unter einem mit Saketrester aromatisierten Schaum, der sich angenehm dezent zurückhält. Dieses Dessert huldigt ganz dem Zeitgeist, indem es plakative Süße gekonnt umgeht und außerdem grüne Elemente einsetzt, die leicht bittere Elemente beisteuern. Die Patisserie hat offenbar die Zeichen der Zeit erkannt und beweist mit diesem Beitrag, dass das Alois auch auf dem Gebiet der Patisserie Spitzenklasse offerieren kann, die keineswegs verkopft oder betont originell wirken soll. Etwas klassischer, aber vollmundig geraten die gefüllten Kugeln mit Schokoladenummantelung zum Abschluss: Passionsfrucht mit weißer Schokolade ummantelt sowie Kaffee (Vollmilchschokolade) und Macadamianuss (Zartbitter).
Dass die Küche mittags nicht die ganz große Leistungsschau zelebriert, mag verdeutlichen, wie groß der Küchenaufwand trotz oft gegenteiligen Eindrucks nach wie vor sein muss. Doch auch so bleibt ein angenehmer Eindruck haften, denn in Summe war dieser Nachmittag die vergebenen zwei Michelin-Sterne und die derzeit 17 Punkte im G&M durchaus wert. Der neue Chefkoch Christoph Kunz hat die Fesseln der Vergangenheit abgestreift und sein Personal auch soweit gebracht, dass die verschiedenen Gänge auch von verschiedenen Mitarbeitern der Küche präsentiert werden: jeder stellt quasi seinen Lieblingsgang oder den, an dem er am meisten Arbeit hat, vor. Wie uns gegenüber Monsieur Morlat auch bestätigt, soll das neue Konzept des Zwangslosen nicht für den Küchenstil selbst, sondern auch für die gesamte Etikette im Lokal gelten – casual fine dining eben. Dass dies inzwischen gelungen ist, können wir vollauf bestätigen. Eine ausdrückliche Empfehlung, dieses Lokal zu besuchen, sei hiermit jedenfalls ausgesprochen!