August**, Augsburg

August 2017

Binnen 25 Jahren hatte Chefkoch Christian Grünwald, inzwischen Mitte fünfzig, sein Lokal mit der netten Dachterrasse in der Frauentorstraße 27 am nördlichen Rand der Altstadt etabliert, bis er 2014 wegen eines Streits mit dem Vermieter mitgeteilt bekam, dass er die Räumlichkeiten zu verlassen habe und sich nach einer neuen Bleibe umschauen müsse. Seit April 2016 residiert das „August“ nun in der Villa Haag am östlichen Rand von Augsburg. Kleines Detail nebenbei: das ehemalige Etablissement beherbergt inzwischen eine Dönerbude …

Das „August“ ist eine absolut einmalige Erscheinung in der deutschen Spitzengastronomie – und das gleich aus mehreren Gründen. Fangen wir damit an, dass das Lokal sich noch nicht einmal eine Homepage gönnt und damit von vornherein von einer Aura umgeben ist, die durchaus an einen esoterischen Geheimzirkel erinnert. Des weiteren ist Christian Grünwald ein Autodidakt und keinerlei stilistischen Richtung eindeutig zuzuordnen (außer seiner eigenen). Zudem ist das Lokal unter den Profiguides umstritten: der Guide Michelin verleiht zwei Sterne, während der Gault&Millau die (vermeintlich) fehlende Qualifikation Jahr für Jahr aufs Neue bemängelt und nur 13 oder 14 Punkte vergibt, was gleichbedeutend mit „kaum der Rede wert“ ist. Die enorme Diskrepanz zwischen diesen Urteilen macht sicherlich viele weitere Gäste neugierig, zumal auch sonst kein Medienhype um dieses Lokal existiert. Soviel vorweg: zu welchem Urteil man auch immer nach einem Besuch kommt, so ist und bleibt dieses Lokal das beste Restaurant der Fuggerstadt.

Das Obergeschoss der Villa, die ehemals von der Familie des Zentralheizungs-Pioniers Johannes Haag bewohnt wurde, beherbergt also nun dieses außergewöhnliche Restaurant, nachdem die Räumlichkeiten mehrere Jahre ungenutzt blieben und das Erdgeschoss inzwischen auch wieder von der Stadt für bestimmte Anlässe genutzt wird. Die Räumlichkeiten aus der Gründerzeit haben extrem hohe Decken und sind fast ausschließlich mit Parkettboden belegt. An den Wänden des Speisesaals hingegen prangen zwei großformatige moderne Kunstwerke, die mit dem Deckengemälde des Speisesaals den denkbar größten Kontrast eingehen. Teil der Inszenierung im August sind auch Plexiglastische mit herausziehbarer Schublade. In dieser Schublade werden immer wieder zu Beginn kleine Happen auf Keramikscherben zur vorübergehenden Bewunderung platziert, ehe sie später verzehrt werden dürfen. Später wird während des Menüs das Grundprodukt, das im Zentrum des jeweiligen Gerichts steht, präsentiert. Außerdem wird der patentierte Tisch von unten in verschiedenen Farben illuminiert, was wohl psychologische Aspekte bedienen soll – es wirkt allerdings ein wenig wie in der Sauna.

Ein Besuch in diesem Lokal ist außerdem wie eine Art Eintrittskarte zu einer Theatervorstellung. Die recht skurrilen Designer-Gewänder de Service tragen dazu genauso bei wie die ständige Präsenz des Chefs im Speisesaal, der nicht müde wird, die Speisen zu erläutern (was auch dringend notwendig ist) und – manchmal auch etwas zu bevormundend – erklärt, wie man beim Essen der jeweiligen Kreation vorgehen soll. Dieser Chef lässt sich an einem Abend häufiger im Gastraum blicken als manche andere Chefs im ganzen Jahr! An Selbstbewusstsein mangelt es Herrn Grünwald jedenfalls nicht, auch wenn sich Erstbesucher ein wenig an seinen eigenwilligen Charakter gewöhnen müssen.

Das „August“ hat nur von Mittwoch bis Samstag abends geöffnet – es wird kolportiert, dass Herr Grünwald sieben Tage die Woche am Herd steht, um nur an vier Tagen überhaupt öffnen zu können! Aufgrund des enormen Aufwands, den die Küche betreibt, gibt es nur ein einziges sechsgängiges Menü, das gegebenenfalls reduziert werden kann (was angesichts der schier endlosen Parade an Einstimmungen auch gar nicht so selten vorkommt). Jedenfalls sollte man als Gast hier zwei Dinge von vornherein mitbringen, um den Abend genießen zu können: großen Hunger und Aufgeschlossenheit. „Konvention“ ist nämlich ein Wort, das im Vokabular des Chefs nicht zu existieren scheint …

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Zu einem Aperitif auf der großzügigen Dachterrasse mit dem Sitzmobiliar von anno dazumal (die Vorliebe für nur mäßig bequemes Sitzmobiliar scheint auch nach dem Umzug geblieben zu sein) reicht man die ersten Kleinigkeiten: eine Tarte von zweierlei Tomaten, dann ein Holundersorbet mit etwas Crème fraiche und Sauerampfer sowie schließlich eine mit Sepia dunkel gefärbte Kartoffel mit einem dickflüssigen Dip aus Rote Bete – allesamt sehr gut, aber für Grünwald’sche Verhältnisse geradezu belanglos – erst mit den übrigen Einstimmungen wird dann allmählich die Betriebstemperatur erreicht. Es folgt Lachs in zwei Varianten: zum einen in einer Kreation mit Kalbskopf, Wachtelei, Sauce hollandaise und Erbsen sowie in einem Röllchen mit Wasabi und Erdnuss – beides absolut großartig! Auch die nächste Inspiration sagt mir vollkommen zu: ein Türmchen aus Wassermelone, Avocado, Rauchaal und fermentiertem Knoblauch vereint auf engstem Raum die scheinbar völlige Disparität der Komponenten auf geniale Weise. Etwas simpler wird es wieder bei der Gazpacho-Praline, die gut schmeckt, aber abgesehen von der Präsentation in einem sehr aufwändigen Glasschälchen keinerlei Überraschung bietet. Imponierender gerät die mit Zitrone marinierte Scheibe von Salatgurke mit Steinpilz, Rind und Imperial-Kaviar obenauf. Es folgt ein Duett von Olive: einmal grüne Sphäre mit Martini veredelt und einmal schwarze Olive mit Rauchmandel und essbarer „Folien-Verpackung“ aus Reispapier. Nach diesem etwas experimentellen Intermezzo überzeugt die letzte Einstimmung, „Meeresbrise“ genannt, nochmals auf ganzer Linie: in ungewohnt puristischer Zurückhaltung kombiniert Grünwald hier Bauch vom Thunfisch mit Gambas, Buttermilch und Dill – ein echter Volltreffer!

Nochmals zur Klarstellung: das eigentliche Menü beginnt erst nach gut einem Dutzend Einstimmungen! Anhand der Menüfolge lässt sich auch schon gut ablesen, dass Purismus und Minimalismus nicht gerade die Markenzeichen dieser Küche sind: „Collection von Pimentos (60 Stunden – geeist – Espuma), frische grüne Mandel, Holzkohle-Salsa, gebrannte Amalfi-Zitrone, Salatsaft, Süßzwiebel und Apfelasche“ liest sich schon wie ein kurzer Roman und wird – für Grünwald eher untypisch – in drei Teilen präsentiert. Teil eins der Trilogie punktet mit einem Schälchen, in dem der Espuma obenauf kleine Stückchen von Kalbsfleisch kaschiert. Auch Teil drei schneidet gut ab: Paprika-Eis auf einem separaten Schälchen mit Mandeln. Teil zwei hingegen gerät zum schwächsten Teller des Abends: auf einem riesigen Teller, der in puncto Farbgebung und Gestaltung einer Malerpalette nicht unähnlich sieht, passiert viel zu viel gleichzeitig: mehrere Saucen tummeln sich schon im Wettstreit auf dem Teller. Als dann noch zum Schluss auch noch Salatsaft aufgegossen wird, werden die Süsszwiebel und die Apfelasche völlig erschlagen. Es entsteht eine Art Gebräu an unvereinbaren Saucen ohne Kontur oder Zusammenhang – optisch schön, aber geschmacklich alles andere als überzeugend. Allerdings sei hier festgehalten, dass diese Küche (für alle, die es noch nicht gemerkt haben sollten) mit an der Spitze der Avantgarde in Deutschland steht und unbändige Experimentierfreude zur Schau stellt – und dabei kann auch schon einmal ein Schuss nach hinten losgehen. Als mehrfacher Besucher dieses Lokals hat man sich fast schon darauf eingerichtet, dass ein bis zwei Teller pro Abend reichlich seltsam oder verkopft daherkommen. Und wer sagt denn, dass die anderen Gäste zu dem gleichen Ergebnis gelangt sind …?

„Bienenwabe, Trüffel-Nektar, Blüten und Blätter, Tatar vom Bio-Rind, Demeter-Ei, Artischocke und grüne Oliven-Parmesan-Knospen“ klingt hingegen dramatischer als es ist: die meisten Komponenten sind äußerst sparsam dosiert (und müssten daher vielleicht auch nicht alle einzeln aufgezählt werden). Unter der karamellisierten Bienenwabe befindet sich der eigentliche Hauptdarsteller: das vorzügliche Tatar geht eine beglückende Liaison mit dem Ei ein, während sich die übrigen Begleiter angenehm zurückhalten und nur punktuell aromatische Akzente setzen – sehr viel besser austariert und abgestimmt als etwa der zweite Teller des vorigen Gangs.

Geradezu übersichtlich gerät „Blauer bretonischer Hummer (geflämmt), Gartentomaten, Büffelmilch, Rum und Eisenkraut“. Die verschiedenen Tomatensorten, die in filetierter Form den Großteil des Tellers für sich beanspruchen, drücken dem Gang den Stempel auf. Der Hummer verkommt (mit völliger Absicht) zum Nebendarsteller, obwohl er vollendet zubereitet ist und mit seiner fest-fleischigen Konsistenz nachhaltig beeindruckt. Der Clou des Gerichts ist jedoch das à part gereichte Schälchen mit wunderbar intensiver heißer, geschäumter Tomatenessenz und Rum aus der Karibik. Das alles geht eine grandiose Symbiose ein und macht selbst den Abstinenzler in mir süchtig!

„Seezunge, Imperial-Kaviar, Bohnen, Schinkentapioka und Emulsion von Bohnenkraut und Kaper“ kommt noch reduzierter daher, da sich fast alle Zutaten auf einem Türmchen tummeln, dessen Fundament die hervorragende Seezunge ist. Die Komponenten harmonieren prächtig, womit Grünwald beweist, dass er durchaus auch die leiseren Töne beherrscht und nicht nur wild und ungehemmt experimentiert (auch wenn Vergleiche natürlich problematisch sind). Hier ist die Aromendichte auf kleinsten Raum gepresst und funktioniert doch bestens.

Das eigentliche Hauptgericht „Sommer-Reh, Kraut und Rüben, Klee, pulverisierte Himbeere, Pfifferlinge, Lardo und grüne Wiese“ findet ebenfalls meine uneingeschränkte Zustimmung. Auf diesem Teller tummelt sich das Reh als eigentlicher Hauptdarsteller in Form eines unscheinbaren Happens Fleisch am Tellerrand. Es passiert wieder eine ganze Menge bei dieser Kreation, doch trotz aller Komplexität bleibt dieses Gericht nachvollziehbar und bezieht seinen Reiz neben der makellosen Zubereitung des Rehs aus der gewagten, aber stimmigen Begleitung. Teil des Zaubers von Grünwald ist auch, dass sich dem Gast eher selten offenbart, wie diese oder jene Komponente überhaupt zubereitet wurde! Ob der Chef seine Teller mit „Kraut und Rüben“ als Wortspiel selbst auf die Schippe nehmen wollte oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis …

Als Dessert reicht man schließlich „Kopfsalat, Erdbeermoos, Pistazie, Aprikosen-Rosenwassereis, Tahitivanille und Limonenrumvinaigrette“. Die Zutaten befinden sich auf zwei Blättern von Kopfsalat und sind daher auf relativ engen Raum beschränkt. Dort, wo die sparsam aufgeträufelte Vinaigrette zu schmecken ist, passiert wesentlich mehr als an den „Flecken“ ohne Vinaigrette. Für meine Begriffe sind die verwendeten Zutaten hier relativ massiv und wenig subtil eingesetzt, so dass das Gericht nach einiger Zeit durchschaubar und trotz der recht kleinen Blätter wegen der aufgetürmten Höhe überdimensioniert wirkt – somit im Vergleich zu so manch anderer Kreation in der Vergangenheit ein eher durchschnittliches Dessert.

Früher hätte nun der Reigen an Ausklängen hier eingesetzt; dieser ist inzwischen allerdings zugunsten von „nur noch“ drei außergewöhnlichen Macarons gewichen. Deren denkwürdigster war die Version mit Himbeere und einem Minzblatt dazwischen.

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Das Preis-Leistungs-Verhältnis hier ist absolut vorzeigbar (Menüpreis: € 189) und angesichts des gigantischen Aufwands mehr als gerechtfertigt; auch die Nebenkosten schlagen nicht sonderlich stark aufs Portemonnaie. Erfahrene Gourmets werden jedoch schnell merken, dass viele altehrwürdige Gepflogenheiten in diesem Lokal ansonsten nichts zu suchen haben und Vergleiche somit schwierig sind. Dass die oftmals knallige und alles andere als zurückhaltende Küche immer wieder mal aneckt und ergo kontroverse Urteile hervorruft, ist auch nicht weiter verwunderlich. Ohnehin hat man den Eindruck, dass das „August“, einer Insel mitten im Meer gleich, völlig unbeeindruckt von den Bewertungen anderer sein Ding einfach durchzieht. Grünwald bekundete, dass er nach dem Umzug die zwei Michelin-Sterne halten wollte (wie wir wissen, hat er es ja auch geschafft), aber sonst kaum Aufhebens um seine Person macht. Dass der Chef ständig wie ein Leprechaun im Speisesaal umherstreift dürfte auch ziemlich einmalig sein. Christian Grünwald lässt zumindest die Gäste zu jeder Zeit spüren, dass er von seiner Kunst und seinem Können absolut überzeugt ist – ein Eindruck, den die Mehrzahl der Gäste durchaus zu teilen scheint. Größter Schwachpunkt insgesamt ist vielleicht das unterschwellige Gefühl, dass Herr Grünwald praktisch alles kann, aber leider auch meint, an einem einzigen Abend alles davon zeigen zu müssen. Es wirkt manchmal, als würde ein Konzertpianist in einem einzigen Recital Bach, Weber, Ravel und Stockhausen spielen …

Was bleibt somit festzuhalten? Ein Besuch im „August“ ist fordernd und für einen konventionellen Gourmet-Abend denkbar ungeeignet. Man muss sich schon auf diese eigenwillige Küche einlassen, wenn man aus ihr einen Genuss ziehen will. Seien wir dennoch froh, dass es in der immer uniformer wirkenden Gastro-Landschaft noch solche individuellen Entwürfe überhaupt gibt! Bei aller Theatralik sollte nun klar sein, dass ein Besuch hier eines mit Sicherheit niemals wird: langweilig.