Die Kochkunst wird sich entwickeln, ohne dabei aufzuhören, Kunst zu sein. (Auguste Escoffier)
UPDATE (September 2020)
Eine der verlässlichsten Adressen an der Mosel, in der auf solidem Zwei-Sterne-Niveau gekocht wird, ist das schicke Hotel und Restaurant von Wolfgang Becker in Trier-Olewig. Nach unserem letzten Besuch im November 2017 war es mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite, um herauszufinden, was sich seither so getan hatte. Sieht man einmal von neuen bequemen weißen Stühlen ab, so hat sich ansonsten rein äußerlich wenig verändert: nach wie vor dominieren klare und kantige Konturen, gepaart mit Glas und Schiefer als Werkstoffen sowie Tische mit anthrazit eingedecktem Tischtuch und Servietten. Auch der Service wird trotz wechselnder Servicekräfte seit Jahren von Christine Becker, der Frau des Chefs, mit sicherer Hand geführt. Schauen wir mal, ob sich bei der Küche nennenswerte Neuerungen ergeben …
An diesem sehr heißen Tag geleitet man uns ohne Umschweife an unseren Tisch und trägt sogleich die ersten Amuses auf: ein relativ mild gewürztes Rindertatar auf Schwarzbrot und einem Beef Tea im Glas darunter, dann cremiges Wachtelei auf dem Löffel, gefolgt von Kroepoek mit Taschenkrebs und Wakame-Algen. Zu guter Letzt rundet das Pastrami auf einem Brotchip den Eindruck eines feinen und sorgsam durchdeklinierten Einstiegs mit durchdachten Appetizern ab. Ein starker Auftakt, fraglos! Dazu passt ein alkoholfreier hausgemachter Cocktail mit Minze, Holunder und Limette ausgezeichnet.
Der kalte Gruß beeindruckt uns ebenfalls sehr: Gazpacho mit gebratener portugiesischer Sardine bekommt im Umfeld von Paprika (Crème und gebacken), Gurke (auch als Eis), Olivenöl und Tomate eine feine Note, die durch die subtile Abstufung der Gewürze noch weiter an Kontur gewinnt. Welch ein Schmelz! Das launige Spiel von verschiedenen Texturen und Temperaturen gerät überhaupt nicht zum Selbstzweck und wertet das Gericht noch weiter auf. Grandios!
In einem zweiten, diesmal warmen Gruß wird Kalbskopf zu einer ausgebackenen Praline verarbeitet und mit etwas Essiggemüse getoppt, während ein Tupfen von Sauce Gribiche eine sinnvolle und schmackhafte kräutrige Ergänzung darstellt. Diese Kreation hätte auf keinen Fall kürzer gebraten werden dürfen, schmeckt aber in dieser Form ungewöhnlich gut und rundet den gelungenen Reigen an Petitessen würdig ab.
Die Brotauswahl schließlich mit einem Sauerteigbrot und einer Salzbutter sowie einigen Nüssen als Knabberei schließt den Einstieg ab. Da es hier auch schon in den Zeiten vor der Corona-Krise nur ein einziges Menü mit bis zu acht Gängen gab, fällt die Auswahl nicht schwer. Wir harren einfach der Dinge, die in den nächsten Stunden auf uns zukommen werden.
Zum Auftakt des Menüs setzt Wolfgang Becker gleich ein Ausrufezeichen – und zwar noch bevor der erste Bissen überhaupt verzehrt ist: ein Gericht mit solch reduzierter Optik hätten wir aufgrund früherer Erfahrungen gerade hier nicht unbedingt erwartet! Bretonische Langustine ist absolut auf das Wesentliche reduziert und beeindruckt mit viel Fokus auf die Produktqualität. Die Langustine punktet mit butterzarter Konsistenz, selbst in gekühlter Form. Die fruchtige Begleitung mit Mango und vegetabile Variante mit Avocado (unterm Blutampfer versteckt) setzt gekonnte aromatische Akzente, während der Zitronellen-Sud für unsere Begriffe zu zurückhaltend ist und nicht wirklich zur Entfaltung kommt. Trotzdem ein aromatisches Ausrufezeichen und ein echter Hingucker!
Weiter geht es mit einem bei Niedrigtemperatur pochierten Bio-Eigelb, das von einer aromatischen Pilzbouillion und Pilzcreme flankiert wird. Das durchaus herbstlich anmutende Gericht spannt einen virtuosen Bogen an erdigen und genau ausgeloteten Aromen, während etwas Röstzwiebel dem ansonsten zu schlabberigen Gericht Biss und durchaus herzhafte Würze verleiht. Mit etwas Sesam wird das Gericht schließlich trefflich abgerundet – eine wuchtige Umami-Bombe, die den denkbar größten Kontrast zum Vorgänger eingeht, aber vollauf überzeugt.
Der dritte Gang wird klar dominiert von Saint-Pierre aus der Vendée. Ein derart edler, glasig gegarter Hauptdarsteller kommt gut mit lediglich zwei zurückhaltenden Begleitern – geräuchertem Chorizo-Sud und Artischocke in unterschiedlichen Texturen – aus. Wie schon beim ersten Gang bemerken wir erneut eine spürbare Reduktion, die dem Wohlgeschmack auf dem Teller allerdings keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: das leicht fassbare Gericht wirkt unkompliziert, doch schmeckt es ungleich komplexer als die fast schon nüchtern anmutende Präsentation erahnen ließe. Wolfgang Beckers Stärke, edle Produkte zeitgemäß zu inszenieren und mit spannenden Aromen sorgsam zu begleiten, kam hier besonders deutlich zum Tragen. Exquisit!
Die Beurteilung seiner Gänseleber-Gerichte fällt für uns dagegen nach wie vor kontrovers aus: schon beim letzten Ma(h)l bekamen wir einen extrem sättigenden und massigen Beitrag zu diesem Thema geboten (siehe unten), und auch diesmal wurde die edle Innerei direkt vorm Hauptgang platziert. Gebrannte Gänselebercrème begleitete Wolfgang Becker heuer mit Kirsche in unterschiedlichen Texturen und etwas Ahornglasur. Außerdem tummelte sich die Leber auch noch als Eis auf dem Teller, so dass der dominante Hauptdarsteller in ein Gewand aus eher süßlichen und etwas bitteren Aromen von Kaffee – in Form von versteckten Bohnen und als Crumble – gekleidet wurde. Von der Intensität geriet diese Kreation nicht so verstörend wie die vom letzten Besuch, doch auch diesmal drängte sich uns der Eindruck auf, dass in dramaturgischer Hinsicht ein so sättigender Gang vor dem Hauptgericht deplatziert wirkt. Isoliert betrachtet bleibt unterm Strich ein solide inszenierter Gang, der allerdings nicht das gleiche Feintuning wie die Gänge zuvor aufweist.
Dass Wolfgang Becker sein Gespür für hinreißende Optik noch nicht völlig verloren hat, bewies er mit Impérial-Taubenbrust aus dem Gewürzsud. Das dunkelrosa, eher kurz gebratene Fleisch in zwei Tranchen, von denen eine mit Macadamia ummantelt ist, punktet neben seiner von Haus aus gegebenen Qualität mit weicher und zarter Konsistenz. Der weitaus weniger als erwartet rustikale Geschmack (wie man ihn von anderen Gerichten her kennt) findet eine würdige Begleitung in Form von Curry (Sud) und Kokos (Schaum), doch auch die Fülle an anderen nicht annoncierten Details wie Blutampfer und rote Bete machen aus diesem Gang einen echten Volltreffer. Ein hochkomplexes Geflecht an Röstaromen sowie erdigen und fruchtigen Sptizen gepaart mit individueller Optik – was will man mehr?
Der Käsegang, „Grenzgänger“ genannt, besteht aus einer wenig beeindruckenden Zusammenstellung dreier Käsesorten von Fritz Blomeyer und bekommt diesen seltsamen Namen wohl deshalb verliehen, weil die auf dem Teller befindlichen Sorten allesamt aus grenznahen Regionen aus dem Ausland stammen. Nüchtern betrachtet muss man leider festhalten, dass der Käsewagen wohl aus Kostengründen inzwischen auch hier eingemottet worden zu sein scheint und die Kompensation dafür in einem lieblos und alibihaft zusammengeschusterten Gang ohne Esprit besteht. Eine solche Auswahl sollte doch zumindest, wenn schon nicht frei wählbar, mehr als nur drei Sorten mit Chutneys und einer Scheibe Früchtebrot offerieren. Kein Wunder, dass dieser Gang ganz schnell vergessen ist.
Beim ersten Dessert stellten wir schnell fest, dass die Küche wohl doch nicht über ein ganzes Menü hinweg auf sämtliche liebgewordenen Gewohnheiten verzichten möchte. Anders können wir uns die massige Darbietung namens geeiste Melonensuppe kaum erklären – die ansprechende Optik kommt wohl nur bei so einer großen Portion zum Tragen. Glücklicherweise tummeln sich nicht nur die unterschiedlichsten Melonensorten auf dem Teller – auch die unterschiedlichen Temperaturen (Suppe, Obststücke und Eis) rauben dem Gericht die Vorhersehbarkeit. Mit etwas Basilikum und Joghurt bringt die Küche noch etwas erfrischende Abwechslung in dieses Gericht, doch mengenmäßig ist dieser Teller nach sechs Gängen zuvor kaum zu stemmen.
Das zweite Dessert gerät nicht ganz so üppig von der Portionierung her, aber dafür umso mehr vom geschmacklichen Gehalt. Angekündigt als Délice von Aprikosen mit Zitronenthymian und Valrhona-Guanaja-Schokolade wird uns schnell klar, dass der Fokus hier mehr auf der Schokolade als auf dem Haupdarsteller ruht. Trotz einer variablen Erscheinungsform der Schokolade (Crumble, Mousse, Eis) und Aprikose (Filet, Gel, Eis) bleibt dieser Ausklang recht vorhersehbar und viel zu intensiv für einen derart heißen Sommertag. Hätte die Küche das zu Beginn praktizierte Prinzip der neuen Zurückhaltung hier auch beherzigt, dann hätte das Menü würdig abgerundet werden können – so hingegen blieb ein eher wechselhafter Eindruck haften.
Die Ausklänge kann man schließlich vom gut bestückten Patisserie-Wagen zusammenstellen: in diesem Fall waren es Pralinen jeweils gefüllt mit Kirsche, Kalamansi und Tonkabohne sowie ein Bruchstück von Vollmilch-Nuss-Schokolade (Valrhona).
Der Service unter Leitung der gewohnt schlagfertigen Christine Becker ist etwas ganz Besonderes und vielleicht nicht immer nach jedermanns Gusto. Dennoch empfiehlt sie mit sicherer Kompetenz passende Weine zu jedem Gang und hat den Laden auch sonst gut im Griff. Ihre beiden Kolleginnen agieren etwas zurückhaltender und kündigen die Gerichte eher schmallippig an, treffen aber auch praktisch immer den richtigen Ton. Alles in allem ist dies bestimmt kein 08/15-Service, aber das ist hier durchaus als Kompliment und gegen die übliche Routine zu verstehen.
Während des Menüs fiel uns zunächst eine gewisse Leichtigkeit bei den Gerichten auf, die früher hin und wieder durch etwas zu überbordende Inszenierungen verloren ging. Die erste Hälfte der Menüfolge wirkte tatsächlich insgesamt schlanker und leichter als früher, zumal die Zahl der optischen Spielchen für unsere Begriffe spürbar und gewinnbringend reduziert wurde. Ganz konnte Wolfgang Becker der Versuchung dann wohl doch nicht widerstehen, denn ab dem Hauptgericht wurde es zunehmend komplexer – mit insgesamt wechselhaftem Erfolg. Insbesondere die Portionsgrößen bei manchen Gängen ließen uns doch immer wieder staunen, weil die Dramaturgie des Menüs bisweilen nicht schlüssig wirkte: massige Desserts als Ausklang eines Menüs an einem sommerlich heißen Tag mögen beispielhaft dafür erwähnt werden. Schade drum, denn an Kreativität mangelt es dem Grand Chef weiterhin nicht: seine Kombinationen sind ungewöhnlich und in aller Regel stimmig zusammengestellte Kreationen, die nicht auf bloße Harmonie abzielen. Nirgends wurde dies deutlicher als bei der Taube, deren Begleitung originell und spielend leicht wirkte, doch zugleich aromatische Power aufwies und aus diesem Gang ein echtes Highlight machte. In ihren besten Momenten ist diese Küche also weiterhin absolut launig und immer für eine kulinarische Überraschung der besonderen Art gut.
Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist nach wie vor fraglos eines der stärksten Argumente dafür, immer wieder hier einzukehren. Wo sonst gibt es noch auf Zwei-Sterne-Niveau acht Gänge zu schlappen € 165 mit jeder Menge Extras und Nebenkosten, die trinkfreudigen oder durstigen Gästen (von denen es an diesem Sommerabend naturgemäß etliche gab) sehr zusagen dürften? Wolfgang Becker scheint ganz in sich zu ruhen und sein Niveau weiterhin behaupten zu können. Ambitionen auf höhere Weihen kann ich dagegen nur sporadisch erkennen, da es ja nebenher auch noch ein Hotel zu leiten gibt, was natürlich auch Kraft kostet.
In Summe ist dies eine weiterhin verlässliche Adresse, die nur selten enttäuschende Gerichte auftischt und die weiterhin eine beträchtliche Fangemeinde um sich zu scharen scheint, zumal Spitzenadressen in der Genussregion Trier gar nicht so häufig vorkommen wie man denken sollte. Die etwas weitere Anreise macht regelmäßige Stippvisiten hier natürlich nicht so einfach, aber wann es mich in die Region verschlägt, dann habe ich diese Adresse – aus gutem Grund – stets im Hinterkopf. Es lohnt sich durchaus!
Mein Gesamturteil: 17 von 20 Punkten
Becker’s
Olewiger Straße 206
54295 Trier
Tel.: 0651/938080
www.beckers-trier.de
Guide Michelin 2020: **
Gaukt&Millau 2020: 18 Punkte
Gusto 2020: 8 Pfannen
FEINSCHMECKER 2020: 3,5 F
8-gängiges Menü: € 165
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November 2017
Den denkbar größten Kontrast geht das im Stile eines Landgasthofs gehaltene Stammhaus mit dem modernen, kubistischen schwarz-grauen Anbau ein. Während der traditionelle Bereich das „normale“ Restaurant und einige Zimmer beherbergt, bietet der futuristische Anbau weitere Zimmer und allen voran das Aushängeschild des Hotels: das mit zwei Michelin-Sternen und mit 18 Gault&Millau-Punkten dekorierte Restaurant „Becker’s“. Mein erster Besuch vor anderthalb Jahren hinterließ einen beachtlichen Eindruck, und so erwarten wir gespannt, was sich seither getan hat. Außerdem führt Wolfgang Becker sein Genussrefugium in Trier-Olewig nun schon seit 20 Jahren – dazu sage ich herzlichen Glückwunsch!
Das kleine Restaurant ist abgesehen vom hölzernen Parkettboden fast ausschließlich in grau und schwarz gehalten – Moselschiefer, soweit das Auge reicht. Die Tischdecke und die Servietten sind in Grautönen gehalten und heben das Lokal somit in puncto Inneneinrichtung und Gedecke weit aus der konformen Masse heraus – selbst der Käsewagen mit ausziehbaren Schubladen hat ein sehr kantiges und graues Design. In diesem minimalistischen, aber sehr geschmackvollen Umfeld lässt es sich somit in ungewohntem Ambiente außergewöhnlich tafeln.
Die großzügige Parade an Einstimmungen beginnt mit krossem Kalbskopf auf Crème fraiche, einem Rindertatarsandwich und einer kleinen Thunfisch-Kreation. Außerdem reicht man die schon traditionellen Cornettos – waren diese beim letzten Mal mit Rindertatar gefüllt, so war es heuer eine süßere Variante mit Ziegenkäse, Feige und Datteln – allesamt vortreffliche Appetizer. Ich entscheide mich für einen ausgezeichneten Fruchtcocktail, doch meine Begleitung wünscht einen trockenen Sherry: gleich der erste Auftritt der Serviceleiterin Christine Becker, der Ehefrau des Chefs, sollte wieder ein denkwürdiger werden. Anstatt einfach ein Glas mit austauschbarem Inhalt zu füllen, tritt sie an den Tisch, vermittelt sodann ihr profundes Wissen und bietet drei kleine Mengen Sherry verschiedener Hersteller zum Preis von einem an – stark! Solche Degustationen würde man sich noch öfter wünschen …
Ein optischer Traum ist eine Kreation rund um Rote Bete, die in quadratischer Form hauchdünn filetiert mit Räucheraal, Kaviar und Sauerrahm getoppt wird. Dazu kommen noch diverse Texturen der Bete selbst – der Geschmack ist fast so gut wie die Optik. Weitaus schwächer schneidet dagegen die Auster „Gin Tonic“ ab, bei der keine rechte Harmonie entstehen will. Der Gurkenschaum ist überdimensioniert, während das ganz hinten versteckte Austernfleisch von dem Gin fast nichts abbekommt. Da gefiel ein vergleichbarer Einstieg mit Stabmuschel im Mannheimer Opus V vor einigen Wochen wesentlich besser.
Der Einstieg marinierte Gelbflossenmakrele mit Birne, Speck, Haselnuss und Kopfsalat klingt durchaus abstrus – und genau so schmeckt es dann leider auch. Das wilde Sammelsurium an Komponenten ergibt für uns keinen schlüssigen Zusammenhang, woran auch die verschiedenen, teils originellen Konsistenzen nichts ändern können. Dieses Gericht blieb uns jedenfalls ein Rätsel.
Auch die knusprige Jakobsmuschel mit Strauchtomate und Koriander gerät seltsam: die ungewöhnliche Zubereitungsart der Coquille hätte durchaus Potential für eine Überraschung gehabt. Stattdessen blieb das Gericht aromatisch unglaublich blass, wobei die Tomaten noch mit Abstand am intensivsten daherkamen. Leider konnte auch die schöne Optik nichts mehr am fragwürdigen Eindruck ändern.
Nach diesem recht enttäuschenden Einstieg, der vor anderthalb Jahren ungleich besser geraten war, nahm das Menü dann – Gott sei Dank – mit Sankt Petersfisch, Steinpilzen, Artischocke und Petersilie doch Fahrt auf. Hier ersann Wolfgang Becker ein herbstlich und weitaus besser austariertes Gericht als bei den beiden Vorgängern. Die Komponenten harmonierten zudem spürbar besser und ließen erahnen, dass des Chefs Gespür für Bewährtes momentan zuverlässiger funktioniert als bei avantgardistischen Spielchen.
Kaum ausgedacht, folgt allerdings gebrannte Gänselebercrème mit Portwein, Zwetschgen und Kaffee. Dies ist schlicht und ergreifend das wuchtigste Gänselebergericht, das mir jemals über den Weg gelaufen ist. Die Leber schwimmt in einem leicht karamellisierten Fond aus den anderen Zutaten. Der Kaffee steuert entwaffnend bittere Noten bei, doch die Kreation ist so massig geraten, dass man sich fast fragen muss, ob dies wirklich gewollt sein kann. Das in jeder Hinsicht ungewohnte Gericht ist trotz seiner Schwere nicht per se schlecht, hätte aber an anderer Stelle in der Menüfolge meines Erachtens wesentlich besser gepasst. Von einem typisch leichten Gericht vor dem Hauptgang würde man dann doch eine Speise erwarten, die den Bauch nicht gefühlt wie mit Ziegelsteinen beschwert!
Heimischer Rehrücken aus dem Gewürzsud mit Pfefferaromen, Weinhefe, Karotte und Kürbis beweist dann doch, wozu diese Küche in Topform fähig ist. Das nur kurz angebratene Wild koaliert prächtig mit den bildschönen Texturen von Kürbis und Karotte. Einen geschmacklichen Tupfer setzt die sparsam dosierte Weinhefe, die auch in puncto Optik eine stimmige Ergänzung darstellt. Fraglos der Höhepunkt des Abends!
Als Pré-Dessert folgt die überaus sommerlich anmutende Erfrischung von grünem Apfel und Ingwer. Das ist handwerklich solide, mäßig originell geraten und schmeckt ordentlich. Mitte November wirkt es uns auf uns trotz allem ein wenig deplatziert.
Mit zweierlei Knuspernougat, Ananas und weißer Schokolade betritt die Küche abermals die eher ausgetretenen Pfade. Um einem allzu profanen Eindruck entgegenzuwirken lässt sich die Küche in Sachen Gestaltung hier allerdings einiges einfallen: die gelungenste Eingebung ist ein kleines Türmchen, dessen Außenwand aus geeister, löchriger weißer Schokolade besteht und dessen Fundament eine aromatisch dichte Füllung aus Ananascrème auf Nougat ist. Alles in allem ein klassisches Wohlfühldessert, das niemanden überfordert, aber auch keinen bleibenden Eindruck hinterlässt. Die abschließende Auswahl an Bruchschokoladen und hausgemachten Pralinen ist dagegen wie immer die reine Wonne und stimmt versöhnlich nach einem Abend, der doch einige Fragezeichen aufwarf.
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Christine Becker ist eine außergewöhnliche Gastgeberin: das selbstbewusste Auftreten, ihr hocheleganter Kleidungsstil und ihre charmant-direkte Art suchen ihresgleichen in der deutschen Gastro-Szene. Die Servicebrigade, die sie befehligt, handelt wieselflink und weiß genau, was sie zu tun hat. Außerdem ist das Preis-Leistungs-Verhältnis eine echte Trumpfkarte des Hauses – wo sonst bekommt noch auf diesem Niveau bei mehr als fairen kalkulierten Nebenkosten ein achtgängiges Menü zum Preis von €158 geboten? Schade nur, dass dieses Lokal lediglich an vier Abenden die Woche geöffnet hat.
Erstaunlich war, dass die Küchenleistung unserer Ansicht nach diesmal nur mit Mühe die aktuellen Bewertungen bestätigen konnte. Einige der Gerichte gerieten blass, während andere ob ihrer Intensität nachhaltig verstörten. Solche Extreme waren wir von unserem ersten Besuch jedenfalls nicht gewohnt – man könnte meinen, der Chef würde gerade eine Sturm-und-Drang-Phase durchlaufen, die sich momentan stilistischer Anleihen aus den unterschiedlichsten Bereichen bedient und dabei nur bedingt gelungene Einfälle hervorbringt. Wir hoffen jedenfalls, dass dieser Besuch eine kleine Schwächephase darstellte, da der Premierenbesuch doch deutlich aufzeigte, wozu die Küche – jedenfalls in Topform – in der Lage ist.